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Am Bayer-Standort in Berlin Wedding sollen Parkplatz-Flächen und ehemalige Schering-Gebäude für die Ansiedlung von Biotech-Firmen genutzt werden.

© Sascha Karberg/Tsp

Biomedizin-Boom in Berlin: „Wie in Cambridge“

Der Pharmakonzern Bayer will helfen, Berlin zum Biotech-Hub à la Boston machen. Das sei möglich, meint Forschungschef Stefan Oelrich im Tagesspiegel-Interview.

Eigentlich wollen wir uns über Berlins Biomedizin-Boom unterhalten und ob die Stadt wie Boston zu einem Biotech-Hub werden könnte – doch jetzt steht wegen der Coronavirus-Pandemie alles still. Platzt der Traum von der Biomedizin-Metropole?
Im Gegenteil. In dieser Zeit zeigt sich gerade die Bedeutung des pharmazeutischen Sektors für unsere Gesellschaft. Und es wird sichtbar, wie alle Beteiligten Hand in Hand arbeiten, um diese Krise zu bewältigen. Dies wird eine positive Wirkung auf die Entwicklung der industriellen Gesundheitswirtschaft in Berlin und darüber hinaus haben.

Aber ist es nicht ein zu hoch gegriffenes Ziel für Berlin, sich zu einem Hub wie in Boston entwickeln zu wollen?
Wenn man sich das Ziel nicht setzt, kann man es auch nicht erreichen. Vor 20 oder 30 Jahren konnte man sich in Cambridge, dem Vorort von Boston, wo heute der Großteil der Biotech-Firmen angesiedelt ist, gar nicht bewegen, ohne Gefahr zu laufen, überfallen zu werden. Geschweige denn, dass es eine wesentliche Biotech-Ansiedlung jenseits vom Harvard University Campus und dem Massachusetts Institute of Technology gab. Es gab zwar Krankenhäuser wie das Massachusetts General Hospital und das Brigham and Women’s Hospital, aber mit wenig ausgeprägter Zusammenarbeit. Ähnlich wie hier noch heute.

Stefan Oelrich ist seit November 2018 Vorstandsmitglied der Bayer AG, Leiter der Abteilung Pharmazeutika mit Sitz in Berlin und außerdem für die Region Europa/Naher Osten verantwortlich.
Stefan Oelrich ist seit November 2018 Vorstandsmitglied der Bayer AG, Leiter der Abteilung Pharmazeutika mit Sitz in Berlin und außerdem für die Region Europa/Naher Osten verantwortlich.

©  Promo

Was die akademischen Institute in Berlin betrifft, haben wir eine einmalige Konstellation, zumindest in Deutschland, vielleicht sogar in Europa. Und Berlin ist mit Bayer der Sitz des größten deutschen Pharma-Unternehmens. Es ist eine gute Fügung, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin auch die Verantwortung für die Wissenschaft im Senat übernommen hat. Er hat verstanden, dass die Gesundheitswirtschaft der wichtigste Wirtschaftsfaktor in der Stadt ist und ein echter Magnet, um Talente in die Stadt zu holen. In Boston hat es damals Leute gegeben, die gesagt haben: Lasst uns was zusammen machen, anstatt gegeneinander. Dieses Momentum gibt es gerade auch in Berlin. Es gibt eine Grundkonstellation, die ist vergleichbar. Auch wenn wir natürlich viel später dran sind als Boston.

Biomedizin in Berlin.
Biomedizin in Berlin.

© Tsp/Julia Schneider/Manuel Kostrzynski

Boston entwickelte sich auf Basis der damals neuen Ansätze in der Biotechnik. Dort, in Cambridge, gab es Brachflächen, alte Fabrikgelände und Parkplätze, wo man eine neue Industrie aufbauen konnte.
Wer hier aus dem Fenster schaut, sieht einen Parkplatz mit Spreeblick, fußläufig zur Charité. Ganz wie in Cambridge. Hier könnten systematisch Biotech-Unternehmen angesiedelt werden, und vielleicht wird daraus irgendwann ein Berliner Kendall Square, wie in Cambridge.

Das wurde auch schon anderswo versucht, etwa in München.
München ist nicht Berlin. Diese Stadt ist anders, die einzige Metropole in Deutschland und ein Ort, an den die Leute, die man für den Aufbau eines solchen Sektors braucht, leichter zu holen sind.

[Mehr zum Thema: Wie kann Berlin zum Boston Europas werden? Ein Aufruf, Berlin zur „Zellklinik“ nach dem Vorbild Virchows zu entwickeln.]

Aber die wenigen international erfolgreichen Biotechfirmen Deutschlands sind nicht hier: Curevac, BioNTech, Evotec, Qiagen, Morphosys sitzen in Tübingen, Mainz, Hamburg, Hilden, München ... Was macht Sie so sicher, dass das hier entstehen kann?
Nichts macht mich sicher. Aber irgendwo muss man ja anfangen. Wenn Bayer als größtes deutsches Pharmaunternehmen das mit anschiebt, könnte eine Sogwirkung entstehen. Curevac, BioNTech, Morphosys, das sind Einzelfälle. Die Frage ist, wie wir es schaffen, das auf einer größeren Skala aufzuziehen.

In den USA gibt es Risikokapital für Startups, hier wird kaum investiert. Welche Verantwortung hat Bayer hier einzuspringen?
Richtig, in Deutschland gibt es kaum Risikokapital. Bayer könnte das ändern, ein Katalysator sein, denn wir sind eng vernetzt mit den Venture-Capital-Fonds in Boston. Mit einigen von denen führe ich Gespräche und frage gezielt: Wollen wir nicht was in Berlin machen? Ein Beispiel ist Dewpoint, eine in Dresden und Boston gegründete Firma, an der wir gemeinsam mit der Venture-Capital-Firma Polaris beteiligt sind, und die jetzt auch nach Berlin auf den Bayer-Campus kommt.
Was hängt bei der Entwicklung eines Standorts vom Engagement Einzelner ab?
Alles. Was auch immer entsteht, irgendwer hat mal damit angefangen. Ich hoffe, dass ich hier mithelfen kann. In Deutschland beschwert man sich permanent, dass dies oder das schlecht läuft. Ich tue lieber etwas dafür, damit es in Zukunft besser wird. In den Lebenswissenschaften haben wir traditionell eine sehr gute Grundlagenforschung, aber auch einen unzureichenden Technologietransfer und eine niedrige Gründungsquote. Anstatt sich über die Gesundheitspolitik zu beschweren, kann sich unsere Industrie stärker selbst einbringen. Wir müssen den Schneeball ins Rollen kriegen.

Was muss sich dafür in Berlin ändern? Das Berlin Institute of Health soll den Transfer von Ideen aus der Forschung in die Klinik institutionalisieren. Aber der Start ist ziemlich in die Hose gegangen.

Da ist viel schiefgelaufen. Aber die Geburtsfehler sind jetzt behoben. Die Art und Weise, wie das BIH konstruiert war, war sicherlich unglücklich, da die Leitungen von MDC, Charité und BIH teilweise unterschiedliche Ziele verfolgten. In einer Stadt, wo die einzelnen Institute, vor allem die Charité, chronisch unterversorgt waren, entbrannte ein Kampf um Ressourcen. Anders als in Boston wurde hier noch sehr stark territorial gedacht. Aber das ist jetzt behoben. Wobei ich mir wünschen würde, dass am BIH nicht nur Projekte von MDC und Charité, sondern aus anderen akademischen Zentren zum Zuge kommen dürfen. Es sollten solche Projekte gefördert werden, die möglichst schnell einer Anwendung zugeführt werden können. Das ist patientenorientierte Translation.

Welche Verantwortung hat Bayer für die Entwicklung des Standorts Berlin? Da gibt es bislang wenig gute Beispiele: Das Stammzell-Start-up Bluerock wurde mit Bayer-Geld in Boston gegründet. 50 Millionen Dollar für Xenotransplantation bekam die Bostoner eGenesis. Die Bayerbeteiligung Casebia sitzt auch in Boston.
Viele Firmen sind auf den Zug aufgesprungen, primär an anderen Standorten zu investieren. Aber in Deutschland haben wir einen Heimvorteil, den wir nutzen sollten. Was eGenesis betrifft: Wir haben die Sprunginnovation gesehen, die Marktnähe und das Potenzial. Aber hier aus Deutschland ist niemand auf uns zugekommen. Wenn bekannter wird, dass wir den Willen haben, auch hierzulande etwas zu machen, dann werden auch mehr hiesige Firmen auf uns zukommen. Jedenfalls suchen wir vermehrt nach Kooperationen für den Standort Berlin.

Hat die Wissenschaft eine Bringschuld? Müssen Forscher mehr auf die Industrie zukommen?
Wenn ich mit jungen Wissenschaftlern rede, dann habe ich nicht den Eindruck, dass die nur eine Professur im Sinn haben, die sie dann bis an ihr Lebensende genießen wollen. Viele gehen ins Ausland, lernen von amerikanischen Kollegen. Der einfachste Weg, die Mauern zwischen Industrie und Wissenschaft einzureißen, ist, miteinander zu kommunizieren. Dann lösen sich viele Dinge auf. Dass die Pharmaindustrie in der öffentlichen Wahrnehmung keine hohe Reputation hat, ist bedauerlich. Aber da sind viele Dinge, die aus der Vergangenheit herrühren. Man kann heute kein Produkt mehr in Verkehr bringen und dafür einen auskömmlichen Preis erzielen, das nicht einen hohen Grad an Innovation beinhaltet. Sonst bezahlt es niemand. Die Gesellschaft hat uns ganz klar gesagt: Wenn ihr nicht eine gewisse Schwelle an Innovation überschreitet, dann sind wir nicht bereit, dafür zu bezahlen.

Viele Innovationen, mit denen Pharmafirmen Geld verdienen, sind auch mit öffentlichem Geld erarbeitet worden. Können Profite mit Biomedizin besser verteilt werden?
Das stimmt so nicht. Aber es wäre gut, solche Brücken zwischen der akademischen Forschung und der Umsetzung in Therapien durch die pharmazeutische Industrie zu verstärken. Das geht nur, wenn alle Beteiligten davon etwas haben. Wenn aus gemeinsamer Forschung Medikamente werden, dann werden sich die Lizenzzahlungen für Berlin lohnen.

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