Verschwinden bald 120 Schweizer Spitäler? – Krankenkassen werfen Spitalverband Instrumentalisierung des Coronavirus vor

Der Einschnitt, welcher der Bundesrat bei den Gesundheitskosten plant, würde das Aus für jedes dritte Spital bedeuten, gibt nun der Spitalverband H+ zu bedenken. Der Kassenverband Curafutura wirft H+ vor, mit der Corona-Krise Stimmung zu machen.

Simon Hehli, Erich Aschwanden
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Der Spitalverband H+ warnt vor den Massnahmen, die Gesundheitsminister Alain Berset plant.

Der Spitalverband H+ warnt vor den Massnahmen, die Gesundheitsminister Alain Berset plant.

Alessandro Della Valle / Keystone

Als Gesundheitsminister Alain Berset Mitte Februar die Revision der Krankenversicherungsverordnung (KVV) in die Vernehmlassung schickte, schlug das keine hohen Wellen. Doch nun schlägt der Spitalverband H+ alarmistische Töne an: Der Bund wolle 120 Spitäler schliessen lassen und damit gleich auch 10 000 Arbeitsplätze abbauen. Ein solches «Spitalsterben» wirke sich gravierend auf die Gesundheitsversorgung der Schweizer Bevölkerung aus, sagt der Verband – und das in Zeiten der Corona-Epidemie, in der die Bevölkerung sensibel auf Einschnitte im Gesundheitswesen reagiert.

Was ist passiert? Der Bundesrat will die Spielregeln national vereinheitlichen und die Spitäler auf mehr Effizienz trimmen – wohl durchaus mit der Absicht, dass es in der hierzulande sehr üppig ausgestatteten Spitallandschaft zu einer Flurbereinigung kommt. Die Reform sieht vor, dass der Benchmark für die Berechnung der Vergütungen an die Spitäler beim 25. Perzentil liegen soll. Das bedeutet, dass 75 Prozent der Spitäler ihre Dienstleistungen zu einem zu hohen Preis erbringen und sich mit Kürzungen konfrontiert sähen.

Ein juristisches Gutachten, das H+ in Auftrag gegeben hat, geht davon aus, dass dem Spitalsystem durch diese Massnahme jährlich 760 Millionen Franken entzogen würden – und nicht rund 200 bis 250 Millionen Franken, wie der Bundesrat errechnet hat. Die Zahl von 760 Millionen Franken ist es, die der Spitalverband als Grundlage nimmt, um vor der Schliessung von über hundert Spitälern zu warnen. Es werde vor allem kleinere Spitäler treffen, welche häufig in ländlichen Gebieten oder Bergregionen ein wichtiger Teil der medizinischen Grundversorgung seien.

Verstoss gegen die Verfassung?

Laut H+ verunmöglicht die von Berset relativ tief angesetzte Effizienzschwelle den Spitälern und Kliniken, ihre Leistungen kostendeckend zu erbringen und dringend notwendige Investitionen in die Zukunft zu tätigen. Auch von einem «Qualitätsabbau auf Kosten der Patientinnen und Patienten» ist die Rede. Doch die Vorwürfe der Spitallobby gehen noch weiter: Der Bundesrat verstosse gegen Verfassungsrecht und erlasse Bestimmungen mit Gesetzescharakter, ohne dass die Legislative die dafür nötigen Grundlagen verabschiedet habe. «Nach Ansicht von H+ umgeht der Bund damit das Parlament und das Stimmvolk mit politischen Zielsetzungen, die demokratisch nicht legitimiert sind.»

Der Zürcher Rechtsanwalt Michael Waldner, der das Gutachten verfasst hat, weist darauf hin, dass das Bundesverwaltungsgericht einen am 25. Perzentil orientierten Effizienzmassstab als «gravierend verzerrt» verworfen habe. Denn dies würde zu einer finanziellen Auszehrung weiter Teile der Spitallandschaft führen. Und dies entspreche nicht dem Willen des Parlaments, das faire Preise für «einigermassen effiziente» Spitäler vorschreibe.

Aussicht auf Kosteneinsparung

Zugleich verletzt Berset mit seinen detaillierten Vorgaben zur Berechnung von Spitaltarifen laut Waldner den Grundsatz der Tarifautonomie. Eigentlich ist es Aufgabe der Spitäler und der Krankenkassen als Finanzierer, sich auf die Tarife zu einigen. Doch der Bundesrat schalte nun faktisch jegliches Ermessen dieser Tarifpartner aus. «Gleiches gilt für das im Gesetz ebenfalls vorgesehene Ermessen der Kantone, denen die Instrumente zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit durch die Festsetzung angemessener Spitaltarife weitgehend aus den Händen genommen werden», hält der Autor des Gutachtens fest.

Beim Krankenkassenverband Curafutura, in dem sich CSS, Helsana, KPT und Sanitas zusammengeschlossen haben, kommt die alarmistisch formulierte Medienmitteilung des Spitalverbands nicht gut an. Die Erkenntnis, dass die Schweiz über zu viele Spitäler verfüge, komme nicht über Nacht, erklärt der Sprecher Ralph Kreuzer. «Dass H+ die Corona-Krise zu ihren Gunsten nutzen will, ist aus politischer Sicht ebenso verständlich wie durchsichtig. Dies ändert freilich nichts an der Tatsache, dass der Spitalverband seine Hausaufgaben nicht gemacht hat», sagt Kreuzer.

Nicht so hart ins Gericht mit H+ geht der andere Krankenkassenverband Santésuisse. Doch auch für ihn ist klar, dass es in der Schweiz immer noch zu viele Spitäler gibt. Mit diesem Vorschlag würden gemäss Santésuisse-Sprecher Matthias Müller schweizweit einheitliche Spielregeln und eine faire Vergleichsbasis zwischen den einzelnen Spitälern geschaffen. Dadurch können effizient arbeitende Spitäler gefördert werden. «Eine verstärkte Spezialisierung führt zu höheren Fallzahlen und verbessert damit die Qualität der Behandlungen, was zu begrüssen ist», sagt Müller. Die Prämienzahler würden zudem von tieferen Kosten profitieren, weil die heutigen Überkapazitäten und Parallelstrukturen abgebaut werden könnten. «Die hervorragende medizinische Versorgung ist damit weiterhin sichergestellt, ein Kahlschlag ist indessen nicht zu befürchten», beruhigt der Santésuisse-Sprecher.

BAG rechnet mit Einsparungen von 530 Millionen Franken

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) wird sich im Rahmen der Auswertung der Vernehmlassung im Detail mit dem von H+ publizierten Gutachten auseinandersetzen. Das Bundesamt hält jedoch fest, dass sowohl das Bundesverwaltungsgericht wie auch das Parlament den Bundesrat aufgefordert hätten, weitere Grundlagen für eine schweizweit einheitliche Tarifermittlung zu schaffen. Die Bestimmungen zu Tarifgestaltung und -ermittlung seien bereits heute auf Stufe Bundesratsverordnung geregelt und würden mit der aktuellen Vorlage des Bundesrates präzisiert, erklärt der BAG-Mediensprecher Jonas Montani.

Der gewählte Wert von 25. Perzentil bedeutet gemäss Montani, dass immer noch ein Viertel der Leistungserbringer die stationären Behandlungen zu tieferen Kosten erbringen als der Leistungserbringer, der beim Effizienzvergleich die Referenz bildet. Die Orientierung an diesem Wert würde gemäss BAG tatsächlich zu gewissen Einsparungen führen: «Der Bundesrat schätzt diese auf etwa 5 Prozent der Gesamtkosten im Spitalbereich, also rund 530 Millionen Franken bei Totalkosten von knapp 11 Milliarden Franken.» Dies liegt etwas unter dem Kostenanstieg der Spitäler im vergangenen Jahr und etwa in der Grössenordnung der Einsparungen, die mit dem Tarmed-Eingriff im ambulanten Bereich gemacht wurden.

Die Gesundheitsdirektorenkonferenz hat noch keine Stellungnahme zur KVV-Revision Spitalplanung und Tarifermittlung verabschiedet. Doch die kantonalen Gesundheitsdirektoren stehen dem Eingriff des Bundes wie H+ skeptisch gegenüber. «Dass der Bundesrat über einen Benchmarkwert die Regeln für die Tarifermittlung vereinheitlichen will, widerspricht dem tarifpartnerschaftlichen Verhandlungsprimat», erklärt der GDK-Sprecher Tobias Bär gegenüber der NZZ. Der Bund würde sich damit auf den Platz der Kantone setzen. Diese hätten die gesetzliche Pflicht und Kompetenz, die verhandelten Tarife auf ihre Wirtschaftlichkeit hin zu prüfen, sie zu genehmigen und nötigenfalls festzusetzen. Die GDK habe bisher darauf verzichtet, einen Benchmarkwert zu definieren. Würde nun der Bund einen solchen Wert festlegen, würde er den Spielraum mit Blick auf die Tarifverhandlungen stark einengen. «Es ist nicht notwendig, dass der Bund mit der Festlegung von Tarifgrundsätzen nun auch noch in die Preisgestaltung eingreift», betont Bär.

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