Interview
«Schliessungen werden nicht obsolet» – HSG-Gesundheitsökonom Tilman Slembeck über die gemeinsame Spitalliste

«Die Leute fahren Hunderte Kilometer in die Ferien, aber für einen wichtigen Eingriff zwei Stunden ins Spital zu reisen, das finden sie nicht angemessen»: Volkswirtschaftsprofessor Tilman Slembeck zur Spitalplanung und der Anspruchshaltung der Bevölkerung.

Andri Rostetter
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Für schwere Fälle die Luftrettung: Patientenzimmer im 2018 eingeweihten Neubau des Spitals Wattwil.

Für schwere Fälle die Luftrettung: Patientenzimmer im 2018 eingeweihten Neubau des Spitals Wattwil.

Bild: Ralph Ribi

Kann eine Spitalliste über fünf Kantone funktionieren?

Tilman Slembeck: Das ist eine reine Willensfrage. Was für einen Kanton funktioniert, das funktioniert selbstverständlich auch über Kantonsgrenzen hinweg. Man muss einfach so planen, als wäre das ganze Gebiet ein einziger Kanton.

Baselland und Basel-Stadt planen bereits eine gemeinsame Spitalliste. Sie beraten die beiden Kantone. Wie läuft das?

Das sind zwar nur zwei Kantone, aber man merkt dort: Wenn die Regierungen das wollen, dann geht es auch.

Tilman Slembeck, Gesundheitsökonom und Professor für Volkswirtschaftslehre an der HSG und der ZHAW.

Tilman Slembeck, Gesundheitsökonom und Professor für Volkswirtschaftslehre an der HSG und der ZHAW.

Bild: Michel Canonica

Der Wille der Regierung reicht aber nicht.

Ja, Parlament und Volk müssen auch mitmachen. Die Basler wollten ja ihre Spitalplanung zuerst fusionieren. Das Volk lehnte dies ab. Dann machten die Kantone einen Staatsvertrag für die Planung, Regulation und Aufsicht in der Gesundheitsversorgung. Hier stimmte das Volk zu. In diesem Staatsvertrag ist vorgesehen, dass am Ende beide Kantone die gleichen Spitalliste haben. Das ist sicher einfacher und politisch weniger heikel als eine Fusion. Wir sind in Basel auch noch am Üben und Lernen. Aber was die Verfahren angeht, müssen die Ostschweizer Kantone nicht bei Null beginnen.

Ist die kantonsübergreifende Ostschweizer Spitalliste eine Rettungsaktion für die bedrohten Landspitäler?

Das darf es nicht sein. Es muss um eine effiziente Spitalversorgen im gesamten Gebiet gehen. In diesen Kantonen gibt es nach wie vor zu viele und zu kleine Spitäler. Man muss aber strikt zwischen akutsomatischer Versorgung einerseits und Notfall mit Rettung andererseits trennen. Es ist wichtig, dass man dies der Bevölkerung klar macht. Die Botschaft muss sein: Es braucht nicht überall ein kleines Spital, aber einen Rettungs- und Notfalldienst.

Was bedeutet das für entlegene Gebiete wie etwa das Val Müstair?

Für kleinere Verletzungen sind Gesundheits- und Notfallzentren vor Ort, wie sie im Kanton St.Gallen angedacht sind, sinnvoll und ausreichend. Für schwere Fälle setzt man die Luftrettung ein.

Hat der Kanton Graubünden die Debatte zu den Spitalschliessungen noch vor sich?

Das muss das Ziel sein. Ich habe eine grosse Sympathie für das Val Müstair und sein Spital. Aber wenn jemand eine grössere Operation wie etwa eine Hüftprothese machen muss, dann muss er sowieso aus dem Tal. Dann ist ihm aus medizinischer Sicht mehr gedient, wenn er einen guten Notfall und eine effiziente Rettung hat, die ihn schnell an den richtigen Ort bringt. Und wenn ich die Krampfadern operieren muss, dann mache ich das dort, wo es sie es am besten können.

Für die Bevölkerung in entlegenen Tälern kann das heissen, dass sie sehr weite Wege auf sich nehmen muss.

Für spezialisierte Eingriffe gilt das sicher. Das ist aber heute schon so. Bei schweren Verbrennungen oder Hirnverletzungen muss man in ein entsprechendes Notfallzentrum. Auch verschiedene Wahleingriffe, die nicht dringend sind, werden nur in Spezialkliniken durchgeführt. Wenn man bedenkt, dass der Schweizer pro Woche auf fünf Stunden Freizeitverkehr kommt, dann müssen auch zwei Stunden Reisezeit für einen Spitaleingriff zumutbar sein.

Eine Frage der Perspektive.

Ja. In einem Teil der Bevölkerung ist die Optik diesbezüglich etwas schief. Die Leute fahren Hunderte Kilometer in die Ferien oder fliegen für ein paar Tage um die halbe Welt. Aber für einen wichtigen Eingriff zwei Stunden ins Spital zu reisen, das finden sie nicht angemessen.

Werden einzelne Spitäler durch die interkantonale Spitalplanung unter Druck kommen?

Dort, wo Überkapazitäten bestehen, auf jeden Fall. Ein Teil dieser Spitalplanung besteht eben gerade in der Kapazitäterhebung: Wo haben wir welche Angebote? Was wird genau gemacht? Wo haben wir eventuell zu viel? In den beiden Basel war das ein zentrales Thema. Die Verhinderung von Über-, Unter- und Fehlversorgung ist Teil des Prozesses. Es kann also sein, dass man in der Analyse feststellt, dass man gewisse Angebote nicht mehr benötigt.

Am Ende geht es darum, dass die Spitäler kostengünstiger werden.

Das ist eines der beiden Hauptziele der Spitalplanung. Der Kostenanstieg soll zumindest gedämpft werden. Das zweite Hauptziel ist die Verbesserung der medizinischen Qualität. Für die kleinen Spitäler bekommt man gar nicht mehr genug Personal oder man kann es nicht genügend auslasten.

Wie passt das zusammen?

Vor 30 Jahren gab es einen allgemeinen Chirurgen, der alles operiert hat. Das war damals in Ordnung. Heute ist die medizinische Qualität eine ganz andere. Es gibt Handchirurgen, orthopädische Chirurgen, innere Chirurgen und so weiter. Den allgemeinen Chirurgen findet man nicht mehr. Und einen spezialisierten Chirurgen kann man an einem kleinen Landspital niemals auslasten.

Es geht also um die Fallzahlen.

Ja. Der Patient, der seine Hand operieren muss, erwartet zu recht, dass er einen spezialisierten Handchirurgen bekommt, der das gut macht – und nicht einen allgemeinen Chirurgen, der auch mal zwischendurch Hände operiert.

Was bedeutet die Absichtserklärung zu den Spitallisten für die St.Galler Spitalstrategie?

Die Schliessungen werden durch die gemeinsame Spitalliste jedenfalls nicht obsolet. Man kann sich jetzt nicht zurücklehnen und abwarten. Man hätte sowieso beides vor 20 Jahren schon machen müssen. Jetzt laufen im Kanton St.Gallen die Kosten aus dem Ruder. Aber das ist typisch für die Schweizer Politik: Sie reagiert erst, wenn es das heikelste Körperteil betrifft – das Portemonnaie.