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Oliver Nachtwey

Coronakrise als Chance für neuen Sozialismus Wenn der Kapitalismus eine Vollbremsung macht

Oliver Nachtwey
Ein Gastbeitrag von Oliver Nachtwey
Unser Gesundheitswesen ist auf den Markt ausgerichtet. Während der Pandemie wird das zum Problem. Es ist Zeit für eine Reform von Wohlfahrt und Wirtschaftsleben um für die nächste Herausforderung besser gewappnet zu sein.
Foto: Marcel Kusch/ picture alliance/dpa

Wenig wird bleiben, wie es war. Die Coronakrise hat immer noch nicht ihren Höhepunkt erreicht; die Probleme, Leiden, Todesfälle werden in den nächsten Wochen noch weiter zunehmen. Da mag es paradox erscheinen: Aber die Coronakrise hat auch ein verdecktes progressives Momentum, das durch die Kaskade bestürzender Meldungen verdeckt wird.

Der Kapitalismus ist ein System, das auf einer beständigen Steigerung und Beschleunigung von Produktion, Distribution und Konsumtion ausgerichtet ist. Jetzt musste er eine Vollbremsung machen. Gerade erleben wir die stärkste Disruption des Alltagslebens in der modernen Geschichte. Selbst während der Weltkriege blieben die Restaurants, Theater und Geschäfte in der Regel geöffnet.

Irgendwann werden die Cafés, Bars und Restaurants zwar wieder aufmachen, und es wird wieder ein Alltagsleben geben. Man wird irgendwann auch wieder Hände schütteln, scherzen und das Leben genießen. Aber man hat eine existenzielle Erfahrung gemacht: Unser Alltag kann sich von einem Tag auf den anderen verändern, er ist nur auf Abruf selbstverständlich und selbstbestimmt.

Der plötzliche Verlust von physischen Interaktionen macht uns schmerzlich bewusst, wie sehr Menschen soziale Wesen sind. Mehr noch: wie gesellschaftsabhängig eine hocharbeitsteilige Gesellschaft ist. Margaret Thatcher und viele Neoliberale hatten das Prinzip Gesellschaft dahingehend verneint, dass sie nur Individuen und ihre Familien kennen wollten. Das Coronavirus offenbart indes allen, wie immens wechselseitig abhängig voneinander wir sind. Viele Menschen bleiben trotz dessen gegenwärtig zu Hause und zeigen, dass der französische Soziologe Émile Durkheim mit seiner Idee, dass in hocharbeitsteiligen Gesellschaften eine Form der "organischen Solidarität" aus dem Wissen um die wechselseitige Abhängigkeit entstehen könnte, vielleicht doch Recht hatte.

Die Vollbremsung des Kapitalismus konzentriert sich aber nur auf bestimmte Branchen und Berufe. Viele Beschäftigte werden nach Hause geschickt, aber die Sektoren Gesundheit, Pflege, Logistik und Einzelhandel sind unverzichtbar für die tägliche Erhaltung der Gesellschaft. Ärztinnen, Krankenpflegerinnen, Post- und Transportarbeiterinnen, Angestellte in Lebensmittelgeschäften, Regalauffüllerinnen, Reinigungskräfte, Mechanikerinnen und technische Angestellte, Erzieherinnen, Fahrzeugführerinnen sowie Landarbeiterinnen halten die Gesellschaft am Laufen.

Zu den Paradoxien des Kapitalismus hat immer gehört, dass er jene Tätigkeiten, die systemrelevant sind, unter den Schleier des Warenfetischs unsichtbar hat werden lassen und jene Tätigkeiten, deren Nützlichkeit zweifelhaft ist, mit viel Glamour ausgestattet hat. Auf die Krankenschwester können wir derzeit nicht verzichten, auf den Berater schon. Die Beschäftigten in den systemrelevanten Berufen, zu etwa Dreivierteln handelt es sich um Frauen, sind in der Tendenz unterbezahlt. Ihre Arbeitsmarktmacht hat sich nun jedoch erheblich verbessert.

Die Coronakrise wird nicht zu einer besonders starken Variante einer Konjunkturkrise führen, wie sie in den ökonomischen Lehrbüchern als "externer Schock" behandelt wird. Bereits die Finanzkrise von 2008 war schon kein einfaches Konjunkturproblem mehr, sondern lag tiefer, da wichtige Institutionen des Kapitalismus - die Banken und das Finanzsystem – selbst in der Krise waren. Nur mit massiven und koordinierten staatlichen Interventionen konnte die Wirtschaft wieder stabilisiert werden. Die jetzt beginnende Krise ist noch mal drastischer, denn es betrifft das zentrale Prinzip des Kapitalismus: den Dienstleistungs- und Warenaustausch. In bestimmten Branchen findet er kaum noch statt – mit katastrophalen Auswirkungen für den Arbeitsmarkt.

Die politischen Handlungsträger setzen deshalb plötzlich Maßnahmen um, die vor ein paar Jahren noch unvorstellbar erschienen. Die Austerität ist vorbei. Gigantische Summen werden in kürzester Zeit freigegeben. Diese werden aber nur wirken können, wenn der Alltagsbetrieb unserer Gesellschaft bald wieder aufgenommen werden kann. Wenn einem Feuer auf Dauer der Sauerstoff entzogen wird, geht es aus. Die Regierung wird wahrscheinlich viele Unternehmen retten müssen. Dann kann und sollte man sie allerdings auch demokratisieren. Ein Unternehmen, das gerettet wird, so könnte eine Forderung sein, darf niemanden entlassen, keine Niedriglöhne zahlen und muss den Beschäftigten eine ausgeweitete Mitbestimmung ermöglichen.

In dieser Krise werden nicht nur Banken und Industriebetriebe mit Geld versorgt, sondern auch Kleinunternehmen . Lohnausfälle werden in vielen Ländern - nicht vollständig und gerade für die prekär Beschäftigen unzureichend – kompensiert. In einer weitergehenden Perspektive könnte man sagen: Die Zahlung von 1200 Dollar an alle Amerikaner ist ein einmaliges bedingungsloses Grundeinkommen.

Vor allem zeigt sich ein allgemeines Umdenken in Bezug auf die sozialen Infrastrukturen: Bis vor Kurzem sollten Krankenhäuser noch weiter geschlossen werden, mehr ökonomische Effizienz im Gesundheitssektor herrschen. Jetzt wird deutlich, dass die Ausrichtung am Markt im Gesundheitswesen Teil des Problems ist. Es gibt zu wenig Personal, zu wenig Ausrüstung, zu geringe Notfallkapazitäten. Die Pharmaunternehmen haben aufgehört zum SARS (und nebenbei auch zu Antibiotika) zu forschen, da die erwartete Marge zu gering ausfällt. Der Staat setzt nun wirtschaftliche Direktiven ein, die einer gesellschaftlichen Nachfrage entsprechen und nicht dem Marktprinzip. Die US-Regierung hat beispielsweise General Motors gezwungen, Beatmungsgeräte zu produzieren. International werden Liefer- und Produktionsketten überwacht und auf die Bearbeitung der Coronakrise gesteuert.

Stellt man diese Maßnahmen auf Dauer, entzieht das Gesundheitswesen dem Markt, verpflichtet die Großunternehmen dazu, ihre wirtschaftliche Tätigkeit stärker am Allgemeinwohl auszurichten, dann wäre das ein Schritt in die Richtung eines Infrastruktursozialismus. Und vielleicht treffen solche Maßnahmen ja auch auf praktische und politische Mehrheiten der Bürger, die durch die Erfahrung der wechselseitigen Abhängigkeit geprägt wurden. Man kann auf Inlandsflüge auch verzichten, mehr Videokonferenzen machen, Arbeit im Homeoffice erledigen und die Hausarbeit und Kindererziehung besser aufteilen.

Dieses Momentum der Möglichkeit von Fortschritt wird sich nicht automatisch realisieren, sondern es hängt davon ab, ob sich neue politische Koalitionen ergeben, die es erkennen, verstetigen, und ausbauen. Es hängt von politischen Auseinandersetzungen der Zukunft ab, die sich auch darum drehen werden, ob die Kräfte der Regression gebändigt werden, die den jetzigen Ausnahmezustand der Demokratie gern verstetigen und digitale Kontrollsysteme ergänzen möchten oder möglichst bald zu einer vermeintlichen Normalität zurückzukehren. Aber eine einfache Rückkehr zur Normalität wird es nicht geben. Allein schon, weil der Klimawandel die nächste große Herausforderung stellen wird. Ein Infrastruktursozialismus könnte für diese Aufgabe aber ebenfalls nützlich sein.