Wer in Grossbritannien krank wird, braucht Nerven. Die Wartezeiten sind lang. Und kein Land Europas verzeichnet mehr Corona-Tote. Dennoch: Auf ihr Gesundheitssystem lassen die Briten nichts kommen

Heiss geliebt, trotz allen Schwächen – der National Health Service.

Marion Löhndorf
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In der Corona-Krise sind sie die Superhelden der Nation: ein Graffito zu Ehren der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des National Health Service.

In der Corona-Krise sind sie die Superhelden der Nation: ein Graffito zu Ehren der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des National Health Service.

Isabel Infantes / Imago

Manche Liebesgeschichten sind für Aussenstehende nicht leicht zu verstehen. Die Liebe der Briten zu ihrem Gesundheitssystem ist eine davon. Regelmässig und oft berichten die Fernsehsender über schwerwiegende Fehler in örtlichen Krankenhäusern, die einem den Atem stocken lassen. Nirgendwo in Europa starben so viele Menschen an Covid-19 wie in Grossbritannien. Selbst die zuerst am schlimmsten betroffenen Länder Italien und Spanien überholte Grossbritannien mit den traurigen Statistiken seiner Todesopfer.

Trotzdem applaudierten die Menschen im Lockdown jeden Donnerstagabend um acht ihrem National Health Service (NHS) inbrünstig. Trotzdem malten Tausende von Kindern den Kämpfern an der Covid-Front Regenbogen und hängten sie zum Zeichen der Solidarität und Unterstützung in die Fenster. Auf den Satz «Thank you, NHS», der sogar auf Fahnen über der Oxford Street prangt, kann sich die vom Brexit zerrissene und durch die Pandemie gebeutelte Nation einigen wie sonst nur auf die Queen.

Die im Gesundheitssystem Beschäftigten werden verehrt wie Schutzheilige. In Ländern wie Deutschland und der Schweiz, die in der Pandemie weniger Opfer zu beklagen hatten, wurden Ärzte und Pflegepersonal nicht im selben Masse bejubelt.

Stars bedanken sich

In der Bücher-Bestenliste der «Sunday Times» liegt ein gerade erschienener Band ganz weit vorn, «Dear NHS: 100 Stories to Say Thank You». Darin erzählen britische Berühmtheiten aus vielen Sparten der Kreativindustrie von ihren Erfahrungen mit dem NHS – das Spektrum reicht von Paul McCartney, dessen Mutter Krankenschwester war, bis zum Reiseschriftsteller Bill Bryson, von der Schauspielerin Emma Thompson bis zu Erfolgsautoren wie Nick Hornby oder Irvine Welsh, vom Rapper Professor Green bis zum Allround-Talent Stephen Fry.

Wo Stars dem NHS Reverenz erweisen, will auch dieser Landwirt in Hampshire nicht zurückstehen.

Wo Stars dem NHS Reverenz erweisen, will auch dieser Landwirt in Hampshire nicht zurückstehen.

Matthew Childs / Reuters

Fast alle der sehr persönlichen Geschichten führen in die Krankenhäuser des Landes. Niemand berichtet lediglich über einen schnöden Arztbesuch, und nur einige wenige beschränken sich auf kurze, aber herzliche Dankesworte. Da ist von langen Irrwegen am Weihnachtstag und dem Verlust eines Fingers die Rede, vom Sterben von Vater, Mutter oder Schwester, vom eigenen, nur knappen Überleben nach einem Raubüberfall oder einem Krankenhausaufenthalt, der zum Befreiungsmoment wird, weil sich dabei jenseits der familiären Enge plötzlich andere Welten auftun.

Das macht das Buch weit über seinen Anlass hinaus lesenswert. In diesen bekenntnishaften, eindringlichen Geschichten geht es um Leben und Tod, also um alles. Sie könnten auch andernorts auf der Welt passieren – wenn sie nicht auch immer den innigen Dank an den National Health Service enthielten und wenn nicht so oft vom sehr britischen Humor unter widrigen Umständen die Rede wäre.

Besitzerstolz

Die Liebe der Briten zu ihrem NHS begann mit seiner Gründung durch die Labour-Partei unter Clement Attlee im Jahr 1948. Damals wurden alle Briten informiert, dass sie von nun an freien Zugang zu Ärzten und Spitälern haben würden, abhängig von ihren jeweiligen Bedürfnissen, doch unabhängig vom Einkommen. Und so ist es, im Grossen und Ganzen, bis heute geblieben.

Grossbritannien ist vom Bewusstsein erfüllt, weltweit die erste Nation gewesen zu sein, die ein direkt aus Steuergeldern finanziertes Gesundheitswesen besass – so wie auch die spezielle Liebe zum Fussball auf der Insel zum Teil daher rührt, dass sich das Land als Erfinder des Spiels begreift. Inzwischen lässt speziell die Qualität der englischen Nationalmannschaft zu wünschen übrig, doch das tut der tief empfundenen, an Besitzerstolz grenzenden Begeisterung für das Spiel keinen Abbruch.

So ähnlich verhält es sich auch mit dem NHS, der in den Augen der Briten besser aussieht, als er in Wirklichkeit ist: Bei seiner Entstehung stand er ohne Vergleich da, das schuf ein Hochgefühl der Einzigartigkeit, an dem man offenbar immer noch festhält. Mittlerweile aber ächzt das unterfinanzierte Gesundheitssystem, dessen Mängel an allen Ecken und Enden spürbar sind. Zwar gibt es auch Kritik daran. Doch wer in Grossbritannien aufgewachsen ist, hält die Schwächen des NHS – etwa die langen Wartezeiten für Operationen oder einfache Arzttermine – für das Selbstverständlichste der Welt.

Auch weniger versierte Künstler greifen in diesen Tagen zu Pinsel und Farbe; der Besitzer eines Pubs in Scisset stellte grosszügig seine ganze Fassade zur Verfügung.

Auch weniger versierte Künstler greifen in diesen Tagen zu Pinsel und Farbe; der Besitzer eines Pubs in Scisset stellte grosszügig seine ganze Fassade zur Verfügung.

Molly Darlington / Reuters

Selektiv beim Vergleichen

Den NHS zu verehren, hat Tradition und ist so etwas wie patriotische Ehrensache. Die Liebe zur Tradition ist tief ins britische Bewusstsein eingeschrieben, und anders als beim Fussball ist im Falle des Gesundheitswesens auch der internationale Vergleich weniger augenfällig. Zudem war der Rest von Europa noch nie der liebste Bezugspunkt Grossbritanniens.

So ignoriert das Land die Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung auf dem Kontinent ebenso breit zugänglich ist und oft besser funktioniert als auf der Insel. Viel eher schauen die Briten auf die Gesundheitspolitik der Vereinigten Staaten und schätzen sich angesichts der dortigen Lage glücklich.

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