Krankenhäuser:"Wir sehen jetzt einen Nachholeffekt"

Krankenhäuser: Wegen Corona wurden auch am Stuttgarter Klinikum reihenweise Operationen verschoben – nun konzentrieren sich die Chirurgen vor allem auf komplexe und relativ dringende Eingriffe.

Wegen Corona wurden auch am Stuttgarter Klinikum reihenweise Operationen verschoben – nun konzentrieren sich die Chirurgen vor allem auf komplexe und relativ dringende Eingriffe.

(Foto: Klinikum Stuttgart)

Das Klinikum Stuttgart läuft wieder im Normalbetrieb. Doch Vorstandschef Jan Steffen Jürgensen rechnet mit langfristigen Folgen der Corona-Pandemie für das Krankenhaus.

Interview von Claudia Henzler, Stuttgart

Jan Steffen Jürgensen ist Chef des Klinikums Stuttgart. Mit 2200 Betten und mehr als 7000 Mitarbeitern ist es das größte Krankenhaus in Baden-Württemberg. Ein Gespräch darüber, wie sein Haus durch die Corona-Pandemie gekommen ist, wie es dort weitergeht - und über den ambivalenten Wunsch nach Normalität.

SZ: Sie haben die Zahl der Intensivbetten von 80 auf fast 270 erhöht, Zugangsschleusen gebaut und ein Klinikgebäude zum Quarantänehaus umgerüstet. War das im Rückblick übertrieben?

Jan Steffen Jürgensen: Wir mussten uns auf einen exponentiellen Verlauf der Infektionszahlen einstellen und wollten auf jeden Fall Situationen wie in Norditalien oder im Elsass vermeiden, wo Ärzte mit dem Triage-System entscheiden mussten, wen sie zuerst behandeln. Letztlich haben wir die Kapazitäten nicht voll ausschöpfen müssen und hatten immer einen ganz erheblichen Sicherheitspuffer. Ich halte unser vorsichtiges, sehr schnelles und aufwendiges Vorgehen trotzdem für richtig. Es gilt ja für viele Sicherheitsvorkehrungen, dass man froh ist, wenn man sie nicht braucht. Niemand stellt den Sinn der Feuerwehr oder von Airbags infrage.

Läuft Ihr Haus wieder im Normalbetrieb?

Ja, das kann man sagen. Wir haben relativ früh alle planbaren Operationen, bei denen es sich nicht um Notfälle handelt, eingestellt. Wir operieren im Jahr etwa 50 000 Patienten, etwa die Hälfte sind keine Notfälle und über eine gewisse Zeit verschiebbar. Da sind wir im März noch früher auf die Bremse getreten als vom Bundesgesundheitsminister empfohlen, um Intensivteams, Anästhesisten und Pflegekräfte trainieren zu können. Wir sind dann aber auch früher als andere in den Regelbetrieb zurückgekehrt. Heute nähern wir uns im OP-Programm wieder 100 Prozent und haben eine Bettenbelegung im gesamten Haus von mehr als 85 Prozent. Das entspricht dem Wert vor der Pandemie. Momentan holen wir allerdings auch viele aufgeschobene Operationen nach.

Behalten Sie Veränderungen bei?

Wir haben ein systematisches Screening eingeführt: Wer geplant zu einem stationären Aufenthalt kommt, erhält zwei Tage vorher einen Abstrich. Da können wir für den Regelbetrieb lernen und das Schutzniveau insgesamt erhöhen. Wir werden das Screening beibehalten und möglicherweise auch noch auf andere Erreger ausdehnen. Multiresistente Krankenhauskeime sind ja ein Problem, das schon vor Covid-19 bestand. Auf jeden Fall werden wir am Olgahospital - der größten Kinderklinik Deutschlands - in der Wintersaison Schnelltests für Atemwegsinfekte etablieren. So können wir schon in der Notaufnahme entscheiden, ob eine Separierung aus hygienischen Gründen sinnvoll ist.

Wie sieht es mit der Ausrüstung aus?

Wir hatten schon bisher ein überdurchschnittliches Niveau an persönlicher Schutzausrüstung, weil wir Masken und Kittel in unseren Notaufnahmen brauchen, beispielsweise für Influenza. Und wir behandeln mehr als 100 000 ambulante Notfallpatienten im Jahr. Trotzdem wurde das Material knapp. Wir waren zwar immer vernünftig ausgestattet, das ging aber nur mit ungewöhnlichen Beschaffungswegen, hohen Preisen und Lieferungen, deren Qualität wir testen lassen mussten. Deshalb werden wir unser Pandemielager deutlich vergrößern und künftig gemeinsam mit der Stadt betreiben.

Sie wollen deutlich mehr Krankenpfleger ausbilden. Eine Folge der Pandemie?

Qualifizierte Pflegekräfte spielen bei einer Pandemie natürlich eine herausragende Rolle. Am Klinikum gibt es bisher 800 Ausbildungsplätze für Gesundheitsfachberufe - überwiegend Pflegekräfte. Ab Herbst werden wir zusätzlich 42 neue Ausbildungsplätze für Pflegekräfte schaffen.

Gibt es dafür denn genug Bewerber?

Die Zahl war im vergangenen Jahr etwa fünfmal so hoch wie die der freien Plätze. Nun sehen wir ein noch höheres Interesse. Wir denken, dass da verschiedene Ursachen zusammenkommen. Zum einen die Unsicherheit in anderen Wirtschaftsbereichen, zweitens die hohe Wertschätzung, die Gesundheitsberufe in den vergangenen Monaten zu Recht erfahren haben. Und drittens hat der hohe Bedarf an Pflegekräften in den vergangenen Jahren zu steigenden Gehaltsgefügen geführt, was sich zu Recht wohl weiter fortsetzen wird.

Apropos Wertschätzung: Nur Altenpfleger bekommen den von der Bundesregierung angekündigten Pflegebonus.

Das halte ich für falsch und bedauerlich, bei allem Respekt vor der Altenpflege und der großen Aufgabe, die da gemeistert wird. Richtig ist, dass das Gehalt in der Altenpflege im Schnitt niedriger ist als in der Krankenpflege. Aber ich hätte mir gewünscht, dass es eine bundesweite Regelung und eine tarifvertragliche Honorierung der besonderen Aufgaben gibt. Unser Haus hat jetzt für etwa 3500 Beschäftigte einmalig bis zu 400 Euro gezahlt - das ist natürlich nichts, was die tollen Leistungen aufwiegen kann, sondern nur eine Geste.

Wie sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf das Klinikum?

Beim Operationsbetrieb hatten wir hohe Einbußen zu verzeichnen, auf der anderen Seite sehen wir jetzt einen Nachholeffekt. Hinzu kommt die finanzielle Kompensation über das Krankenhausentlastungsgesetz für das Freihalten von Betten und höhere Intensivkapazität. Das wird vermutlich nicht reichen. Aber man muss anerkennend sagen: Die Bundesregierung hat schnell reagiert, die Absicht und die Maßnahmen gehen in die richtige Richtung.

Krankenhäuser: Professor Jan Steffen Jürgensen, 50, Medizinischer Vorstand und Vorstandsvorsitzender des Klinikums Stuttgart. Bis 2017 war der Facharzt für Innere Medizin Geschäftsführer des Vorstands an der Berliner Charité.

Professor Jan Steffen Jürgensen, 50, Medizinischer Vorstand und Vorstandsvorsitzender des Klinikums Stuttgart. Bis 2017 war der Facharzt für Innere Medizin Geschäftsführer des Vorstands an der Berliner Charité.

(Foto: Klinikum Stuttgart)

Haben Sie Erkenntnisse über gesundheitliche Langzeitfolgen Ihrer Patienten?

In Stuttgart hatten wir etwa 1600 diagnostizierte Covid-Fälle. Am Klinikum haben wir knapp 200 Patienten stationär behandelt und eine mittlere dreistellige Zahl ambulant. Bei einigen ehemals kritisch Kranken sehen wir mehrwöchige Verläufe und lange Einschränkungen, mit Erschöpfung und fehlender Belastbarkeit. In einer Computertomografie-Studie sieht unser Radiologe teils anhaltende Lungenveränderungen. Neben der Mortalität sind also auch die Folge-Komplikationen beachtenswert.

Sie verweisen auch auf die soziale Dimension der Pandemie. Was beunruhigt Sie?

Wir sehen international, dass Armut ein wichtiger Faktor ist, wenn es um die Frage geht, wer von der Pandemie betroffen ist, und wie er sie bewältigt. Manche Risikofaktoren wie Übergewicht oder Diabetes Typ 2 gehen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status Hand in Hand. Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen sind außerdem heftiger von den sozialen Auswirkungen betroffen. Das sind Entwicklungen, auf die wir gesellschaftlich Antworten suchen müssen.

Es kehrt so etwas wie Normalität ein. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Alle wünschen Normalität. Wir sehen aber, dass das Infektionsgeschehen immer wieder aufflackert. In der vergangenen Woche hatten wir mehrere infizierte Reiserückkehrer aus Serbien. Insgesamt nehmen Reisen zu, auch in Regionen, in denen das Virus nicht unter Kontrolle ist. Wir hatten in Stuttgart auch mehrere Fälle in Flüchtlingsunterkünften. Da müssen dann sehr schnell zweistellige Zahlen von Kontaktpersonen getestet werden. Es ist also nicht vorbei. Testung und Nachverfolgung sind für die weitere Eindämmung wichtig. Der mächtigste Hebel bleibt aber die Vernunft und das Einhalten elementarer Regeln: Maske, Abstand, Hygiene.

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