Zum Inhalt springen

Altenpflege in der Coronakrise "Es muss ein Aufschrei durch die Politik gehen"

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Claudia Moll arbeitete fast 28 Jahre als Pflegekraft. Hier schildert sie, wie desaströs die Lage in vielen Altenheimen ist - und rechnet mit der Politik von Bund und Ländern ab.
Ein Interview von Veit Medick
Menschen in Schutzanzügen in einem Altenheim in Heinsberg

Menschen in Schutzanzügen in einem Altenheim in Heinsberg

Foto: Jonas Güttler / picture alliance/dpa

SPIEGEL: Wie geht es Ihnen, Frau Moll?

Moll: Persönlich gut. Aber wenn ich an die Lage in den Alten- und Pflegeheimen denke: beschissen.

SPIEGEL: Warum?

Moll: In den Altenheimen sterben viele Menschen wegen Corona, die Pflegekräfte sind vielerorts am absoluten Limit. Trotzdem guckt niemand richtig hin. Die Altenpflege hat keine Lobby. Das macht mich wirklich rasend.

SPIEGEL: Sie haben fast 28 Jahre in der Pflege gearbeitet, bevor sie in die Politik gingen. Was hören Sie von ehemaligen Kollegen?

Moll: Die sind teilweise verzweifelt. Sie haben kaum einen Ansprechpartner in der Politik. Das liegt auch daran, dass sich fast niemand in der Politik findet, der diese Arbeit schon mal gemacht hat. Niemand kann sich vorstellen, was die Menschen in den Heimen durchmachen. Neulich rief mich eine Heimleiterin an, die ich gut kenne. Die fing am Telefon einfach an zu weinen. Es fehlt Schutzkleidung. Kollegen sind krank. Das System bricht in vielen Heimen schlicht zusammen.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Moll: Fällt ein Kollege aus, muss ein anderer aushelfen. Dessen Arbeit muss wieder jemand ausgleichen. Aber immer fehlt einer. Es geht ja nicht nur ums Pflegepersonal. Denken Sie mal an die Hauswirtschaftskräfte, die in den Heimen das Essen verteilen. Fallen die aus, müssen Pflegekräfte plötzlich um sechs Uhr früh die Butterbrote schmieren. Das kann nicht lange gut gehen.

SPIEGEL: Wie ist Ihre Erfahrung: Herrscht in einer Situation wie jetzt die permanente Angst vor dem Erreger?

Moll: Nein, Du hast gar keine Zeit darüber nachzudenken. So ein Virus ist ja nichts komplett Fremdes. Wir haben das in meiner Zeit häufig gehabt, wenn auch natürlich nicht ganz so dramatisch. MRSA-Infektionen, Norovirus - da werden dann sämtliche Schutzmaßnahmen hochgefahren. Kleidung, Hygiene, Kontakt - alles wird überprüft. Irgendwann steckt sich trotzdem jemand an. Und dann geht es los. Du kommst morgens zum Frühdienst und es heißt: Zwei Kollegen haben sich krankgemeldet. Eine Woche kannst Du so etwas durchhalten, dann weißt Du nicht mehr, ob Du Männlein oder Weiblein bist.

SPIEGEL: Wobei eine solche Ausnahmesituation doch auch viele kennen, die zu Hause Angehörige pflegen.

Moll: Natürlich, das wird von der Politik auch viel zu wenig berücksichtigt gerade. Viele, die ihre Angehörigen pflegen, können gerade keine Hilfe beanspruchen. Sie können nicht auf die Kurzzeitpflege zählen, nicht auf die Tagespflege. Stellen Sie sich mal vor, Sie sind sieben Tage die Woche mit der dementen Oma Trudi zusammen. Und Oma Trudi will jetzt spazieren gehen und versteht nicht, warum sie nicht raus darf. Oder sie hat einen verkehrten Schlaf-Wach-Rhythmus und sagt nachts plötzlich: So, jetzt ist für mich aber Tag, ich will raus. Wenn schon Pflegekräfte am Limit sind, die so etwas beruflich gelernt haben - was sollen dann Angehörige erst sagen?

Alle Artikel zum Coronavirus

Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.

SPIEGEL: Welche Patienten sind in den Heimen besonders gefährdet?

Moll: Eigentlich alle. Die gehen ja nicht ins Pflegeheim, weil sie keine Lust mehr haben zu kochen. Die sind schon alle hoch pflegebedürftig. Aber auch das Pflegepersonal ist gefährdet. Viele sind gesundheitlich angeschlagen und müssen trotzdem arbeiten, weil der Personalstand so schlecht ist. Und dann kommen wir in den Landesregierungen oder vom Bund und spielen mit der Idee, die Kurzzeitpflege vorübergehend in die Reha-Einrichtungen auszugliedern.

SPIEGEL: Was soll daran falsch sein?

Moll: Das klingt ja nett. Aber da ist doch kein Fachpersonal da! In den Reha-Einrichtungen sind Therapeuten, Ärzte. Die haben doch nichts mit Pflegebedürftigen zu tun. Wer so etwas aufschreibt, glaubt, dass man die Lage unter Kontrolle kriegt, wenn man ein paar Betten hin und herschiebt. Ich kann die Naivität manchmal gar nicht fassen.

SPIEGEL: So ganz ignoriert wird die Lage in den Alten- und Pflegeheimen aber nicht gerade. Nordrhein-Westfalen etwa hat Quarantänebereiche verordnet, um die Ausbreitung des Virus in den Heimen zu stoppen.

Moll: Noch so ein Unsinn. Das hat absolut nichts mit der Realität zu tun. Versuchen Sie mal, einem hochgradig Pflegebedürftigen zu erklären, dass er jetzt umziehen muss. Und versuchen Sie mal, einer Pflegekraft zu erklären, dass sie jetzt auch noch Schränke ausräumen und Möbel packen soll. Vielen Dank. Die schaffen das alle irgendwie. Aber zu welchem Preis?

SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?

Moll: Ich erwarte, dass die Politik in Berlin sich endlich mal dafür interessiert, was in Alten- und Pflegeheimen los ist. Manchem, der jetzt Verantwortung trägt, würde es gut tun, mal ein Praktikum vor Ort zu machen. Es muss ein Aufschrei durch die Politik gehen. Wenn das alles vorbei ist, müssen wir uns über viele Dinge unterhalten. Wir haben jetzt gemerkt, dass wir viel zu abhängig von China sind in vielen Bereichen. Die Schutzkleidung muss wieder überwiegend in Europa produziert werden. Wir müssen die Arzneiabhängigkeit vom chinesischen Markt reduzieren. Und natürlich müssen wir an den Personalschlüssel ran.

SPIEGEL: Das ist aber auch keine wirklich neue Forderung.

Moll: Nein, aber der aktuelle Zustand ist doch nicht haltbar. Wir haben bei den Alltagsbegleitern einen Schlüssel von 20 zu 1. Zwanzig Patienten haben also einen Betreuer. Ich fordere schon lange einen Schlüssel von zehn zu eins. Das wäre zumindest ein erster Schritt.

SPIEGEL: Dann müssen diesen Beruf aber auch ein paar mehr Menschen lernen.

Moll: Ja, wir haben mit der Bundesregierung versucht, die Pflegeausbildung ein Stück zu reformieren. Aber das reicht hinten und vorne nicht. Jetzt sind wegen der Coronakrise die Schulen zu, die Ausbildung fängt nicht an. Ein kompletter Jahrgang droht uns wegzubrechen. Wenn wir den Beruf attraktiver machen wollen, dann müssen wir natürlich auch über Bezahlung reden. Wir sind eine älter werdende Gesellschaft. Wer für unsere Alten sorgt, trägt eine ganz besondere Verantwortung. Das muss nach dieser Krise jedem klar sein.