Die elektronische Patientenakte – Technostress im Krankenhaus?

Desktop Medicine

Autoren: Matthias Weigl, Helena Kaltenegger & Dennis Nowak

Haben Sie schon mal von der „Desktop Medicine“ gehört? Ärzt*innen im Krankenhaus verbringen heutzutage ähnlich viel Arbeitszeit vor dem Computer wie im direkten Kontakt mit Patient*innen.

Die Patientenversorgung in Krankenhaus und Arztpraxis ist ein faszinierendes Anschauungsbeispiel für die Rolle von analogen und digitalen Technologien im Arbeitsalltag. Wie auch für die damit einhergehenden, fundamentalen Veränderungen in der Arbeit. Das mehrheitliche Verschwinden von großen Papierdokumenten, voluminösen Patienten-Unterlagen oder Stapeln von Befunden und Formularen ist nur eine Beobachtung unter vielen in Arztpraxis oder Krankenhaus.

In diesem Feld der digitalisierten bzw. sich digitalisierenden Medizin hat im vergangenen Jahrzehnt wohl kaum eine technische Innovation so viel Veränderung und Unruhe gebracht wie die Elektronische Patientenakte (im Deutschen meist abgekürzt mit EPA, im Englischen werden diese Systeme häufig unter Electronic Health Records subsumiert, EHR). 

Was ist die Elektronische Patientenakte? In aller Kürze: Kern dieser technischen Systeme ist die digitalisierte Dokumentation des Status der Patienten sowie des Behandlungsgeschehens. Diese computerbasierte Sammlung aller wichtigen Informationen zu den Patienten können von mehreren behandelnden Ärztinnen und Ärzten oder Pflegekräften für die tägliche Versorgung genutzt werden und es können weitergehende Anforderungen direkt im System gemacht werden (bspw. die Anordnung einer ausstehenden Untersuchung oder die Änderung einer Medikation).  

Vor- und Nachteile digitaler Patientenakten

Geht es um die sich ändernde Arbeitspraxis für das Gesundheitspersonal, sind die Vorteile augenscheinlich. Nur die Nachteile sind es auch:

An Vorteilen im Klinikalltag werden Zugänglichkeit, Umfänglichkeit, Sicherheit, Vollständigkeit und Struktur genannt. Alleinig das Suchen nach einer Patientenakte auf der Station, auf den Schreibtischen der Oberärzt*innen oder im Sekretariat gehört der Vergangenheit an. Einträge sind automatisch prüfbar und leserlich. Und die Dokumentationen werden einsehbar – für Patienten aber auch für Dritte. Von zukünftigen Möglichkeiten bezüglich Big-Data Anwendungen oder maschinellen Lernens wie automatischer Auswertungen für Risiken im Behandlungsprozess oder Arzneimittelinteraktionen noch gar nicht zu sprechen.

Benannte Nachteile sind: Ärzt*innen verbringen viel Zeit vor dem Bildschirm. Sie tippen und scrollen nach Informationen während sie im Patientengespräch sind. In der Dokumentation kämpfen sie mit schlecht gestalteten Software-Menüs, unzähligen Hinweisen auf der Suche nach gewünschten Menüpunkten für Anordnungen oder Prozeduren. Sie versuchen aus einer Vielzahl von gleichzeitigen Informationen die wichtigsten zu entnehmen. Ein beträchtlicher Anteil ärztlicher Arbeitszeit findet in Schreib- und Dokumentationstätigkeit vor dem Bildschirm statt – selbst in der Akutversorgung (Sinsky et al., 2020; Weigl et al., 2020). Am Patientenbett liegt nicht mehr die Kladde mit den Kurven, jetzt schieben Pflegekräfte eine Laptop-Workstation vor sich her, auf der Suche nach einem ruhigen, ungestörten Ort für Dokumentation mit gleichzeitig stabilem WLAN.

Was sind die Effekte für den Stress des Personals?

In der wissenschaftlichen Literatur zur Einführung der elektronischen Patientenakte ist vielfach beschrieben worden, welches Stresspotential mit dieser Technologie für das Klinikpersonal einhergeht. In der angloamerikanischen Literatur wird der markante Anstieg von Burnout bei Krankenhausärzt*innen wiederholt auch mit der Einführung und Interaktion mit der Elektronischen Patientenakte begründet (Downing et al., 2018; Reith, 2018; Shanafelt, et al. 2017). Schlecht gestaltete Lösungen der elektronischen Patientendokumentation mit mangelnder Berücksichtigung von Arbeitsprozessen lösen Stress aus, sind mit Burnout assoziiert und sorgen für Unzufriedenheit (Downing et al., 2018; Kroth et al. 2019).

Zur unserer Frage wie durch Digitalisierung Stress entsteht, ist die Einführung der elektronischen Dokumentation im medizinischen Alltag fast ein prototypisches Beispiel für beobachtbaren Technostress (Ragu-Nathan, et al., 2008).

Nur was ist nun die Lektion für uns? Dies ist schwierig zu konstatieren. Zumal das Thema komplex ist, die Entwicklung nicht abgeschlossen und manche der Wirkungen noch gar nicht absehbar sind. Vielleicht sind es in erster Betrachtung diese drei Lektionen:

  • Die Elektronische Patientenakte ist ein illustratives Beispiel für die Rolle von digitalen Technologien, die die Arbeitspraxis nachhaltig ändern und mithin auch Quelle von Arbeitsstress sein können.
  • Die Einführung Elektronischer Patientenakten ist in der Forschung mit positiven und aber auch negativen Veränderungen assoziiert. Beispielsweise, dass computerbasierte Dokumentation die ärztliche Kommunikation mit den Patienten strukturierter und zielführender macht, gleichzeitig aber direkten Sichtkontakt und emotionale Zuwendung beeinträchtigen kann (Kazmi, 2014). Wenn Ärzte gleichzeitig jedoch mit mehr bürokratischen und administrativen Aufgaben belegt werden, dann werden erwartete Positiveffekte konterkariert (Downing et al., 2018).
  • Die Elektronische Patientenakte ist eine technische Lösung mitsamt vielfältigen Veränderungen in einem komplexen soziotechnischen System – das sich im Gesundheitswesen zudem durch eine immense Vielfalt regulativer Anforderungen auszeichnet (Downing et al., 2018). Daher sollten gleichfalls auch andere Stress-Faktoren nicht außer Acht gelassen werden; wie beispielsweise die schiere Arbeitsmenge in der Patientenversorgung. Aber auch Möglichkeiten der Einflussnahme, wie Mitsprache bei Gestaltung der Softwaremenüs oder bei Anpassung der in der Software abgebildeten Versorgungsschritte (‚Workflows‘) an die tatsächlichen Abläufe im eigenen Krankenhaus (Kroth et al. 2019).

Gut gestaltete Systeme der elektronischen Patientendokumentation, die an die lokale Versorgungspraxis angepasst sind, müssen längerfristig nicht mit mehr Unzufriedenheit oder Stress einhergehen. Unterstützend und maßgeblich sind hier eben auch Einführungen mit Trainings, Möglichkeiten des Übens und der Einflussnahme auf die Ausgestaltung der Systeme an die tagtäglichen Aufgaben der klinischen Versorgung (Robinson & Kersey, 2018, Shah, et al., 2020).

Gängige Irrtümer bei der Einführung

Zur Einführung digitaler Technologien im Gesundheitswesen (insbesondere wenn es um sogenannte health information technologies – HIT – geht) haben Bentzi Karsh, Bob Wears und Kollegen bereits vor Längerem die populärsten zwölf Irrtümer oder Trugschlüsse zusammengetragen (Karsh et al., 2010; deutsche Übersetzungen unten durch uns). Hierzu zählen sie folgende problematischen Annahmen:

  • „Risk free“: Mit HIT einhergehende Sicherheitsrisiken sind gering und leicht zu managen.
  • „Not a device“: Leicht zu entwickeln und zu implementieren, ohne Bedarf an regulatorischer Aufsicht.
  • „Bad apple“: Wenn HIT „inkorrekt“ bedient werden oder Fehler entstehen, dann ist der/die Endnutzer_in in der Klinik schuld.
  • „Learned intermediary“: Mögliche Risiken werden dadurch reduziert, dass ein_e erfahrene_r Kliniker_in Schaden für Patienten verhindert, sodass die Entwickler nicht verantwortlich sind.
  • „Use equals success“: Wenn HIT genutzt werden, dann ist es auch gut nutzbar.
  • „Messy desk“: Klinische Arbeit ist zu verworren, deshalb sollten die technischen Systeme diese soweit rationalisieren, dass sie handhabbar und linear ist.
  • „Father knows best“: Die Systeme sind von Verwaltungen entwickelt, um die ihnen wichtigen Ziele zu erreichen, die Endnutzer sollten gnädig mit ihren Aufgaben und Prozessen darin zurechtkommen.
  • „Field of dreams“: Wenn die Systeme an die klinischen Endnutzer ausgeliefert sind, werden sie diese freudig so nutzen, wie die Entwickler sich das gedacht haben.
  •  „Sit-stay (truth)“: Die Systeme tun nur das, was ihre (menschlichen) Entwickler ihnen gesagt haben zu tun.
  • „One size fits all“: Ein System kann entwickelt und eingesetzt werden, das für alle Endnutzer die optimale Unterstützung bietet.
  • „Computerized means paperless“: Durch das System werden die Endnutzer kein Papier mehr nutzen.
  • „Healthcare is special“: Das Gesundheitswesen ist so einzigartig, weder Experten anderer Industrien noch außerhalb der Medizin können da aushelfen.

Diese Liste ist unverändert aktuell und ist sogar erweitert worden – auch zur Elektronischen Patientenakte (siehe Abbott & Weinger, 2020) wie: „Discrete data are king“ – Enthaltene Informationen in Elektronischen Patientenakte sind korrekt und werden richtig genutzt; oder der „Not my circus, not my monkeys“ Trugschluss – die Verantwortung für sichere und nutzerfreundliche elektronische Patientenakten hat irgendjemand anderes, was zu Schuldzuweisungen, Verweigerung, Verzögerung und Unterlassung, die systemische Natur des Problems anzugehen, führt.

Bleibende Herausforderungen

Die Herausforderungen für einen nutzerfreundlichen Einsatz digitalisierter Technologien und klinischer Unterstützungssysteme im Krankenhaus bleiben unverändert (Abbot & Weinger, 2020; Gimpl et al., 2018; Ragu-Nathan et al, 2008). Es sind vor allem:

(1) Die Anwendung sogenannter Nutzer-zentrierter Entwicklungsprozesse (User-Centred Design und Human-Factors-Prinzipien), um die klinischen Arbeitsprozesse zu verstehen;

(2) die Abkehr von einer Patientendokumentation, die nur administrativen, abrechnungs- und regulativen Zwecken dient, sondern sich am Nutzen für die klinischen Anwender  orientiert; und

(3) Ärzt*innen und Pflegekräfte in die Entwicklung und Einführung eng einzubinden (Abbott & Weinger, 2020) – also diejenigen, die einen Großteil ihrer Arbeitszeit in der Bedienung dieser Programme verbringen (müssen).

Die Realität ist, dass „Desktop Medicine“ einen erheblichen Anteil der Arbeit des Gesundheitspersonals im Krankenhaus, insbesondere der Ärztinnen und Ärzte ausmacht. Unser aller Aufgabe ist es, einhergehenden Technostress bei Beschäftigten im Gesundheitswesen zu verstehen und möglichst einzudämmen, dass dieser nicht zulasten der Qualität ihrer Arbeit, ihrer Gesundheit wie auch der ihrer Patienten und deren Versorgung geht.

Bitte zitieren als: Weigl, Matthias; Kaltenegger, Helena; Nowak, Dennis (2021). Die elektronische Patientenakte – Technostress im Krankenhaus? 15.01.2021. Online verfügbar unter: https://scilogs.spektrum.de/gesund-digital-leben/die-elektronische-patientenakte-technostress-im-krankenhaus/

Quellen

Abbott, P. A., & Weinger, M. B. (2020). Health information technology: Fallacies and Sober realities–Redux A homage to Bentzi Karsh and Robert Wears. Applied Ergonomics, 82, 102973. (https://doi.org/10.1016/j.apergo.2019.102973 )

Boonstra, A., Versluis, A., & Vos, J. F. (2014). Implementing electronic health records in hospitals: a systematic literature review. BMC health services research, 14(1), 370.

Downing, N. L., Bates, D. W., & Longhurst, C. A. (2018). Physician burnout in the electronic health record era: are we ignoring the real cause?.

Gimpel, H., Lanzl, J., Manner-Romberg, T., & Nüske, N. (2018). Technostress in Deutschland: Eine Befragung von Erwerbstätigen zu Belastung und Beanspruchung durch Arbeit mit digitalen Technologien. Hans-Böckler-Stiftung, Nr 101.

Karsh, B. T., Weinger, M. B., Abbott, P. A., & Wears, R. L. (2010). Health information technology: fallacies and sober realities. Journal of the American medical informatics Association, 17(6), 617-623.

Kazmi, Z. (2014). Effects of exam room EHR use on doctor-patient communication: a systematic literature review. Journal of Innovation in Health Informatics, 21(1), 30-39.

Kroth, P. J., Morioka-Douglas, N., Veres, S., Babbott, S., Poplau, S., Qeadan, F., … & Linzer, M. (2019). Association of electronic health record design and use factors with clinician stress and burnout. JAMA Network Open, 2(8), e199609-e199609 (doi:10.1001/jamanetworkopen.2019.9609) .

Ragu-Nathan, T. S., Tarafdar, M., Ragu-Nathan, B. S., & Tu, Q. (2008). The Consequences of Technostress for End Users in Organizations: Conceptual Development and Empirical Validation. Information Systems Research, 19(4), 417–433. (https://doi.org/10.1287/isre.1070.0165 )

Reith, T. P. (2018). Burnout in United States Healthcare Professionals: A narrative review. Cureus, 10(12).

Robinson, K. E., & Kersey, J. A. (2018). Novel electronic health record (EHR) education intervention in large healthcare organization improves quality, efficiency, time, and impact on burnout. Medicine, 97(38).

Shah, T., Borondy Kitts, A., Gold, J. A., Horvath, K., Ommaya, A., Opelka, F., . . . Sandy, L. (2020). Electronic Health Record Optimization and Clinician Well-Being: A Potential Roadmap Toward Action. NAM Perspectives. (https://doi.org/10.31478/202008a )

Shanafelt, T. D., Dyrbye, L. N., & West, C. P. (2017). Addressing physician burnout: the way forward. JAMA, 317(9), 901-902.

Sinsky, C. A., Rule, A., Cohen, G., Arndt, B. G., Shanafelt, T. D., Sharp, C. D., … & Adler-Milstein, J. (2020). Metrics for assessing physician activity using electronic health record log data. Journal of the American Medical Informatics Association, 27(4), 639-643. (https://doi.org/10.1093/jamia/ocz223 )

The Office of the National Coordinator for Health Information Technology (2020). Strategy on Reducing Regulatory and Administrative Burden Relating to the Use of Health IT and EHRs. Retrieved from https://www.healthit.gov/sites/default/files/page/2020-02/BurdenReport_0.pdf

Weigl, M., Händl, T., Wehler, M., & Schneider, A. (2020). Beobachtungsstudie ärztlicher und pflegerischer Aktivitäten in der Notaufnahme. Medizinische Klinik-Intensivmedizin und Notfallmedizin, 1-8. (https://doi.org/10.1007/s00063-020-00657-4 )

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Matthias Weigl ist Diplompsychologe und Senior Researcher am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München (AG Angewandte Medizin und Psychologie in der Arbeit). Gemeinsam mit Helena Kaltenegger, M.Sc., und Prof. Dennis Nowak forscht er dort zum Thema „Biomedizinische Folgen von Belastungen durch digitale Medien und Technologien am Arbeitsplatz“ im Rahmen des bayerischen Verbundprojekts „Gesunder Umgang mit digitalen Technologien und Medien“ (ForDigitHealth).

1 Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag. “Father knows best”..: tatsächlich ist mein Eindruck als Arzt, dass die ganze Planung der Health-IT, wie sie in den Reformgesetzen zum Ausdruck kommt, nur die Interessen der Industrie wiederspiegelt und völlig an den Wünschen der Anwender und Patienten vorbeigeht. Technik, die etwas nützt, verbreitet sich in den Krankenhäusern und Praxen von selbst (KIS, PACS), andere muss ihnen unter Strafandrohung aufgezwungen werden.

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