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Behandlungsfehler in Heppenheimer Psychiatrie: „Mein Vater wurde in der Klinik vergiftet“

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Ein Patient nimmt seine Medikamente (Symbolbild).
Ein Patient nimmt seine Medikamente (Symbolbild). © Getty Images/iStockphoto

Nach einem Behandlungsfehler in einer Psychiatrie stirbt ein Patient. Ein Grund dafür könnte die enorme Arbeitsbelastung des Personals sein.

Heppenheim – Weil seine Frau wenige Tage zuvor gestorben war, hatte Karl Schilling aufgehört zu essen, nahm sein Rheumamittel nicht mehr. „Für sein Alter sei er kerngesund gewesen, sagte der Pathologe vor Gericht“, sagt Tochter Ute Schilling im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. Sie und ihre Familie mussten trotzdem mitansehen, wie ihr 78-jähriger Vater dahinsiechte. „Er wurde in der Vitos-Klinik vergiftet“, sagt die Verwaltungsangestellte.

In die Vitos-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Heppenheim (Kreis Bergstraße) war Karl Schilling überwiesen worden, weil seine Appetitlosigkeit psychische Ursachen hatte. Sein Sohn Ralf Schilling hatte ihn zuvor geschwächt in seiner Wohnung in Lindenfels im Odenwald gefunden und auf Wunsch des Vaters einen Krankenwagen gerufen.

Behandlungsfehler in Psychiatrie: Überdosierung führte zum Tod

In der Vitos-Klinik wurde nun ein folgenschwerer Fehler begangen, der schließlich zum Tod des Patienten führte: Das Rheuma- und Krebsmedikament Methotrexat (MTX), das der 78-Jährige einmal die Woche einnahm, wurde vom diensthabenden Stationsarzt an jenem Sonntag, dem 4. August 2019, als tägliche Dosis verordnet und in der elektronischen Patientenakte eingetragen. In der Folge fiel die Überdosierung zunächst niemandem auf, auch nicht der Oberärztin, die für die regelmäßigen Visiten zuständig war.

Karl Schilling  starb mit 78 Jahren, weil er tagelang eine zu hohe Dosis eines Rheumamittels bekam.
Karl Schilling starb mit 78 Jahren, weil er tagelang eine zu hohe Dosis eines Rheumamittels bekam. © Privat

Die nächsten sechs Tage sei der Zustand ihres Vaters stabil gewesen, sagt Ute Schilling. Sonntags habe er dann Schmerzen im Mund bekommen. Als sie ihn am Montag besuchte, habe er über eine Entzündung im Mund geklagt. Die Klinik habe ihn zum Zahnarzt geschickt. Dass Geschwüre in der Mundhöhle eine der Nebenwirkungen von MTX sind, sei keinem aufgefallen. Auch sei er an jenem Tag „wackelig auf den Beinen“ gewesen, habe gesagt, er fürchte, er könne nicht einmal zur Beerdigung seiner Frau gehen. Muskelschwäche oder Taubheitsgefühl in den Extremitäten sind ebenfalls Nebenwirkungen, die man dem Beipackzettel entnehmen kann. Doch mit dem Medikament habe sich in der Klinik keiner ausgekannt, wie sich später in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Bensheim (Kreis Bergstraße) herausstellt.

Tödlicher Behandlungsfehler in Psychiatrie: Verdacht wurde erst Tage später geäußert

Der Zustand des Mannes verschlechterte sich rapide. „Montags konnte er noch sprechen“, sagt Ute Schilling, aber sein Hals habe ihm wehgetan. Am nächsten Tag hatte er Durchfall. An diesem Tag erfuhr seine Tochter, dass Karl Schilling acht Tage lang das falsche Medikament bekommen hatte: „Anstatt einer halben Tablette MTX wöchentlich eine ganze Tablette täglich“, sagt Ute Schilling. Nur der Pflegedienstleiterin waren die eitrige Entzündung im Mundraum und die Gleichgewichtsstörungen seltsam vorgekommen – allerdings meldete sie ihren Verdacht erst Tage später an die Ärzte.

Karl Schilling wird in die Kreisklinik nach Heppenheim verlegt, wo die Vergiftung bestätigt wird. Zu wenig weiße Blutkörperchen habe er. Er brauche eine Infusion mit Folsäure, die es in Heppenheim nicht gebe. Es folgt mittwochs eine weitere Verlegung in die Heidelberger Krehlklinik. Donnerstags bringt man ihn in das St.-Vincentius-Krankenhaus in Heidelberg. „Erst dort bekam er endlich eine Behandlung“, sagt Ute Schilling.

„Grauenvolle Schmerzen“ - Behandlungsfehler in Psychiatrie rief schwere Symptome hervor

Als seine Kinder ihn samstags besuchen wollen, liegt er auf der Intensivstation, kann nicht sprechen, hat starke Schmerzen und bekommt Morphium. „Wir hatten noch Schokolade und Getränke mitgebracht“, erinnert sich Ute Schilling. Doch da sei es schon zu spät gewesen. Sonntags kommt ein Anruf: Der Vater habe einen Herzstillstand gehabt, sei reanimiert worden und befinde sich im künstlichen Koma. Innere Blutungen seien durch die Vergiftung entstanden, auch könne eine Hirnschädigung nicht ausgeschlossen werden, heißt es am nächsten Tag.

Weitere neun Tage dauert sein Leiden: „Er blutete aus Augen und Nase und muss grauenvolle Schmerzen gehabt haben“, sagt Ute Schilling. Am 28. August, einem Mittwoch, verstirbt Karl Schilling um 22.45 Uhr. Sein Leichnam wird für eine Obduktion beschlagnahmt, worüber die Tochter heute sehr froh ist: „Wer weiß“, sagt sie, „ob das alles sonst rausgekommen wäre?“

Wegen Behandlungsfehler: Staatsanwaltschaft Darmstadt eröffnet Verfahren

Die Staatsanwaltschaft Darmstadt eröffnet das Verfahren gegen den Stationsarzt, der den Patienten zur Behandlung in der Klinik aufgenommen hatte, sowie gegen die zuständige Oberärztin, die weder die Falschmedikamentierung bemerkte noch die Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten richtig einordnete. Laut Ute Schilling hatte die Oberärztin den Vater noch dazu gedrängt, notfalls im Rollstuhl zur Beerdigung seiner Frau zu gehen.

Überlastung des Personals in Psychiatrie soll Grund für tödlichen Behandlungsfehler gewesen sein

In der Hauptverhandlung im Dezember 2020 erklärt der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Stationsarzt laut Medienberichten, dass er an jenem Tag alleine für neun Stationen mit rund 180 Betten verantwortlich gewesen sei. Auch soll die Computersoftware, in der die Medikation eingetragen wird, laut Zeugenaussagen „unübersichtlich“ gewesen sein. Das Verfahren wird gegen eine Zahlung von 6000 Euro an gemeinnützige Einrichtungen eingestellt.

Bereits Monate zuvor wurde ohne Verhandlung auch das Verfahren gegen die Oberärztin gegen eine Zahlung von 1200 Euro eingestellt. Überlastung des Personals und eine unübersichtliche Patientensoftware haben laut Staatsanwaltschaft Darmstadt maßgeblich zum Tod von Karl Schilling geführt. Das wird im Laufe des Verfahrens deutlich. „Der Beschuldigten war zwar ein Verursachungsbeitrag zum tragischen Tod des Patienten nachzuweisen“, teilte Oberstaatsanwalt Robert Hartmann mit. „Dieser Verursachungsbeitrag stellte sich jedoch nur als ein Glied einer Kette von Fehlern dar, die zu einer tragischen Folge führten.“

Tödlicher Behandlungsfehler hätte mehreren Personen auffallen können

Nach der Hinterlegung der falschen Medikation durch den Stationsarzt seien mehrere Personen an der Untersuchung und Behandlung des Patienten beteiligt gewesen, denen die falsche Medikation hätte auffallen können. Zudem sei berücksichtigt worden, dass bei dieser Tätigkeit selbst kleine Fehler oder Unachtsamkeit weitreichende und tragische Folgen haben könnten, wie den Tod eines Patienten. Es komme hinzu, „dass das Personal des Krankenhauses zur fraglichen Zeit unter einer enormen Arbeitsbelastung stand“.

Hinterbliebene fordern Schmerzensgeld, wegen tödlichem Behandlungsfehler

Auf Nachfrage der FR, ob sich aufgrund des tragischen Tods von Karl Schilling etwas an den Organisationsabläufen oder der Verwendung des Computerprogramms in der Vitos-Klinik geändert habe, teilte die Klinik am Montag mit: „Sämtliche Systeme und Abläufe unterliegen bei Vitos kontinuierlichen Prüfprozessen, um sie in der Folge bei Bedarf jederzeit anzupassen und zu verbessern.“ Weiter könne man sich zu dem Fall nicht äußern, da ein zivilrechtliches Verfahren im Raum stünde.

Auch wenn Ute Schilling weiß, dass der Prozess sich nur „gegen das kleinste Licht“ richtete, und sie damit einverstanden war, dass das Verfahren eingestellt wird, streben sie und ihr Bruder eine Zivilklage gegen die Vitos-Klinik an. Es geht dabei um Schmerzensgeld und um Schadensersatz, auch wenn das den Vater nicht zurückbringen kann, wie Ute Schilling sagt. Sie will einen großen Teil davon spenden.

Nicht der erste Fall: Gehbehindert nach Spritze

Der Tod von Karl Schilling ist nicht der erste Fall einer folgenschweren Medikamentierung in der Vitos-Klinik Heppenheim: Im Jahr 2016 wurde dem Darmstädter Marco Müller unter Zwang per Fixierung das Neuroleptikum Ciatyl-Depot verabreicht, um seinen Appetit wieder anzuregen. Obwohl er bald darauf über Gehbeschwerden klagte, gaben ihm die Ärzt:innen eine weitere Spritze. Seitdem kann der heute 40-Jährige nicht mehr ohne Gehhilfe laufen, längere Wege gehen nicht mehr ohne Rollstuhl und auch das Schreiben fällt ihm schwer. Wir berichteten bereits im vergangenen Jahr über diesen Patienten, der gegen die Vitos-Klinik Heppenheim klagt. Der Prozess soll in diesem Jahr starten. Der Darmstädter sieht die Behandlung dort als Ursache für seine Gehbehinderung. (Von Claudia Kabel)

Das Nachrichtenportal BuzzFeed News hat kürzlich über teils katastrophale Zustände in forensischen Kliniken berichtet. In diesen Einrichtungen werden Menschen mit psychischen Erkrankungen behandelt, die straffällig geworden sind.

Für Betroffene gibt es ein kostenloses Hilfsangebot der Stiftung Patientenschutz. Zu erreichen ist die Beratungsstelle unter der kostenlosen Telefonnummer 0231/7380730. Infos gibt es auch online unter stiftung-patientenschutz.de.

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