Pannen im Operationssaal und unbewilligte Versuche an Patienten – so stürzte ein Starchirurg

Knall auf Fall musste am Kantonsspital Aarau ein Spitzenmediziner gehen. Nun alarmieren Kaderärzte die Politik: Sie werfen der Spitalleitung Versagen vor und warnen vor hohen Schadenersatzklagen.

Simon Hehli, Erich Aschwanden 4 Kommentare 8 min
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Das Kantonsspital Aarau ist idyllisch gelegen, doch hinter den Kulissen liegt einiges im Argen.

Das Kantonsspital Aarau ist idyllisch gelegen, doch hinter den Kulissen liegt einiges im Argen.

Kantonsspital Aarau

Es war ein hässlicher Abgang. J. F. ist einer der renommiertesten Neurochirurgen der Schweiz. Doch im April dieses Jahres stellte das Kantonsspital Aarau (KSA) den Chefarzt des Neurozentrums unvermittelt frei. Über die Gründe der Trennung wurde Stillschweigen vereinbart. Einige Fachkollegen von F. reagierten empört auf den Rauswurf des Mediziners und appellierten an den Verwaltungsrat, die Kündigung rückgängig zu machen. Vergeblich.

Ein Erklärungsversuch der lokalen Medien bezog sich auf persönliche Differenzen und Kommunikationsschwierigkeiten zwischen F. und der KSA-Führungsriege. Doch wie Recherchen nun zeigen, steckt weit mehr hinter den Vorgängen, mit denen sich nun auch die Politik befasst. Kürzlich hatte der Risikomanager des KSA, Georg Sasse, einen Auftritt vor der Geschäftsprüfungskommission (GPK) des aargauischen Grossen Rats.

Die NZZ hat Kenntnis vom brisanten Inhalt der Unterlagen, welche die Politiker vorgelegt bekamen. Es geht um einen Konflikt von F. mit einem ehemaligen Mitarbeiter. Aber auch um umstrittene Behandlungsmethoden – und um daraus folgende potenzielle Entschädigungsforderungen in exorbitanter Höhe. Am Mittwoch kündigte das Aargauer Departement für Gesundheit und Soziales deshalb eine Untersuchung an, basierend auf einer Aufsichtsanzeige zweier ehemaliger KSA-Kaderärzte.

Millionenklagen drohen

Im Mai berichtete die «Aargauer Zeitung» von der Klage einer Patientin, die 2013 von F. behandelt worden war. Die Frau wirft dem Neurochirurgen unter anderem vor, bei der Operation eine experimentelle Technik angewandt zu haben, ohne sie darüber aufzuklären oder ihre erforderliche Einwilligung eingeholt zu haben. Die Frau fühlt sich deshalb als Versuchskaninchen missbraucht. Ihr Parteigutachter, ein renommierter Neurochirurg, taxierte den Einsatz der von F. eingesetzten Farbtechnik als unnötig und unangebracht.

Dieser eine Fall ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs: F. hat seit 2007 auch bei rund 1800 anderen Patienten das Mittel 5-ALA verwendet. Gemäss Berechnungen des Risikomanagers Sasse drohen dem KSA deshalb Klagen in der Höhe von Dutzenden Millionen Franken. Dies, falls auch nur ein Teil der mithilfe des Kontrastmittels behandelten Patienten prozessiert.

5-ALA ist ein Fluoreszenzmittel, das Krebsgewebe vom umliegenden Gewebe unterscheidbar machen soll. Dadurch erhöhen sich die Chancen, dass ein Chirurg bei der Operation den ganzen Tumor entfernen kann. Tumorreste, die im Hirn verbleiben, verschlechtern die Prognose eines Patienten markant. Deshalb nutzen viele Mediziner 5-ALA, das kaum Nebenwirkungen hat, zum Beispiel auch am Berner Inselspital – jedoch einzig bei höchstgradig bösartigen Hirntumoren (Glioblastom). Andreas Raabe, der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Neurochirurgie, betont: «5-ALA ist nur für Glioblastome sinnvoll. Nicht für den Rest, weil es bei gutartigen Tumoren nur bestimmte Anteile sichtbar machen kann – wenn überhaupt.»

F. hat das Mittel trotzdem mehr als zehn Jahre lang routinemässig auch bei gutartigen Tumoren verwendet, wie er gegenüber der NZZ bestätigt, und die Erkenntnisse seiner Forschung veröffentlicht. Doch damit nicht genug: F. fehlte für eine solche Studie die Bewilligung. Swissmedic, die Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte, hat 5-ALA für Tumorbehandlungen nicht zugelassen. In einem solchen Fall müsste eine Bewilligung der Ethikkommission vorliegen, wenn ein Arzt ein Arzneimittel dennoch experimentell verwenden möchte. Doch das ist in Sachen 5-ALA nicht der Fall.

Studie oder doch nicht?

F. und das KSA stellen sich auf den Standpunkt, es habe nie eine eigentliche Studie gegeben, deshalb habe es auch keine Bewilligung gebraucht. Doch F. schreibt in dem 2014 zusammen mit Kollegen veröffentlichten Paper selbst Dutzende Male von einer «study». Ebenso gravierend: F. soll auch in weiteren Fällen keine Einwilligung der Patienten für den Einsatz von 5-ALA eingeholt haben. Dies berichtete der Risikomanager Sasse bei seiner Präsentation in der Aargauer Geschäftsprüfungskommission.

Andreas Huber spricht deshalb von «unethischen, allenfalls kriminellen Aktivitäten»* von F. Und Huber ist nicht irgendwer: Er war einst Leiter des Institutes für Labormedizin am KSA und stellvertretender CEO des Spitals. Patienten von F. mit gutartigen Tumoren könnten unnötige therapeutische Prozeduren an ihrem Körper geltend machen, weil der Einsatz von 5-ALA nicht indiziert gewesen sei, gibt Huber zu bedenken.

Es gibt noch weitere Fragezeichen hinter der wissenschaftlichen Arbeit von F. Umstritten war eine Studie über ein Gerät, das über das Auge den Hirndruck messen soll. Kritiker halten dieses Gerät für wenig verlässlich. Trotz solchen Bedenken führte F. die Studie durch. Dies an Patienten, die im Koma lagen – und entsprechend keine Einwilligung zu den Versuchen geben konnten.

Das Team von F. klärte nicht ab, ob die Versuchsteilnehmer ein Glaukom (grüner Star) hatten. Wenn eine solche Beeinträchtigung des Sehnervs besteht, hat der Einsatz des Messgerätes laut Experten unter Umständen fatale Folgen: Es erhöht den Druck im Auge so stark, dass der Sehnerv irreparablen Schaden nehmen und der Patient erblinden kann. Von diesem Risiko haben auch die Angehörigen offensichtlich nichts erfahren. F. entgegnet, es gebe keine wissenschaftliche Evidenz, dass die Messmethode zu Erblindung führen könne.

Die schützende Hand des CEO

Doch die Affäre hat ohnehin eine Dimension, die weit über die Person F. hinausgeht. Gemäss Informationen der NZZ hat der Risikomanager Sasse mehrmals beim KSA-CEO Robert Rhiner interveniert und ihn auf mögliche Haftpflichtfälle hingewiesen. Die Spitalleitung habe diese Warnungen jedoch stets abgeblockt und F. den Rücken gestärkt. Kritiker seien zum Schweigen gebracht worden, erklären mehrere mit den internen Abläufen vertraute Personen übereinstimmend.

Die GPK ist im Bilde über einen konkreten Vorfall aus dem Jahr 2019, in dem F. auch als Operateur einen Fehler begangen hat und dem der CEO Rhiner nicht nachgegangen sein soll. Gemäss dem Protokoll einer Teamsitzung erklärte der Chirurg explizit, er habe bei einem Patienten die falsche Schädelseite geöffnet (kraniotomiert). Offenbar waren bereits die Angaben im OP-Managementsystem nicht korrekt, was niemandem aufgefallen ist.

Solche Fehler, so unschön sie sind, passieren in jedem Spital. Doch der Verdacht steht im Raum, dass F. den Vorfall unter den Teppich kehren wollte. Denn entgegen der Ankündigung an der Teamsitzung hat er die Verwechslung nicht von sich aus dem Risikomanager des Spitals gemeldet. Dieser erfuhr erst durch einen Whistleblower davon. F. sagt heute, die Operation sei komplikationslos verlaufen und man habe bereits von Beginn weg eine beidseitige Schädelöffnung geplant – ein eklatanter Widerspruch zu seinen protokollierten Aussagen in der Teamsitzung.

Fragwürdiger Führungsstil

Es ging bei den Beschwerden aber nicht nur um die 5-ALA-Problematik und die verpfuschte Operation, sondern auch um den Führungsstil von F. Verschiedene von der NZZ befragte Mitarbeitende bezeichnen den Neurochirurgen als hochprofessionellen Arzt, der auf seiner Abteilung viel Gutes bewirkt habe. Doch niemand habe seine Autorität infrage stellen dürfen. Wer es trotzdem wagte, den habe F. zusammengestaucht – zuweilen auch in einem Telefonat in der Freizeit. Das KSA hält fest, es habe «keine aussergewöhnlichen» Spannungen zwischen dem Spitzenmediziner und seinen Mitarbeitern gegeben.

Zur Kritik, dass F. einen übermässigen Schutz genossen habe, würde passen, dass er laut Insidern zwei Verwarnungen bekam, dies aber keine Konsequenzen für ihn hatte. Das KSA will dazu keine Stellung nehmen, F. selbst spricht von «Ermahnungen». Gemäss Huber gab und gibt es am KSA jedoch keinen Unterschied zwischen Verwarnung und Ermahnung.

Kollegen beschreiben F. als «hoch narzisstisch». Bezeichnend dafür ist die Angelegenheit, die zur ersten Warnung an den Chirurgen führte. 2015 sagte er in einem Interview, das KSA habe in der Neurochirurgie die Universitätsspitäler in Bern (Insel) und Zürich (USZ) überholt und sei das führende Haus im Land.

Auf die explizite Nachfrage der Journalisten, ob in Aarau wirklich mehr Personen am Hirn operiert würden als am Inselspital und am USZ, antwortete er: «Ja, aber das wissen nur wenige Leute.» Die Behauptung von F. war jedoch nachweislich falsch. Während 2013 die Ärzte in Bern und Zürich jeweils rund 800-mal eine Hirn-OP durchführten, kamen die Aarauer Kollegen «nur» auf 450 Eingriffe.

«Cash-Cow» des Spitals

Wieso konnte sich F. trotz verschiedenen Vorkommnissen so lange halten? Der Ex-Vize-CEO Huber erklärt sich dies unter anderem damit, dass der Chirurg mit seinem Neurozentrum eine veritable «Cash-Cow» für das KSA gewesen sei. Einen solchen Konnex dementiert das Spital jedoch. Dass F. in diesem Frühjahr doch den Hut nehmen musste, dürfte mit seiner Rolle in einer anderen Affäre zusammenhängen, über die bereits die «Aargauer Zeitung» berichtet hat und die auch Thema in der GPK war.

Ein ehemaliger Mitarbeiter von F. hatte am KSA, kurz vor seinem Wechsel an ein anderes Spital, eine Hirn-OP durchgeführt, bei der es zu gravierenden Komplikationen kam. Der Patient ist seither ein Pflegefall, in einem potenziellen Haftpflichtverfahren würde es um sehr viel gehen – die potenzielle Schadenssumme beträgt rund fünf Millionen Franken. Dennoch stellte sich F. auf die Seite des Patienten und damit gegen seinen Ex-Kollegen, dem er unter anderem vorwirft, er habe zum falschen Zeitpunkt und mit einer falschen Technik operiert.

Damit schwächte er die Position seines Arbeitgebers empfindlich, zumal auch die Haftpflichtversicherung ihre Leistungspflicht unter diesen Umständen infrage stellte. Es erscheint deshalb naheliegend, dass die Spitalleitung das Verhalten von F. als Illoyalität auffasste und sich gezwungen sah, sich von ihm zu trennen. Das Spital dementiert einen solchen Zusammenhang mit der Freistellung.

Offenkundig liegt am KSA, mit seinen über 4600 Mitarbeitenden eines der grössten Spitäler des Landes, einiges im Argen. Laut dem Insider Andreas Huber ist die operative Spitalleitung, von der er selber lange Zeit Teil war, für die Missstände mitverantwortlich, sie habe dem Treiben während Jahren tatenlos zugesehen.

Versagen der politischen Führung`?

Huber hinterfragt aber auch die Rolle, die der Verwaltungsrat des KSA spielt. Es bestehe allenfalls ein «massives Corporate-Governance-Problem». Denn gleich mehrere VR-Mitglieder hätten Interessenkonflikte, weil sie mit ihren eigenen Firmen Geschäfte mit dem Spital tätigen würden. Der Vizepräsident Felix Schönle beispielsweise ist CEO des Unternehmens Wernli. Dieses stellt Verbandsstoffe her, die auch im KSA Verwendung finden. Die KSA-Sprecherin Isabelle Wenzinger kontert: «Wernli AG vertreibt ihre Produkte wie in der Branche üblich über Händler und tritt nicht direkt mit den Endbezügern in Kontakt.»

Keine glückliche Figur macht in der ganzen Affäre zudem die politische Führung. Das Departement Gesundheit und Soziales und das Departement Finanzen und Ressourcen wären für die Kontrolle des KSA zuständig, das zu hundert Prozent im Besitz des Kantons ist. Doch die beiden früheren Gesundheitsdirektorinnen Susanne Hochuli (Grüne, 2009 bis 2016) und Franziska Roth (SVP, 2017 bis 2019) und ihre Kollegen aus dem Finanzdepartement hielten es offenkundig nicht für nötig zu intervenieren. Es wartet einige Arbeit auf Roths Nachfolger Jean-Pierre Gallati.

* Nachtrag vom 21.09.2023: Die Aussage mit den «unethischen, allenfalls kriminellen Aktivitäten»» von Herrn Huber ist zur Zeit Gegenstand eines laufenden Strafverfahren. Über dessen Ablauf und Ausgang wird zu gegebener Zeit berichtet.

Chefärzte haben zu viel abgerechnet – Politik untersucht Honorar-Manipulationen

Schon bevor der Fall J. F. für Aufregung sorgte, standen die beiden Kantonsspitäler im Kanton Aargau negativ in den Schlagzeilen. Im Frühjahr 2018 deckte die «Aargauer Zeitung» zwei Fälle von Honorar-Manipulationen im grossen Stil auf. Der Chefarzt Angiologie am Kantonsspital Aarau (KSA) hatte in Hunderten von Fällen Leistungen falsch erfasst. Ein Gutachten kam zum Schluss, dass sein Name über 500-mal auf Rechnungen stand, obwohl er laut Dienstplan gar nicht anwesend war. Die Spitalleitung löste das Arbeitsverhältnis auf. Der Mediziner musste 6000 Franken zurückzahlen. Am Kantonsspital Baden (KSB) war es ein Chefarzt des Bereichs Orthopädie, der bei den Honorarabrechnungen unkorrekt vorging. Er musste 45 000 Franken zurückzahlen. Der fehlbare Arzt ist weiterhin am KSB tätig, da die Spitalleitung ihm keine böse Absicht unterstellt. Brisant: Auf die möglichen Missstände hingewiesen hatte 2018 in einem politischen Vorstoss der damalige SVP-Fraktionspräsident im Kantonsparlament und heutige Aargauer Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati. Die beiden Honorar-Affären riefen die Politik auf den Plan. Zurzeit untersucht die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Aargauer Grossen Rats die beiden Fälle. Im Rahmen dieser Untersuchung wurde die GPK über die dem KSA drohenden Haftpflichtfälle orientiert. Wie der GPK-Präsident Marco Hardmeier vor kurzem gegenüber der «Aargauer Zeitung» erklärte, will die Kommission keine Einzelfälle untersuchen, sondern abklären, ob das System der Honorarabrechnungen an sich fehleranfällig ist. Angesichts der neusten Entwicklungen im Kantonsspital Aarau dürften dies nicht die letzten Untersuchungen der GPK gewesen sein.

4 Kommentare
Andreas Kaiser

Es gibt keine “Star”Chirurgen, genau so wenig wie es Traumpaare gibt. Eigenartig eine solche unsachliche Sprache in der NZZ zu finden. Ich bin selbst an der Spitze eines Spezialfaches, würde mich aber nie als Star sehen. Jeder ist nur ein kleines Rädchen in einer größeren Evolution eines Fachgebietes. Einer meiner ausschlaggebenden Mentoren, der u.a. den dannzumaligen US Präsidenten operierte, war damals top, würde heute aber nicht mehr bestehen können. In dem Sinne geht es problemlos weiter, wenn ein Spieler ersetzt wird - insbesondere wenn sich dieser nicht an die Regeln halten zu müssen glaubt.

Philippe Lüthy

Ein Verwaltungsrat eines Spitals sollte unabhängig sein. Dabei soll der Anteil Ärzte unter 50% liegen. Am Ende geht es um die Führung eines Unternehmens und nicht um ein Selbstbedienungsladen für Chefärzte.....