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Überfordertes britisches Gesundheitssystem Königreich in der Notaufnahme

Der britische National Health Service gilt als marode, unterfinanziert und handlungsunfähig. Nun könnte das Coronavirus zum Kollaps führen.
Bei Anruf - Notfall: Ambulanzwagen in London

Bei Anruf - Notfall: Ambulanzwagen in London

Foto: GLYN KIRK/ AFP

Der kleine Junge lag auf dem Fußboden des Krankenhauses, notdürftig zugedeckt mit einer Fleecejacke, die Sauerstoffmaske vom Gesicht gerutscht: Das Bild wurde nicht in der Coronakrise, sondern im vergangenen Dezember in einem Krankenhaus in Leeds aufgenommen - während einer normalen Grippewelle. Es ist zum Sinnbild eines maroden Systems geworden, das gerade auf die größte Probe seiner Geschichte gestellt wird.

Geht es um das britische Gesundheitswesen NHS (National Health Service), überwiegen seit Jahren die schlechten Nachrichten:

  • Großbritannien hat weniger Krankenhausbetten pro Einwohner als vergleichbare Staaten.

  • Selbst in den Notaufnahmen müssen Patienten zum Teil mehrere Stunden warten.

  • Über 100.000 Ärzte- und Pflegestellen sind unbesetzt.

  • Die brexitbedingte Abwanderung ausländischer Mediziner verschlimmert die Engpässe noch.

Dabei war der NHS bei seiner Gründung 1948 europäischer Vorreiter. Jeder Brite sollte kostenfrei eine medizinische Versorgung erhalten. "Der NHS gehört dem Volk", heißt es in seiner Satzung. Mit 1,2 Millionen Angestellten ist er Europas größter Arbeitgeber, weitere 1,1 Millionen arbeiten im Sozialdienst. Der NHS umfasst ein Netzwerk aus Krankenhäusern, kommunalen Einrichtungen und weiteren Dienstleistern.

Seit Margaret Thatchers Regierungszeit wirtschaftet der Verbund nach einem marktähnlichen System, in dem sich die verschiedenen Organisationen ihre Dienste gegenseitig abkaufen. Was erklärt seinen jetzigen Zustand?

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"Die Mittel wachsen nicht mit dem Bedarf"

Die Finanzen scheinen auf den ersten Blick gut:

  • Die Investitionen des Staates für den NHS stiegen nach Angaben der Organisation seit 2010 um 15  Prozent auf voraussichtlich 158,4 Milliarden Pfund (177,4 Mrd. Euro) im Jahr 2020.

  • Die Anzahl der Ärzte wuchs zeitgleich ebenfalls um 15 und die des Pflegepersonals um zehn Prozent.

Doch der Schein trügt. Die Investitionen steigen seit Beginn der Austeritätspolitik 2010 deutlich geringer. Statt wie zuvor um durchschnittlich 3,7 Prozent, nehmen sie nun im Schnitt 1,4 Prozent jährlich zu. Damals verordnete die britische Regierung dem Land einen Sparkurs, um die Folgen der Finanzkrise von 2008 zu bewältigen.

Coronavirus, Covid-19, Sars-CoV-2? Was die Bezeichnungen bedeuten.

Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".

Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.

Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.

Auch gemessen am Bruttoinlandsprodukts (BIP) sinken die Investitionen seitdem. Mit 9,8 Prozent liegt Großbritannien OECD-Angaben zufolge leicht unter dem Durchschnitt vergleichbarer Staaten – Deutschland und Frankreich liegen als zwei der Spitzenreiter bei 11,2 Prozent, Spanien und Italien bei knapp unter 9 Prozent.

"Die Mittel wachsen nicht mit dem Bedarf", sagt Natasha Curry, Stellvertretende Direktorin des "Nuffield Trust", einem Thinktank, der sich mit Gesundheitsfragen beschäftigt. Die Gründe:

  • Zum einen steige die Nachfrage an Behandlungen durch immer ältere Patienten insgesamt an.

  • Zum anderen reiche der Betrag nicht einmal, um die medizinische Inflation auszugleichen, sagt sie. Medizinische Geräte und Medikamente etwa verlieren schlagartig ihren Wert, sobald neuere, bessere Varianten auf den Markt kommen.

Ebenso wie die Finanzen kann auch das Personal nur auf dem Papier mit den Erfordernissen mithalten: 15 Prozent mehr Ärzte und Pfleger bedeuten nicht gleich viele neu besetzte Stellen, denn mit einem wachsenden Anteil weiblicher Angestellter steigt auch der Anteil an Arbeitnehmern in Teilzeit. Bleibt der aktuelle Trend ungebrochen, wächst die Vakanz in der kommenden Dekade auf 250.000 Stellen, berechnet der King's Fund, ein anderer unabhängiger Thinktank.

"Angestellte des NHS, danke, dass Ihr Großbritannien am Laufen haltet!"

"Angestellte des NHS, danke, dass Ihr Großbritannien am Laufen haltet!"

Foto: ANDY BUCHANAN/ AFP

Dabei stehen die Krankenhäuser noch verhältnismäßig gut da - die Ursachen für ihre Probleme liegen zumeist woanders. Wenn etwa jeder achte Patient in der Notaufnahme länger als vier Stunden auf einen Arzt warten muss, wie eine Erhebung im vergangenen Jahr ergab, liegt dies weniger am Versagen der Kliniken, als an einem Anstieg der vermeintlichen Notfälle - hervorgerufen durch einen eklatanten Mangel an Allgemeinärzten, an die sich die Patienten stattdessen wenden könnten.

Fehlende Ärzte außerhalb der Krankenhäuser wiederum sind Folge einer Politik, die bei der Mittelvergabe lange die Kliniken und dortige Spezialisten bevorzugte. Vorhaben der Blair-Regierung, die lokale Versorgung zu stärken, blieben ein leeres Versprechen. Auch der Tory-Premier David Cameron konnte daran nichts ändern. Mittlerweile existiert ein neuer Langzeitplan – Umsetzung ungewiss.

Wenn aus sozialen Problemen medizinische Fälle werden

"Das wahre Versagen der Politik liegt jedoch in der mehr als 20-jährigen Unfähigkeit, die Sozialfürsorge zu reformieren", sagt Expertin Curry. Sehr viele Fälle würden von sozialen zu medizinischen Problemen, weil die Langzeitversorgung chronisch unterfinanziert sei: die Altenpflege, Behindertenbetreuung, Familienfürsorge, Obdachlosenhilfe, Prävention und Hilfe bei Sucht, Gewalt, und Krankheit.

In der Sozialfürsorge ist mit 110.000 freien Stellen fast jede zehnte Position unbesetzt – was immer mehr Probleme auf den NHS verlagert.

Für die Coronakrise rüstet der NHS nun nach Johnsons Zickzackkurs auf – und mobilisiert beträchtliche Ressourcen:

  • Zivile Einheiten des Militärs sollen helfen.

  • Fast 12.000 pensionierte Mediziner und Pfleger haben sich wieder zum Dienst in den Krankenhäusern gemeldet.

  • Knapp 25.000 Ärzte und Pfleger in Ausbildung sollen dort schon vorübergehend angestellt werden.

  • Außerdem verkündete Finanzminister Rishi Sunak mit Vorstellung des Haushaltsplans massive Investitionen in den NHS.

Ein Londoner Konferenzzentrum wird aktuell zu einer Corona-Krankenstation mit 4000 Betten umfunktioniert. Die Nachrüstung ist notwendig. Denn: Mit den bislang existierenden 4100 Intensivbetten in ganz Großbritannien liegt das Land noch unter den Kapazitäten von Italien (5000) und Spanien (4400), wo der Mangel zu hohen Sterblichkeitsraten  durch das Virus führt. Deutschland liegt mit 28.000 Intensivbetten deutlich über dem Durchschnitt der EU-Länder.

Premier Boris Johnson muss wegen seiner Corona-Infektion aus dem Homeoffice arbeiten

Premier Boris Johnson muss wegen seiner Corona-Infektion aus dem Homeoffice arbeiten

Foto: ANDREW PARSONS/ AFP

Um bei den besonders benötigten Beatmungsgeräten nachzulegen, rief Gesundheitsminister Matt Hancock britische Betriebe auf, auf die Herstellung von Beatmungsgeräten umzustellen: "Wenn Sie sie herstellen, kaufen wir sie Ihnen ab". Ein Appell, den Boris Johnson angeblich "Operation letzter Atemzug" nannte.

Alle Artikel zum Coronavirus

Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

Den von der EU koordinierten Einkauf der Geräte lehnte die Regierung hingegen zuerst ab, weil das Königreich seit dem Brexit nicht länger EU-Mitglied sei und "eigene Bemühungen" vorantreibe; nach einem Sinneswandel scheiterte die Teilhabe dann angeblich an einem Koordinationsproblem. "Brexit vor Beatmung", kommentierten britische Medien die mehrheitlich als unverantwortlich wahrgenommene Aktion.

Seit der vergangenen Woche sind sowohl der Premierminister als auch der Gesundheitsminister und Thronfolger Prinz Charles an Covid-19 erkrankt. Ihnen geht es bei milden Symptomen gut – in eine Klinik des NHS musste bislang keiner der drei; auch Johnsons Chefstratege Dominic Cummings nicht, der seit Montagmorgen ebenfalls Symptome aufweisen soll. Die Wartezeit in der Notaufnahme blieb ihnen also erspart.

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