In der Kindheit Gewalt zu erleben - als Zeuge oder Opfer - prägt ein Leben lang. Mit der neuen ICD-11 wird sich Kindesmisshandlung künftig umfassender erheben lassen, damit Betroffenen besser geholfen werden kann.

Ab Januar 2022 soll die neue ICD-11 in Kraft treten. "Das bedeutet einen großen Wechsel in der Klassifikation", betonte Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm. Die Codes werden von rund 14.500 auf insgesamt 55.000 erweitert. Zugleich wird in der ICD-11 kein eigenes Kapitel zu Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend mehr enthalten sein. "Alles wird über die Lebensspanne ankreuzbar sein", erläuterte Fegert. Die Störungen sind in den jeweiligen Unterkapiteln eingeordnet. Trennungsangststörungen zum Beispiel können dann ebenso beim Erwachsenen diagnostiziert werden.

figure 1

© cloverphoto / Getty Images / iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

In einer Studie gaben 8,9 % der Befragten an, vier oder mehr belastende Kindheitserlebnisse erfahren zu haben.

Die Einführung der ICD-11 wird eine detailliertere Erfassung von Kindesmisshandlung ermöglichen. Unter anderem können zukünftig die Begleitumstände, der Kontext der Misshandlung oder Angaben zum Täter miterfasst werden. Obwohl das Codierungsverbot für Kindesmisshandlung im Krankenhaus seit 2013 aufgehoben sei, werde diese derzeit kaum dokumentiert, erinnerte Fegert. Fachkräften im Gesundheitswesen steht bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch das Beratungsangebot der "Medizinischen Kinderschutzhotline" unter der Telefonnummer 0800 19 210 00 zur Verfügung.

"Auch das Miterleben von Gewalt zwischen Bezugspersonen zu Hause ist für Kinder eine große Belastung", unterstrich Fegert. Unter dem Begriff der "Adverse Childhood Experiences" werden belastende Kindheitserlebnisse vor dem 18. Lebensjahr zusammengefasst, die negative und anhaltende Effekte auf Gesundheit und Wohlbefinden haben können. Fegert und Kollegen untersuchten die Prävalenz dieser belastenden Kindheitserlebnisse in der deutschen Bevölkerung [Witt A et al. Dtsch Arztebl Int 2019;116:635-42]. Befragt wurden 2.531 Personen ab 14 Jahren. Dabei gaben 8,9 % der Befragten vier oder mehr Adverse Childhood Experiences an. "Wer in einer Situation mit häuslicher Gewalt aufgewachsen ist, hat später leider auch ein höheres Risiko, diese Gewalt weiterzugeben", so Fegert.

Vortrag "Psychiatrie/Psychologie", 13. Pädiatrie-Update-Seminar, Köln/online, 3. Juli 2020