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Spitäler wegen verpasster Eingriffe in Erklärungsnot

Der Nachholeffekt nach dem Lockdown bleibt aus. Nun fragen sich Gesundheitspolitiker: Offenbart Corona die Überversorgung im Spital?

Andrea Kučera 3 min
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Ärzte bereiten sich im Spital Limmattal auf eine Operation vor.

Ärzte bereiten sich im Spital Limmattal auf eine Operation vor.

Heike Grasser / Ex-Press

Eineinhalb Monate mussten die Schweizer Spitäler diesen Frühling wegen der Corona-Epidemie auf die Durchführung nicht dringlicher Eingriffe verzichten. Seit Ende April ist das Behandlungsverbot aufgehoben, doch wie sich nun zeigt, sind längst nicht alle verschobenen Operationen nachgeholt worden: «Der erwartete Aufholeffekt nach der Lockdown-Phase ab 27. April ist bis Ende Juni nicht erkennbar», schrieb jüngst der Spitalverband H+.

Diese Feststellung lässt Gesundheitspolitiker aufhorchen. «Der Schluss liegt nahe», sagt CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, «dass viele der geplanten Eingriffe nicht nötig waren. Hätte man medizinisch etwas verpasst, würden die Patienten längst ihre Behandlungen einfordern.» Jahr für Jahr steigen die Kosten im Gesundheitswesen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Hat die Corona-Epidemie die Überversorgung ans Licht gebracht?

Humbel ist nicht die Einzige, die sich hierzu Gedanken macht. Auch SP-Nationalrat Pierre-Yves Maillard sagt, er schliesse nicht aus, dass ein Teil der unterlassenen Behandlungen unnötig gewesen sei. Das werde sich in den nächsten Monaten zeigen: «Entweder die Leute werden kränker und die Sterblichkeit steigt, oder man wird keinen Effekt feststellen. In diesem Fall müssen wir herausfinden, welche Behandlungen überflüssig waren.» Ähnlich argumentiert FDP-Ständerat Damian Müller. Er fordert, die Corona-Krise müsse dazu genutzt werden, sämtliche Gesundheitsdienstleistungen grundlegend zu analysieren. «Es darf nicht sein, dass Operationen auf Vorrat getätigt werden, nur damit die Auslastung stimmt.»

Stutzig gemacht hat die Lektüre der Medienmitteilung der Spitäler nicht zuletzt die Krankenkassen. «Wenn einige Eingriffe nicht nachgeholt werden, würde dies bedeuten, dass diese tatsächlich nicht notwendig waren», sagt Matthias Müller vom Verband Santésuisse. Es werde interessant sein zu sehen, wie die Entwicklung der Kosten im Sommer verlaufen sei. «Denn zu dieser Zeit sind viele Spitäler in der Regel weniger ausgelastet, was das Nachholen von Operationen ermöglichen würde.»

Auf Anfrage sagt die Direktorin des Spitalverbandes, Anne Bütikofer, man gehe auch für die Zeit seit Ende Juni höchstens von einem sehr kleinen Nachholeffekt aus. Sie weist aber die Interpretation von sich, dies offenbare die Überversorgung im Gesundheitswesen: «Die Spitäler können nicht alle Behandlungen und Operationen nachholen, da sie schon im Normalzustand gut ausgelastet sind und nur wenig zusätzliche Kapazitäten haben.» Hinzu komme, dass einige Patienten nach wie vor Hemmungen hätten, in ein Spital zu gehen, aus Angst, sich mit dem Virus anzustecken. «Ob und in welchem Umfang das Aufholen eintreten wird, ist ungewiss und auch von Spital zu Spital verschieden.»

Dass das Schweizer Gesundheitssystem Ineffizienzen aufweist, ist weitgehend unbestritten. Ein Grund dafür sind medizinisch nicht notwendige Eingriffe. Eine im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit erarbeitete, kürzlich veröffentlichte Studie kommt zum Schluss, dass das Effizienzpotenzial 16 bis 19 Prozent beträgt. Mit anderen Worten: Gemäss Studie könnte man getrost auf einen Teil der Behandlungen verzichten. Andere Experten schätzen den Anteil der medizinisch nicht nötigen Leistungen noch höher ein.

Das Ausbleiben des Aufholeffekts in den Spitälern heizt diese Diskussion zusätzlich an. Mit einer Motion verlangt Humbels Mitte-Fraktion, dass der Bundesrat unter anderem untersucht, inwiefern durch das Corona-Behandlungsverbot unnötige Eingriffe verhindert wurden. «Aus der Analyse müssen die Konsequenzen für die laufenden KVG-Reformen sowie für die Versorgungsplanung der Kantone aufgezeigt werden.» Der Bundesrat teilt diese Ansicht: Die Anliegen der Motion seien berechtigt, schreibt er. «Es werden darin wichtige Aspekte zur Prüfung und Klärung angesprochen.» Er beantragt Annahme der Motion.