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Gericht lehnt Verlegung von Wittekindshofbewohner in Gerichtspsychiatrie ab

11.762 Eingriffe in die Freiheit eines einzigen Patienten

Bad Oeynhausen

Das Landgericht Bielefeld hat es am Dienstag nach einem mehrtägigen Prozess abgelehnt, einen zu Gewalt neigenden Bewohner des Wittekindshofs Bad Oeynhausen in die Gerichtspsychiatrie nach Münster zu verlegen. Die Gewalt des Mannes sieht das Gericht zum Teil auch im Verhalten einzelner Wittekindshof-Mitarbeiter begründet.

Christian Althoff

Das Landgericht Bielefeld wies den Antrag der Staatsanwaltschaft ab, einen geistig Behinderten in der Gerichtspsychiatrie unterzubringen.
Das Landgericht Bielefeld wies den Antrag der Staatsanwaltschaft ab, einen geistig Behinderten in der Gerichtspsychiatrie unterzubringen. Foto: Althoff

Der Vorsitzende Richter Kai Niesten-Dietrich sagte in der Urteilsbegründung, auch wenn Pflegepersonal wegen eines überdurchschnittlich schwierigen Menschen entmutigt sei, könne das nicht dazu führen, dass man den Menschen strafrechtlich unterbringe.

Marcel W. (24) lebt seit seinem vierten Lebensjahr in Heimen. 2010 kam er in den Wittekindshof – erst ins Schülerdorf, später in die Heilpädagogische Intensivbetreuung (HPI), die zum Geschäftsbereich 4 gehörte. Dort soll es über Jahre zu Gesetzesverstößen durch Mitarbeiter gekommen sein. Bewohner sollen ohne richterliche Anordnung gefesselt und eingesperrt worden sein, auch CS-Gas sollen Pflegekräfte gegen sie benutzt haben.

Zwei Wachleute

Nach Angaben des Gerichts leidet Marcel W. an Epilepsie. Er ist intelligenzgemindert und reagiert bei Erregung aggressiv – er versucht dann zu treten, zu schlagen, zu spucken, zerstört Mobiliar und beleidigt Pflegekräfte. Medikamentös gilt er als austherapiert, zwei Wachleute sind zum Schutz der Pflegekräfte engagiert. Marcel W. lebt in einem Raum, in dem nur noch sein Bett steht. Richterliche Beschlüsse erlaubten der Einrichtung, W. „bei extremer Unruhe“ zeitweise zu fesseln oder seine Zimmertür für höchstens zwei Stunden abzuschließen.

Anzeige erstattet

Die Staatsanwaltschaft wollte den Mann wegen Bedrohung, Beleidigung und versuchter gefährlicher Körperverletzung in der Gerichtspsychiatrie unterbringen. Es ging um eine Tat am 2. Dezember 2019. Weil Marcel W. stark erregt gewesen sei, sei er morgens auf einer Matratze fixiert worden, sagte der Richter. Als er wieder frei gewesen sei, habe er versucht, nach einer Pflegerin zu greifen und zu treten. Später habe er seinen Medikamentenbecher zerbrochen und versucht, mit einer Plastikscherbe durch die Luke in der Zimmertür nach dem Hals einer Pflegerin zu stechen. Daraufhin war er angezeigt worden.

Der Vorsitzende Richter sagte, Marcel W. sei vermindert schuldfähig, vielleicht sogar schuldunfähig. Deshalb könne er nicht verurteilt werden. Und eine Unterbringung in der Gerichtspsychiatrie scheide aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aus. „Eine Unterbringung ist ein ganz erheblicher Eingriff in die Rechte eines Menschen und nur erlaubt, wenn von dem Betroffenen erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, bei denen Opfer erheblich geschädigt werden.“ Diese Gefahr sehe die Kammer nicht. Der Bundesgerichtshof habe klargestellt, dass ein Verhalten, das jemand in einer Einrichtung zeige, nicht mit einer Handlung gleichgesetzt werden dürfe, die jemand draußen begehe. Im vorliegenden Fall hätten sich aber alle Angriffe nur gegen Mitarbeiter gerichtet, die für den Umgang damit ausgebildet seien. Kai Niesten-Dietrich sagte, die Kammer gehe davon aus, dass W. auch in Zukunft versuchen werde, zu treten, zu schlagen und zu spucken. „Das ist eben bei manchen geistig Behinderten so.“

„Konflikte erzeugt“

Der Vorsitzende Richter sagte weiter, es liege nahe, dass im Wittekindshof Konflikte erzeugt worden seien, die die Aggressivität des Mannes verstärkt hätten. So weise die Dokumentation der Einrichtung aus, dass es in den fünf Jahren zwischen 2014 und 2019 insgesamt 11.762 freiheitsentziehende Maßnahmen gegeben habe – vom Festschnallen auf einer Matratze über das Einsperren in einem sogenannten „Time-Out-Raum“ bis zum Abschließen der Gruppenraumtür.

11.762 freiheitsbeschränkende Eingriffe in fünf Jahren – das sind im Durchschnitt mehr als sechs pro Tag. Diese Maßnahmen seien zum Teil schon „bei geringen Anlässen“ ergriffen worden, sagte der Richter. Er wies außerdem auf eine Misshandlung hin, die Marcel W. erst jüngst erfahren hatte. „Er wurde nachts von einem Pfleger nackt ins Freie gezogen. Als er den Pfleger deshalb beschimpfte und versuchte, ihn anzuspucken, hat der ihm mehrfach in den Oberkörper geschlagen und auf ihn eingetreten, nachdem er zu Boden gegangen war.“ Marcel W. habe dabei Blutergüsse erlitten.

Gegen den Pfleger ermittelt seit Ende November die Kripo Bad Oeynhausen.

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