Entwöhnung nur nach vorheriger Gewöhnung möglich?

Die Abrechnung von Beatmungsstunden führen regelmäßig zu Streit zwischen den Krankenhäusern und den Krankenkassen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es hier auf die stundengenaue Dokumentation der Beatmungsstunden ankommt: Die abzurechnenden DRG stellen auf die Überschreitung bestimmter Grenzwerte ab (z. B. wird die DRG A13H nur kodiert, wenn der Patient über 95 Stunden beatmet wurde). Die Krankenkassen bzw. der Medizinische Dienst prüfen hier genaustens, ob sich die abgerechneten Beatmungsstunden auch aus der Patientenakte ablesen lassen.

Ein weiterer Konfliktfall ist zudem der Beginn der Entwöhnung des Patienten von der Beatmung (sog. Weaning). Denn in der Phase der Entwöhnung dürfen zusätzlich zur reinen Beatmungszeit die Spontanatmungsstunden während der Unterbrechungen der Beatmung abgerechnet werden.

Entwöhnung nur nach vorheriger Gewöhnung

Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 17. Dezember 2019 (B 1 KR 19/19 R) entschieden, dass eine Entwöhnung des Patienten von der Beatmung nur nach einer vorherigen Gewöhnung stattfinden kann. Dies setze regelmäßig eine zeitliche Zäsur zwischen dem Beginn der Beatmung und dem Beginn der Gewöhnung voraus.

Die Folge hieraus ist, dass die Phase der Entwöhnung (Weaning) nicht sofort nach dem Beginn der Beatmung gestartet werden kann.

Die Entscheidung des BSG wurde von Instanzgerichten (Landessozialgericht Sachsen, Urteil vom 15.07.2020 – L 1 KR 251/14 oder Landessozialgericht Bayern, Urteil vom 26.05.2020 – L 5 KR 273/17) zurecht kritisiert: Eine Entwöhnung setzt vom Wortlaut her keine vorherige Gewöhnung voraus.

Neues Urteil des Bundessozialgerichts

In seinem jüngsten Urteil vom 17. Dezember 2020 hat sich der sechste Senat des BSG nun erneut mit dieser Rechtsfrage beschäftigt. Das Gericht hält grundsätzlich an dem Begriff der Gewöhnung fest. In dem Terminsbericht (die Entscheidungsgründe liegen derzeit noch nicht vor) steht hierzu:

„Der Senat hat die „Gewöhnung“ im Sinne der DKR 1001l in seinem Urteil vom 19.12.2017 definiert als: „die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können“. Eine „Gewöhnung“ an das Beatmungsgerät ist daher nicht an weitere, darüber hinausgehende Voraussetzungen geknüpft. Die „Gewöhnung“ kann insbesondere darauf beruhen, dass nach dem Beginn der maschinellen Beatmung die Unfähigkeit zur Spontanatmung (im Sinne der Definition) bereits aufgrund der behandelten Erkrankung oder erst durch eine Schwächung der Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung oder durch ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren eintritt.“

Dies kann als eine Distanzierung von dem Urteil vom 17. Dezember 2019 (B 1 KR 19/19 R) gewertet werden: Durch die Aussage, dass eine „Gewöhnung“ nicht an „darüber hinausgehende Voraussetzungen“ geknüpft sei, kann geschlossen werden, dass es insbesondere nicht mehr auf eine zeitliche Zäsur zwischen dem Beginn der Beatmung und dem Beginn der Entwöhnung ankommt, wie sie insbesondere in der Umstellung von einer Intubation auf eine nichtinvasive Beatmung gesehen wurde. Dies wird untermauert durch die Aussage, dass die Gewöhnung bereits aufgrund der behandelten Erkrankung – und nicht erst der maschinellen Beatmung – eintreten kann.

Die genauen Entscheidungsgründe bleiben noch abzuwarten. In Fällen, in denen der Medizinische Dienst den Punkt der angeblich fehlenden Gewöhnung rügt, sollten Krankenhäuser unter Bezugnahme auf das aktuelle BSG-Urteil prüfen, ob das Urteil zur Geltendmachung eigener Ansprüche herangezogen werden kann.

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