Wenn die Patienten nicht mehr zwischen Arzt, Spital, Pflegeheim und Spitex hin- und hergeschoben werden: So sieht die Zukunft des Gesundheitswesens aus

Viele Patienten erleben ihre Behandlung als mühsam, weil sie es dauernd mit neuen Akteuren zu tun haben. Die Bündner machen vor, wie es besser geht – und senken damit erst noch die Kosten.

Simon Hehli
Drucken
Blick ins Spital Scuol, das Herz des Gesundheitszentrums im Unterengadin.

Blick ins Spital Scuol, das Herz des Gesundheitszentrums im Unterengadin.

Karin Hofer / NZZ

Scuol ist eine 4500-Seelen-Gemeinde fernab aller städtischen Zentren. Doch hier im Unterengadin ist etwas entstanden, was für das ganze Gesundheitswesen Pioniercharakter hat: Die wichtigsten medizinischen Dienstleister haben sich alle in einem Gesundheitszentrum zusammengeschlossen. In der Schweiz sieht die Realität fast überall anders aus: Hier ein Spital, da ein Pflegeheim, dort eine Spitex-Organisation – und alle werkeln vor sich hin, ohne sich gross abzusprechen.

Flurin Caviezel ist begeistert vom alternativen Modell des Gesundheitszentrums, das auf Rätoromanisch Center da sandà Engiadina Bassa (CSEB) heisst. An Pfingsten stürzte die 92-jährige Mutter des Bündner Kabarettisten. Nach einem dreitägigen Aufenthalt im Spital ging es um die Frage, wie es mit der geschwächten Seniorin, die bisher allein daheim gewohnt hatte, weitergehen soll. Wie stets in solchen Fällen organisierte das Zentrum ein Gespräch am runden Tisch, in der Branche nennt man das Case-Management. Dabei waren neben Caviezel und seiner Mutter die Leiterin der CSEB-Beratungsstelle, eine Ärztin, eine Pflegefachfrau und die Leiterin der Spitex-Abteilung.

Die Mutter beharrte darauf, weiterhin zu Hause zu leben. Sie bekam deshalb für einige Wochen Unterstützung durch die Spitex, doch das Setting stiess wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit bald an Grenzen. Bei einem weiteren Gespräch auf der Beratungsstelle wurde entschieden, dass die Seniorin ins Altersheim kommen sollte. Weil dort gerade kein Platz war, verbrachte sie einige Nächte auf der Pflegeabteilung des Gesundheitszentrums. Für ihn als Angehörigen sei es sehr vorteilhaft gewesen, dass alle Dienstleister unter einem Dach versammelt seien, sagt Flurin Caviezel. «Wir mussten nicht im Spital, bei der Spitex und im Altersheim immer wieder von vorne anfangen. Alle Beteiligten wussten, wie es meiner Mutter geht und was ihre Bedürfnisse sind. Die Wege sind kurz – physisch und im übertragenen Sinn.»

Keine Region ist innovativer

Am CSEB steht der Patient im Zentrum. Das klingt nach Plattitüde und PR-Sprech. Aber es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich der sogenannte Patientenpfad ohne Behandlungsbrüche absolvieren lässt. Der Bundesrat hat deshalb den Ausbau der «integrierten Versorgung» zu einer gesundheitspolitischen Priorität erklärt. Und dabei richten sich die Augen ins Bündnerland. «In der Schweiz kennen wir keine Region, die ähnlich innovativ vorgeht», sagt Marc-André Giger, Sektorleiter Öffentliche Verwaltung bei KPMG Schweiz. Giger hat zusammen mit Matthias Mitterlechner, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Universität St. Gallen, eine Studie über die «vernetzte Gesundheit» verfasst, dies im Auftrag des Bündner Gesundheitsdirektors Peter Peyer.

Dabei verglichen sie das Unterengadin und das Prättigau, das ebenfalls eine integrierte Versorgungsregion ist, mit dem Oberengadin und der Surselva, wo die medizinischen Dienstleister noch separat arbeiten. Der Befund ist klar: Die Patienten in den integrierten Systemen sind zufriedener und gehen für Behandlungen seltener anderswohin, etwa nach Chur. Das anerkennt auch Claudia Zäch, die Chefin des traditionell organisierten Regionalspitals Surselva: «Im integrierten System fühlt sich der Patient rundum betreut und fällt nicht durch die Maschen, wenn er von einer Institution in die nächste wechselt.» Die gute Versorgung im Unterengadin und im Prättigau erhöht die Lebensqualität für die Bevölkerung. Und attraktive Arbeitsstellen bleiben erhalten oder werden geschaffen – ein wichtiger Aspekt für die von Abwanderung betroffenen Berggebiete.

Aus der Not heraus geboren

Zentral ist neben dem qualitativen aber auch der ökonomische Aspekt. Es ist kein Zufall, dass das Unterengadin mit seiner peripheren Lage zu den Pionieren der integrierten Versorgung gehört. In den herkömmlichen Strukturen war das eigene Spital schlicht nicht mehr finanzierbar. Deshalb traten die Gemeinden vor gut zehn Jahren die Flucht nach vorne an und bündelten ihre Kräfte im Gesundheitszentrum, zu dem auch das Mineralbad von Scuol gehört.

Ein wesentlicher Faktor sind Synergiegewinne: Eine gemeinsame Wäscherei, Personal- und IT-Abteilung oder Küche für das Spital, das Pflegeheim und die Spitex, das reduziert langfristig die Kosten. Die KPMG-Studie geht von einem Sparpotenzial von bis zu 30 Prozent bei den Supportabteilungen aus. Es braucht auch weniger Führungskräfte und Verwaltungs- oder Stiftungsräte. Die integrierten Regionen können so letztlich mehr Mittel ins medizinische Kerngeschäft stecken.

SP-Regierungsrat Peyer ist sichtlich stolz auf das Erreichte. «Die strukturelle Verbindung unter den Leistungserbringern führt im Idealfall zu einer einzigen Organisation, deren Infrastruktur auf dem neuesten Stand ist», sagt er. Die Bevölkerung werde von der Wiege bis zur Bahre durch diese Institution geheilt, gepflegt und betreut. Dass eine solche Monopolstellung auch negative Auswirkungen haben könnte, glaubt er nicht. Schliesslich bleibe für die Bevölkerung die freie Spital-, Heim- und Arztwahl erhalten.

SVP-Frau Bircher macht’s vor

Auch im Mittelland gibt es erste Ansätze einer integrierten Versorgung, etwa im aargauischen Aarburg. Dort hat es SVP-Politikerin Martina Bircher geschafft, die Spitex-Kosten der Gemeinde massiv zu senken, indem sie den Leistungsauftrag an das Gesundheitszentrum Lindenhof im Nachbarort Oftringen vergab. Der Lindenhof umfasst neben der Spitex auch ein Pflegeheim und betreutes Wohnen – und erzielt so auf ähnliche Weise wie das CSEB in Scuol Effizienzgewinne.

Ein Spital ist in Aarburg allerdings nicht involviert. KPMG-Gesundheitsexperte Giger zeigt sich überzeugt davon, dass sich auch das ganze Unterengadiner Modell inklusive Spital gut in den Rest des Landes exportieren liesse – mit positiven Auswirkungen auf Behandlungsqualität und Volksgesundheit, Staatsfinanzen und Krankenkassenprämien. Doch wie gross sollte eine integrierte Versorgungsregion idealerweise sein? «Ineffizienz beginnt dort, wo sich niemand mehr für das Ganze verantwortlich fühlt», antwortet Giger. Es sei deshalb zentral, dass eine Versorgungsregion überschaubar bleibe und es eine politische Instanz gebe, die gewillt sei, den Integrationsprozess voranzutreiben. Giger glaubt, dass ein Projekt etwa in Winterthur gelingen könne. Oder in der Nordwestschweiz, die bezüglich Patientenströmen ein relativ homogener Raum sei.

Doch noch ist dies Zukunftsmusik. In den meisten Regionen der Schweiz sind die gesundheitsökonomischen Perspektiven besser, als sie es vor über zehn Jahren im Engadin waren. Ohne Leidensdruck dürfte es schwierig werden, Leistungserbringer mit völlig unterschiedlicher Betriebskultur und Organisationsform – manche im Besitz der öffentlichen Hand, andere in Privatbesitz – zu einem Zusammenschluss zu bewegen.

Ein Hindernis stellt auch das hochkomplexe Finanzierungsregime dar: Für stationäre Leistungen kommen Kantone und Krankenkassen gemeinsam auf, für ambulante Behandlungen die Versicherer allein. Wieder anders geregelt sind Leistungen der Spitex und der Pflegeheime. CSEB-Chef Joachim Koppenberg bemängelt, dass sein Gesundheitszentrum deshalb 14 verschiedene Jahresabschlüsse mit Revision machen muss. Bundesrat und Parlament treiben deshalb auch mit Blick auf die integrierte Versorgung das Projekt einer einheitlichen Finanzierung voran. Doch wann es so weit sein wird, ist offen.