Gesundheitsökonom Kern zu Kosten und Lehren der Corona-Krise

"Die vergangenen 20 Jahre hat das niemanden gestört"

Mit Blick auf die Corona-Krise fordert der Gesundheitsökonom Axel Kern eine gesellschaftliche Debatte darüber, was das Gesundheitswesen leisten soll. Zugleich betont er, dass Knappheiten oft nur in Krisenzeiten zutage treten.

Symbolbild: Krankenhausflur / © Monkey Business Images (shutterstock)
Symbolbild: Krankenhausflur / © Monkey Business Images ( shutterstock )

KNA: Herr Professor Kern, braucht unser Gesundheitswesen mehr Geld, um mit Krisen wie jetzt fertig zu werden?

Prof. Dr. Axel Olaf Kern (Gesundheitsökonom an der Hochschule Ravensburg-Weingarten): Wenn Sie einen Wirtschaftswissenschaftler fragen, dann ist nie genug Geld da, damit die Bedürfnisse und Wünsche aller Bürger in Bezug auf die Gesundheitsversorgung erfüllt werden können. Das gilt jedoch nicht nur fürs Gesundheitswesen. Die entscheidende Frage ist aber: Was soll mit mehr Geld erreicht werden, was ist das Ziel?

KNA: Dafür zu sorgen, dass möglichst alle lange und gesund leben.

Kern: Jeder soll bei guter Gesundheit 80 Jahre alt werden, und dafür kommt die Gemeinschaft auf. Das könnte ein Ziel sein. Wobei offen bleibt, was gute Gesundheit heißt und wie viel davon Eigenverantwortung ist. Jedenfalls könnte es sein, dass zur Erreichung dieses Ziels mehr Geld ins System müsste. Das würde dann aber woanders fehlen. Das Mittelvolumen ist beschränkt, es steht nicht grenzenlos Geld zu Verfügung.

KNA: In der Corona-Krise zeigt sich, dass Kapazitäten in Krankenhäusern gefährlich begrenzt sind. Sollte das nicht vermieden werden?

Kern: Die Frage, wie viele Krankenhäuser wir uns leisten wollen, ist eine, die wir uns stellen müssen. Wir könnten uns auch fragen, wie viel eine Krankenschwester verdienen sollte. Momentan herrscht der Eindruck vor, dass es zu wenige Intensivstationen gibt und Krankenschwestern zu wenig verdienen. Die vergangenen 20 Jahre hat das niemanden gestört.

KNA: Aber jetzt stört, ja beunruhigt es Menschen.

Kern: In Extremfällen wie jetzt kann es sein, dass wir mit dem Verteilungsergebnis nicht mehr zufrieden sind. Wir könnten also sagen, aus staatlicher oder gesellschaftlicher Perspektive möchten wir, dass eine Krankenschwester künftig mehr verdient. Aber was ist mit dem Müllwerker, der auch in Corona-Zeiten unsere Mülltonnen leert? Oder der Supermarktverkäuferin, die jetzt auch wichtig ist? Das sind Gerechtigkeitsdiskussionen, die abschließend niemand isoliert lösen kann. Nur die Gesellschaft insgesamt kann diese Fragen für sich beantworten.

KNA: Das heißt, in Krisenzeiten muss man mit Knappheit rechnen?

Kern: In einer Situation wie jetzt spitzt sich die Lage zu, und es wird deutlich, was ein knapper Faktor ist.

KNA: Knappheit im Gesundheitswesen kann aber tödlich werden, wenn Schwerkranke nicht mehr behandelt werden können.

Kern: In den vergangenen Jahren hat niemand geklagt, dass er nicht adäquat behandelt worden wäre. Vielleicht müssen Patienten einige Wochen auf eine Hüft-Operation warten, und wer sofort einen Termin bei einem Arzt haben möchte, muss Zeit im Wartezimmer einplanen. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass das Gesundheitswesen kaputt gespart worden wäre. Die Menschen sind gesund, und wer krank ist, bekommt seine Arzneimittel. Ein Diabetiker muss nicht an seiner Krankheit sterben und selbst extrem Frühgeborene überleben heutzutage. Das sind enorme Fortschritte, die wir uns leisten.

KNA: Aber müsste man nach den Erfahrungen jetzt nicht zu dem Ergebnis kommen, dass wir mehr Reserven brauchen?

Kern: Die Corona-Krise zeigt, dass wir für einen Fall, dass plötzlich ganz viele Menschen Intensivbetten, Atemschutzmasken, Beatmungsgeräte benötigen, nicht gewappnet sind. Wenn wir für diesen Fall, der nicht so häufig vorkommt, Kapazitäten vorhalten wollen, würde das mehr Geld kosten - die Krankenkassenbeiträge würden also steigen. Wenn dann innerhalb von zehn Jahren nichts passiert, würde jeder fragen, warum wir so viele Kapazitäten haben, die niemand braucht - und man würde sie womöglich wieder abbauen.

KNA: Knappheit herrscht auch bei Medikamenten - die größtenteils in China oder Indien produziert werden. Wäre es nicht sicherer, sie in Deutschland herzustellen?

Kern: Wenn wir sagen, Sicherheit ist uns wichtig, wir wollen Engpässe in der Medikamentenversorgung vermeiden, müssen wir bereit sein, den Preis dafür zu bezahlen. Denn im Inland produzieren hieße ja, zu höheren Personal- und Sachkosten zu produzieren. Medikamente würden also mehr kosten. Oder wir gehen das Risiko ein, lassen in Asien produzieren und müssen mit Lieferengpässen rechnen. Im Übrigen profitieren Länder wie Indien oder China von der Auslagerung der Medikamentenherstellung, Menschen haben dort ihr Einkommen und würden sofort arbeitslos, wenn wir die Produktion zu uns nach Deutschland zurückholen würden.

KNA: In Italien und Spanien stehen die Gesundheitssysteme vor dem Kollaps. Was ist dort schiefgelaufen?

Kern: Das Gesundheitswesen ist dort staatlich organisiert, und bekanntlich ist der öffentliche Sektor nicht der Hort des effizienten Handelns. Zugleich konkurrieren die Ausgaben für das Gesundheitssystem hier mit allen anderen Ausgaben des Staates. Wenn der eine Bereich mehr Geld bekommt, fehlt es beim anderen, in dem Fall dem Gesundheitssystem, dessen Mittelausstattung deutlich knapper ist als in Deutschland.

Das Interview führte Stefanie Ball.


Quelle:
KNA