Krankenkassen bringen Stundenlohn für Ärzte ins Spiel

Für frei praktizierende Mediziner könnte teilweise bald gelten, was für viele Angestellte Normalität ist: dass sie gemäss ihrer Arbeitszeit bezahlt werden. Diese Idee ist Teil einer grösseren Umwälzung im Gesundheitswesen.

Simon Hehli
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Frei praktizierende Spezialärzte könnten für Operationen Pauschalen erhalten, für die restliche medizinische Arbeit einen Zeittarif.

Frei praktizierende Spezialärzte könnten für Operationen Pauschalen erhalten, für die restliche medizinische Arbeit einen Zeittarif.

Gaëtan Bally / Keystone

Es ist ein kurzer Satz in einem sonst eher trockenen Communiqué: «Denkbar ist eine Abgeltung dieser Leistungen mittels eines einfachen und transparenten Zeittarifs.» Der Satz birgt Sprengstoff. Denn es geht um die Tarife der frei praktizierenden Hausärzte und Spezialmediziner. Diese erhalten ihre Vergütungen bis anhin aufgrund ihrer Leistungen – und nicht aufgrund der dafür aufgewendeten Zeit. Was die Absender des Schreibens – der Krankenkassenverband Santésuisse, der Spitalverband H+ und die Chirurgenvereinigung FMCH – ins Spiel bringen, wäre deshalb ein ziemlich radikaler Systemwechsel. Quasi ein Stundenlohn für Ärzte.

Der Vorschlag steht in einem grösseren Kontext. Gleichzeitig haben die drei Verbände am Donnerstag bekanntgegeben, dass sie ein gemeinsames Tarifbüro gründen. Dieses soll sich um die Kontrolle und die Weiterentwicklung der Pauschalen im ambulanten Bereich kümmern. Santésuisse und FMCH propagieren schon seit längerem solche Pauschalen für die gängigsten Operationen, etwa Meniskuseingriffe oder Behandlungen des grauen Stars: Die Operateure sollen dafür einen Fixbeitrag erhalten, unabhängig vom tatsächlichen Aufwand. Das soll kostendämpfend wirken, weil eine «kreative» Abrechnung der Leistungen erschwert wird.

Spitäler bekennen Farbe

Gesundheitsminister Alain Berset, der sich bereits früher wohlwollend über solche Pauschalen geäussert hat, prüft derzeit den Vorschlag von Santésuisse und FMCH. Diese können es als Erfolg verbuchen, dass sie nun auch vom Spitalverband Support erhalten. Die drei Partner gehen davon aus, dass sich mit – regional differenzierten – Pauschalen etwa 80 Prozent der in Arztpraxen oder Spitalambulatorien vorgenommenen Eingriffe abdecken lassen.

Doch es existieren eben auch die restlichen rund 20 Prozent der Operationen, vor allem seltene Eingriffe oder Revisionsoperationen. Daneben gibt es zahlreiche typische Leistungen wie Gespräche mit Patienten, Untersuchungen oder Nachkontrollen, die sich nicht pauschalieren lassen. Und in diesen Bereichen könnte der Zeittarif zum Einsatz kommen. Dabei braucht es laut dem Santésuisse-Sprecher Matthias Müller wohl regionale Abstufungen: Eine Ärztin im Zentrum von Genf benötigt höhere Vergütungen, um die Praxismiete oder die Löhne der Angestellten zu finanzieren, als ein Kollege im Toggenburg.

Etwas verkompliziert wird das Modell durch den Umstand, dass es zum Beispiel für den Einsatz von teuren Diagnosegeräten eine separate Abgeltung brauchte. «Aber auch dann wäre ein Zeittarif noch viel praktikabler als ein Einzelleistungstarif mit Tausenden verschiedenen Positionen», sagt Müller. Noch sind das Gedankenspiele und liegt kein ausgefeilter Vorschlag auf dem Tisch. Es geht laut Müller darum, in Ruhe den Tarif der Zukunft zu schaffen und dabei alle Möglichkeiten zu prüfen, um diesen fair und möglichst einfach auszugestalten. «Alle Partner im Gesundheitswesen sind eingeladen, im neuen Tarifbüro mitzuarbeiten.»

Chirurgen tanzen auf zwei Hochzeiten

Bemerkenswert ist, dass sich auch die FMCH einen solchen, zumindest teilweisen Systemwechsel zum «Stundenlohn» vorstellen kann. Denn der Chirurgenverband ist als Teil der Ärztevereinigung FMH auch an den Arbeiten am neuen Einzelleistungstarif namens Tardoc beteiligt, welche die FMH zusammen mit dem anderen Krankenkassenverband Curafutura vorantreibt. Und es ist klar, dass nicht sowohl der Tardoc wie auch ein Zeittarif im selben Bereich zur Anwendung kommen kann.

Der scheidende FMCH-Präsident Josef E. Brandenberg sagt, es sei gut, in Alternativen zu denken. «Wir sind völlig überzeugt, dass die Pauschalen kommen, die aber nicht das ganze Spektrum medizinischer Leistungen abdecken können.» Brandenberg kann sich vorstellen, dass einzelne medizinische Disziplinen für diesen nicht pauschalierbaren Bereich über einen Einzelleistungstarif abrechnen, andere über einen Zeittarif.

Grundsätzlich wenig von solchen Planspielen hält man beim Dachverband FMH. «Wir sind überzeugt vom Einzelleistungstarif, der in durchaus harten Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern zustande kommt», sagt die Sprecherin Charlotte Schweizer. Nicht ohne Grund sei der Einzelleistungstarif in allen mit der Schweiz vergleichbaren Gesundheitssystemen der Standard. «Eine Bezahlung pro Stunde mag nach einer einfachen Lösung aussehen, aber sie kann nie so differenziert, sachgerecht und der tatsächlich erbrachten Arbeit und den Behandlungen angemessen sein wie das heutige System.»

Ebenfalls kritisch sieht Schweizer die Pauschalen. Sie seien nur in einem kleinen Bereich der ambulanten Medizin anwendbar. Für den gesamten Bereich der Grundversorgung, so zum Beispiel für die Haus- oder Kinderärzte, seien Pauschalen untauglich. Zudem gebe es auch in einem System mit Pauschalen Fehlanreize: Wenn Ärztinnen und Ärzte unabhängig vom Gesundheitszustand ihrer Patienten für einen Eingriff oder eine Behandlung dieselbe Bezahlung erhalten, könnte der Eingriff bei älteren oder multimorbiden Patienten womöglich nicht mehr kostendeckend sein, während er bei Patienten mit gutem Gesundheitszustand allenfalls überbezahlt wäre. «So besteht mit ambulanten Pauschalen die Gefahr, dass mehrfachkranke Personen medizinisch unterversorgt sind, während gesündere Patienten überversorgt sind», mahnt Schweizer.