Linken-Politiker über Corona: „Kliniken in die öffentliche Hand“

Unser Gesundheitssystem ist nicht gut auf Notfälle vorbereitet, sagt Achim Kessler. Ein Gespräch über Privatisierungen, Pflege und Pandemie.

Sauerstoffflaschen

Sauerstoffflaschen auf einer Intensivstation Foto: Jonas Güttler/dpa

taz: Herr Kessler, aufgrund schnell steigender Corona-Fallzahlen droht eine Überbelastung von Krankenhauskapazitäten und Pflegepersonal. Ist das deutsche Gesundheitswesen gut auf Krisen wie die Corona-Pandemie vorbereitet?

Achim Kessler: Insgesamt haben wir in Deutschland natürlich eine hochwertige Gesundheitsversorgung, aber durch die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems sind in den letzten Jahren immer weiter Kapazitäten und Behandlungsmöglichkeiten abgebaut worden. Um die Gewinne zu steigern, wurden in den Krankenhäusern die Löhne gedrückt, Stellen gestrichen und Arbeit verdichtet.

Das Ergebnis ist der Pflegenotstand, der schon den Alltagsbetrieb zu einer Herausforderung macht. Vor diesem Hintergrund muss man dann leider sagen, dass unser Gesundheitssystem für die Pandemie nicht gut aufgestellt ist. Wenn in sehr kurzer Zeit viele Menschen infiziert werden, dann kommen wir schnell an die Grenzen des Gesundheitssystems, weil das Personal sowieso schon nicht ausreicht.

Wie kann ein Personalnotstand verhindert werden?

Ich bin der Meinung, dass die Bezahlung in der Pflege jetzt pauschal um 500 Euro erhöht werden muss. Diese Menschen leisten unschätzbare Arbeit für unsere Gesellschaft. Wir müssen versuchen Menschen, die Teilzeit in der Pflege arbeiten, dazu zu gewinnen, ihre Stunden zu erhöhen. Das wird nur gelingen, wenn es mit entsprechenden Anreizen verbunden ist. Die Bundesregierung sollte auch dazu aufrufen, dass sich Menschen melden, die früher in der Pflege gearbeitet haben und jetzt in anderen Bereichen tätig sind.

Wie soll diese Lohnerhöhung finanziert werden?

Wir brauchen für solche Aufgaben einen Notfallfonds. Wir haben ja für den Bereich der Wirtschaft einen Schutzschirm. So einen Fonds brauchen wir auch für das Gesundheitssystem, um kurzfristige Maßnahmen finanzieren zu können. Dazu zählt die Einrichtung von Intensivbetten sowie die Einstellung von zusätzlichem Pflegepersonal in den Krankenhäusern und in den Pflegeeinrichtungen.

Deutschland verfügt über 28.000 Intensivbetten, davon 25.000 mit Beatmungsgeräten. Eine im europäischen Vergleich hohe Bettendichte. Klagen wir auf hohem Niveau?

55, ist gesundheitspolitischer Sprecher der Linken-Bundestagsfraktion. Der hessische Abgeordnete studierte in Marburg Neuere deutsche Literatur und Medienwissenschaften sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte und promovierte über den marxistischen Philosophen Ernst Bloch. Seit 2001 ist Kessler für die PDS, später DIE LINKE aktiv. 2017 zog er in den Bundestag ein.

Das ist ja immer relativ. Im Jahr 2017 hatten wir 500.000 Krankenhausbetten, im Vergleich zu 1991 ist das ein Viertel weniger. Das sind die Betten, die uns jetzt fehlen und die nach den Plänen der Regierung in den Sporthallen und Hotels notdürftig eingerichtet werden sollen.

Natürlich sind 25.000 Intensivbetten mit Beatmungsgeräten im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn eine relativ hohe Zahl. Aber Sie müssen bedenken, dass diese Betten zu 80 Prozent schon mit anderen Patientinnen und Patienten belegt sind. Deshalb hat die Bundesregierung auch angekündigt, 10.000 neue Beatmungsgeräte zu beschaffen,

In den letzten Jahren drehte sich die öffentliche Debatte oft um Überkapazitäten von Krankenhäusern. Wieso kommt es jetzt zu Knappheit?

Ich musste mir in den letzten Jahren ständig anhören, dass unser Gesundheitssystem kosteneffizienter werden muss, dass wir zu viele Betten haben, dass Krankenhäuser, vor allem auf dem Land, geschlossen werden müssen. Davon höre ich jetzt nichts mehr. Im Gegenteil: Nun argumentiert sogar Gesundheitsminister Spahn damit, dass unser Gesundheitssystem genau deshalb gut aufgestellt ist. Ich kann nur hoffen, dass sich diese Erkenntnis festsetzt und dass sie auch nach der Krise noch im Bewusstsein bleibt.

Die Finanzierung der Krankenhäuser in Deutschland ist erlösorientiert. Die Bezahlung erfolgt pro Patientenfall nach den sogenannten Fallpauschalen. Daher zögern manche Krankenhäuser, lukrative Operationen zu verschieben, um Betten für Corona-Patient*innen frei zu machen. Stehen ökonomische Effizienz und bedarfsgerechte Versorgung in einem Widerspruch?

Diese Finanzierung mit Fallpauschalen ist völlig widersinnig. Stellen Sie sich mal vor, die Polizei oder die Feuerwehr würden nach der Anzahl ihrer Einsätze, die sie fahren, bezahlt. Kein Mensch käme auf so eine Idee und es ist völlig unverständlich, dass so etwas im Gesundheitssystem funktionieren soll. Wegen der Finanzierung durch Fallpauschalen ist jedes Bett, das nicht belegt ist, für die Krankenhausbetreiber eine „Überkapazität“, die abgebaut werden muss. Das bedeutet letztendlich auch, dass keine Kapazitäten aufrechterhalten werden für Notsituationen. Es gibt keinen Puffer für Notfälle.

Und vor dem Hintergrund besteht jetzt auch die Gefahr, dass private Krankenhäuser ihre Betten nicht für Corona-Patienten frei machen, wie sie von der Bundesregierung aufgefordert sind. Wie ich höre, sieht das Gesundheitsministerium diese Gefahr auch und plant, nächste Woche eine Weisungsbefugnis gegenüber privaten Krankenhäusern einzuführen.

Wie kann eine am Gemeinwohl orientierte Versorgung gewährleistet werden?

Wir fordern, dass die Krankenhäuser wieder in die öffentliche Hand überführt werden. Das bedeutet auch, dass sie wieder selbstkostendeckend finanziert werden müssen. Die Fallpauschalen müssen abgeschafft werden und die Krankenhäuser so finanziert werden, dass die Versorgung im Mittelpunkt steht. Das bedeutet auch, dass zum Beispiel die Gesundheitsämter, die personell sehr stark unterbesetzt sind, wieder vernünftig finanziert werden müssen, damit sie ihre Aufgaben zum Schutz der Bevölkerung übernehmen können – und zwar nicht nur in der Krise, sondern auch im Normalbetrieb.

In der Pflege müssen wir uns darum kümmern, dass es genug Pflegepersonal gibt, nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in den Pflegeheimen. Das bedeutet, dass die Löhne ordentlich erhöht werden müssen, dass überhaupt die gesamten Gesundheitsfachberufe, die nach wie vor überwiegend weiblich sind, anständig bezahlt werden.

Wieso kommt es in diesen Tagen zu vergleichsweise wenig Kritik am Handeln der Bundesregierung?

Ich teile die Maßnahmen, die die Bundesregierung bis jetzt zur Abflachung der Epidemie ergriffen hat. Ich finde es richtig, die Bevölkerung aufzufordern, zu Hause zu bleiben, und bestimmte Geschäfte zu schließen. Aber darüber hinaus ist es wichtig, sich schon jetzt in der Krise klarzumachen, dass bestimmte Schwierigkeiten, die wir jetzt haben, hausgemacht sind und jetzt dringend angegangen werden müssen.

Ich bin der Meinung, dass man Krankenhäuser, wenn sich die Situation weiter zuspitzt, auch jetzt schon verstaatlichen muss, um das Problem zu lösen. Damit kann man nicht warten, bis die Pandemie vorbei ist. Wir brauchen jetzt zudem eine gesellschaftliche Diskussion über weitere Einschränkung von Bürgerrechten, das kann nicht einfach so verordnet werden.

Stehen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung wie Ausgangssperren in einem Konflikt mit Bürgerrechten?

Wenn es dazu kommt, dass Ausgangssperren verhängt werden, dann muss das transparent sein und gesellschaftlich diskutiert werden. Solche Maßnahmen dürfen nicht ohne Beteiligung von Parlamenten beschlossen werden. Die bisherigen Maßnahmen, um soziale Kontakte einzuschränken, teile ich wie gesagt. Wenn es aber jetzt zu generellen Ausgangssperren kommt, dann sehe ich das sehr kritisch.

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