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Pflege während der Coronakrise "Irgendwann ist die Grenze erreicht"

In der Coronakrise will Gesundheitsminister Spahn Pflegekräfte von Bürokratie befreien - und sie mehr arbeiten lassen. Die Betroffenen haben Verständnis, warnen aber vor dem Pflegekollaps.
Intensivstation in Aachen: "Wenn ich jemanden wasche, kann ich nicht eineinhalb Meter Abstand halten"

Intensivstation in Aachen: "Wenn ich jemanden wasche, kann ich nicht eineinhalb Meter Abstand halten"

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Felix von der Osten

Gesundheitsminister Jens Spahn setzt gerade einige Gesetze außer Kraft, die er erst in den vergangenen Monaten initiiert hat:

  • Personaluntergrenzen in der Krankenpflege? In Zeiten der Krise nicht haltbar.

  • Ein Pflege-TÜV, also unabhängige Prüfungen der Pflegeeinrichtungen durch den Medizinischen Dienst? Lieber sollen sich die Beteiligten um die Pflegebedürftigen und Patienten kümmern, das Prüfen fällt erst einmal aus.

Spahn will in der Coronakrise weniger Bürokratie - wo er zuletzt mehr einführte.

Im vergangenen Jahr hatte der Gesundheitsminister mit einem Gesetz zu sogenannten Pflegepersonaluntergrenzen dafür sorgen wollen, dass Pflegefachkräfte bei der Arbeit entlastet werden. Diese sollen nicht nur die Qualität der Pflege verbessern, die Hoffnung ist auch, dass der Beruf attraktiver wird. Eine Pflegekraft in der Tagschicht soll demnach in der Intensivmedizin maximal 2,5 Patienten betreuen, in der Geriatrie maximal zehn Patienten. In Altenheimen müssen 50 Prozent der Pflegekräfte eine abgeschlossene Ausbildung haben.

Das MDK-Reformgesetz sollte dafür sorgen, dass die Kontrollen der Pflegeeinrichtungen durch den Medizinischen Dienst unabhängiger und besser werden. Die Prüfungen binden aber immer Personal, das während der Corona-Pandemie in Pflegeheimen und Kliniken eingesetzt werden könnte. Vorübergehend soll der MDK deshalb keine Routineprüfungen durchführen.

Zu jeder anderen Zeit würden Pflegeexperten wahrscheinlich auf die Barrikaden gehen, wenn ein Gesundheitsminister die Belastungsgrenzen der Fachkräfte aushebelt und die Qualitätskontrolle reduziert. Doch die Coronakrise bedeutet Ausnahmezustand: Wenn jetzt noch mehr Patienten in die Krankenhäuser kommen und Pflegekräfte möglicherweise wegen Krankheit ausfallen, dann müssen kreative Lösungen her.

Bürokratieabbau ja, aber...

Kritiklos nehmen die Betroffenen Spahns Vorgehen deswegen aber nicht hin. Ja, in der Krise müsse Bürokratie abgebaut werden, sagt Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerates, "aber, dass als Erstes bei Personalstandards nicht mehr so genau hingeschaut werden soll, war das falsche Signal".

Sinnvoller wäre es aus Wagners Sicht gewesen, viel früher mit der Rekrutierung von inaktiven Pflegefachpersonen zu beginnen oder sich um die dringend notwendige Schutzausrüstung zu kümmern. Denn in der Pflege gehe es viel um Körperkontakt. "Wenn ich jemanden wasche, kann ich nicht eineinhalb Meter Abstand halten", sagt Wagner. Durch das Kontaktverbot zu Menschen in Pflegeheimen hätten die Pflegenden zurzeit zudem einen noch höheren Betreuungsaufwand.

"Es rächt sich jetzt, dass wir vorher bereits eine so hohe Überlastung in der Pflege hatten, dass sich in Deutschland weniger Pfleger um mehr Menschen kümmern müssen als in anderen Ländern. Die werden jetzt doppelt belastet", klagt Pflegerats-Präsident Wagner.

Tatsächlich markiert die Coronakrise einen neuen Höhepunkt des Pflegenotstands. Bereits vorher fehlten Zehntausende Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen. In einer Vergleichsstudie schnitt Deutschland 2017 deutlich schlechter ab als andere Länder: Auf eine Pflegefachkraft kamen hier 13 Patienten. Seit Jahren hat sich diese Situation nicht gebessert. Auch wenn Gesundheitsminister es immer wieder versprechen.

Kranken- und Gesundheitspfleger Alexander Jorde kritisiert seit Jahren den personellen Notstand in der Pflege. Er wurde bekannt, als er die Mängel im Wahlkampf 2017 in einer Fragerunde mit Bundeskanzlerin Angela Merkel anprangerte. Auch er sieht ein, dass der Gesundheitsminister nicht anders handeln kann, wenn sich die Situation in Deutschland weiter zuspitzt: "Irgendwann gibt es keine andere Chance mehr, als die Personaluntergrenzen auszusetzen, weil sie es faktisch ohnehin sind, wenn immer mehr Patienten aufgenommen werden", sagt Jorde.

Aber er kritisiert, dass Spahn die Maßnahme als Entlastung verkauft. Jorde erzählt von einem Beitrag auf Spahns Instagram-Account, der ihn gerade richtig wütend mache. In einem Video wurde dem Gesundheitsminister dort die Frage gestellt: Wie sollen die Pflegekräfte den Mehraufwand kompensieren? Spahn antwortete, er wolle die Personaluntergrenzen aussetzen, um Pflegekräfte vom Dokumentationsaufwand zu entlasten, damit sie mehr Zeit für Patienten hätten. 

"Ich glaube, Herr Spahn hält uns für dumm", sagt Jorde. "Durch das Aussetzen der Personaluntergrenzen werden wir nicht entlastet, sondern überlastet. Da wird ein hart erkämpfter Schutz einfach so wieder aufgehoben." Denn die Dokumentation zu Personaluntergrenzen nehme kaum bis keine Zeit der Pflegekräfte in Anspruch und betreffe in vielen Krankenhäusern nicht die Pflegekräfte in der direkten Versorgung. Andere Dinge müssten deutlich umfangreicher dokumentiert werden.

Auf der Intensivstation, auf der Jorde arbeitet, ist bislang ausreichend Schutzausrüstung vorhanden. Die Patienten können angemessen behandelt werden. Doch die Belastung, fürchtet er, könnte sich in den nächsten Monaten ändern: "Wenn Pflegefachkräfte statt drei künftig sechs Patienten zu betreuen haben, dann ist die Frage: Wie lange halten wir das psychisch und körperlich aus? Irgendwann ist die Grenze dessen erreicht, was ein Mensch leisten kann."

In Altenheimen fehlen 120.000 Pflegekräfte

In deutschen Altenheimen sieht es derzeit nicht besser aus. Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Uni Bremen hat zuletzt zu einem neuen Personalbemessungssystem geforscht. Dabei stellte er fest, dass in den Altenheimen eigentlich 120.000 Pflegekräfte fehlen, wenn eine gute Versorgung gewährleistet werden soll. Die Coronakrise dürfte diesen Effekt nun deutlich verstärken. Im ambulanten Bereich fehlten die im Haushalt lebenden Hilfskräfte aus Osteuropa, sodass eine viertel Million Pflegehaushalte derzeit nicht wisse, wie sie die Versorgung gewährleisten sollten, warnt Rothgang.

Deshalb kommt der Forscher zu dem Schluss: "Besser eine Versorgung, die nicht unseren Standards entspricht, als keine Versorgung."

Während sich die Experten auch weitgehend einig sind, dass Spahn gerade keine andere Wahl hat, als die Untergrenzen auszusetzen, betonen sie dennoch, das müsse die Ausnahme bleiben. Nach der Krise müsse dringend dafür gesorgt werden, dass es mehr Personal gebe und die Löhne endlich stiegen, sagt Rothgang.

Er kann nicht nachvollziehen, wieso Pflegekräfte nicht bereits jetzt mit Zuschüssen in den Beruf zurückgelockt werden, wie es etwa die Linke und auch die Grünen zurzeit fordern. "Es werden gerade Billionen in Schutzschirme gesteckt, da sollte es doch möglich sein, ein paar Millionen in die Pflege zu investieren."

Das würde zwar sicher nicht die Menschen zurückholen, die aus dem Beruf ausgeschieden sind, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr aushielten. "Doch wenn man Teilzeitkräften klarmacht, dass es nur um die nächsten drei Monate geht und dringender Bedarf besteht, dann könnten sie mit finanziellen Anreizen unter Umständen zurückgewonnen werden."

In einem Interview mit der Bild-Zeitung sagte Spahn kürzlich: "Ich würde gerne zusammen mit den Arbeitgebern schauen, wie wir Wege finden, denjenigen, die jetzt Großartiges leisten jeden Tag, dafür noch mal eine beson­dere Anerkennung zu geben." Doch wie sich solche Boni realisieren ließen, sei nicht so schnell zu beantworten, räumte der Gesundheitsminister ein.

Krankenpfleger Jorde findet das ärgerlich: "In den USA werden 1000 bis 2000 Dollar für Krankenpfleger gezahlt, die während der Pandemie arbeiten. Wir bekommen keinen Cent zusätzlich."

Stattdessen, fürchtet Jorde, würden unter Umständen seine Grundrechte ausgehebelt. So sieht ein Gesetzesvorschlag von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet vor, unter anderem Ärzte, Pfleger und Rettungskräfte im Kampf gegen eine Epidemie verpflichten zu können. Demnach könnte "jede Person" mit einer abgeschlossenen medizinischen oder Pflegeausbildung zum Dienst in Krankenhäusern herangezogen werden.

Für Jorde ist das "Zwangsarbeit". Es gehe nicht an, dass Pflegekräfte kein Recht mehr auf körperliche Unversehrtheit hätten - wenn sie unter Umständen ohne Schutzausrüstung arbeiten müssten.

Dieser Umgang mit Pflegekräften werde sich noch lange nach der Krise auswirken, glaubt Jorde. Er höre immer wieder von Kollegen, dass sie ihre Arbeit während der Krise durchziehen wollten. Doch für die Zeit danach überlegten viele, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Oder den Beruf ganz zu verlassen.