Hintergrund

Seit jeher beschreibt die moderne Medizin Entwicklungsschritte, die eine zunehmende Optimierung der Behandlung unserer Patienten möglich macht. Beispielsweise seien die Meilensteine der Medizin wie Antisepsis oder Antibiotika im 19. und 20. Jahrhundert, die Entdeckung der Röntgenstrahlung, Entwicklung zahlreicher Impfstoffe bis hin zur minimal-invasiven Chirurgie genannt. So scheint die Medizin des 21. Jahrhunderts unter anderem maßgeblich von Digitalisierung und Vernetzung geprägt zu sein. Insbesondere in einer Optimierung der Vernetzung, Summation des Wissens und der Expertise verschiedener Fachdisziplinen scheint immenses Potenzial zu liegen, die Therapie unserer Patienten weiter zu verbessern (Abb. 1). Gleichzeitig wirkt die interdisziplinäre Zusammenarbeit der zunehmenden Segmentierung und Spezialisierung der Fachbereiche entgegen.

Abb. 1
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Kompetenz, Kreativität, Kommunikation: Der Patient steht im Mittelpunkt unterschiedlichster Expertengruppen. Nur die interdisziplinäre Vernetzung erlaubt die erfolgreiche Behandlung

Aktuell stehen wir hier noch am Beginn einer Entwicklung mit nicht abzusehender Dynamik. Dennoch kann die Traumatologie bereits einige Erfolge verzeichnen. Ein grundlegender Baustein wurde durch die Initiative des Traumanetzwerkes der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie gelegt. Die Unterteilung in lokale, regionale und überregionale Traumazentren mit entsprechenden personellen, strukturellen und apparativen Ressourcen ist inzwischen in der gesamten Bundesrepublik etabliert [7]. So ist die reibungslose Verlegung von Patienten von und zu der nächst höheren Versorgungsstufe heute gelebter Standard. Der Patient profitiert von einer spezialisierten Behandlung, der interne Austausch zwischen Kollegen inkl. der regelmäßigen klinischen Konferenzen erlaubt eine Kommunikation auf Augenhöhe und beschleunigt die Entscheidungsprozesse.

In diesem Sinne kann das Ziel einer kontinuierlichen Innovation und Erneuerung der Traumatologie nur durch vernetzte Kompetenz auf Spitzenniveau, einem regen Austausch und Diskurs sowie kreativen Lösungsformen gelingen. Einige Beispiele hierzu haben wir im folgenden Text aufgeführt:

Von der Tumorkonferenz bis zur interdisziplinären muskuloskelettalen Konferenz

Die Etablierung von Tumorzentren und insbesondere von Tumorkonferenzen in Deutschland hat bereits 1978 mit der durch die Große Krebskonferenz initiierten Förderung durch die Bundesregierung begonnen [23]. Mit dem Ziel der Therapieoptimierung und somit Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit und auch des Patientenoutcomes ist seit nunmehr über 20 Jahren die Vorstellung und Besprechung von Patienten in interdisziplinären Tumorkonferenzen mit allen an der Behandlung der Patienten beteiligten Fachdisziplinen Standard in der medizinischen Versorgung onkologischer Patienten. So finden am Universitätsklinikum Münster (UKM) wöchentlich 19 organ- bzw. entitätsspezifische interdisziplinäre Tumorkonferenzen statt. Ziel ist hierbei die Vorstellung jedes am UKM behandelten krebserkrankten Patienten. Dabei ist die Durchführung solcher Tumorboards zeit- und kostenintensiv. De Leso et al. bezifferten die Kosten eines in einer interdisziplinären Tumorkonferenz vorgestellten Patienten auf 415 Britische Pfund (ca. 456 €; [3]). Die Finanzierung solcher hochspezialisierten interdisziplinären Tumorzentren in Deutschland ist aktuell unzureichend abgebildet und erfolgt über die DRG(„diagnosis related groups“)-Fallpauschale, die Hochschulambulanzpauschalen oder eine Querfinanzierung aus individuellen Zuschüssen zum Aufbau von Krebszentren [14].

Die Evaluation der Effektivität und Wirtschaftlichkeit interdisziplinärer Tumorboards ist kompliziert, beispielsweise aufgrund fehlender Vergleichsgruppen oder aber auch der schwierigen Bestimmung valider Outcomeparameter. In einer Metaanalyse mit 51 eingeschlossenen Studien konnte jedoch ein verbessertes klinisches Outcome mit einer geringeren Mortalität durch die Einführung von Tumorkonferenzen für Kolorektal‑, Kopf-Hals‑, Brust‑, Ösophagus- und Lungenkrebspatienten beschrieben werden [21].

Formate für die Versorgung „interdisziplinärer“ Verletzungen fehlen im klinischen Alltag

Angelehnt hieran wurde die Idee der interdisziplinären muskuloskelettalen Konferenz zur Behandlung von Frakturen mit ausgeprägter Weichteilverletzung geboren (Abb. 2). Aufgrund der zahlreichen Berührungspunkte im Bereich der plastischen, gefäßchirurgischen und mikrobiologischen/infektiologischen Ebene ist eine optimierte Versorgung von z. B. 3.-gradig offenen Frakturen oft von einem interdisziplinären Therapiepfad geprägt. Während die Vorteile interdisziplinärer Therapieansätze schon länger bekannt sind, in vielen Artikeln und Kongressen propagiert werden oder im Rahmen der Alterstraumatologie schon etabliert sind, finden sich keine Formate im klinischen Alltag, welche dies in der Versorgung von Schwerverletzten oder „interdisziplinären“ Verletzungen umsetzten [25].

Die Idee eines unfallchirurgischen Äquivalents zu Tumorboards ist eine interdisziplinäre muskuloskelettale Konferenz. Ziel dieses Formates ist die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit, Verkürzung der Behandlungsdauer, Vermeidung unnötiger Kosten, Reduktion von Komplikationen durch inkomplette oder redundante Diagnostik und eine fachübergreifende Ausbildung. Zu diesem Zweck soll regelmäßig eine Konferenz mit Vertretern der Fachbereich Unfallchirurgie, technische Orthopädie, MKG(Mund-Kiefer-Gesichts)-Chirurgie, Neurochirurgie, plastischer HNO(Hals-Nasen-Ohren)-Chirurgie, Gefäßchirurgie, Angiologie, Mikrobiologie/Infektiologie, Radiologie, Pharmakologie und Dermatologie stattfinden. Gemeinsam werden nach der Vorstellung der Patienten diese im Plenum diskutiert und Behandlungskonzepte schriftlich festgelegt (Abb. 3). Eingeschlossen werden können Patienten mit besonders schwierigen und meist langen Krankheitsverläufen (z. B. 3.-gradig offene Frakturen mit Gefäß‑/Nervenverletzungen, chronische Weichteildefekte, chronische Infektionen, potenzielle Indikationen zur Amputation). Im Vorfeld erfolgen eine Anmeldung der Patienten und eine kurze Aufarbeitung des Falles. Dieser wird im Rahmen einer Fallvorstellung z. B. durch Assistenzärzte oder Studenten im Praktischen Jahr (PJ) präsentiert und im Vorfeld fach-/oberärztlich vidiert. Die beschlossenen Konzepte werden festgehalten und anschließend erfolgt die Umsetzung der Beschlüsse durch die jeweiligen Fachabteilungen (Abb. 4).

In der Literatur wird dieser Ansatz mittlerweile vor allem für die Alterstraumatologie propagiert. So schrieben Reiter et al., dass vor allem bei komplexen Verletzungen der unteren Extremität eine interdisziplinäre Board-Vorstellung des Patienten erfolgen sollte [22]. Dass ein multidisziplinärer Ansatz bei komplexen Verletzungen häufig nur in einem überregionalen Zentrum gelingen kann, konnten Würdemann et al. zeigen [27]. Diese Behandlungsansätze haben bisher aber noch keine feste Implementierung in der Klinik. Dies mag zum einen am noch nicht nachgewiesenen Benefit liegen. Zum anderen fehlt auch häufig die finanzielle Umsetzbarkeit. Trotzdem sollten die Fortschritte aus anderen Fachdisziplinen Anstoß geben, ein interdisziplinäres Format wie die muskuloskelettale Konferenz im klinischen Alltag eines überregionalen Traumazentrums einzurichten.

Abb. 2
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Konzept und Flowdiagramm zum Ablauf der interdisziplinären muskuloskelettalen Konferenz

Abb. 3
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Eine 24-jährige Patientin erleidet bei einem Autounfall eine subtotale Amputation auf Höhe des linken Ellenbogens (a). In Zusammenarbeit mit den Kollegen der Gefäßchirurgie erfolgt ein Veneninterponat im Bereich der A. ulnaris und A. radialis (e), die mehrfragmentäre Radius- und Ulnarfraktur (bc) wird mittels Plattenosteosynthese versorgt (d). Im Verlauf zeigen sich ausgeprägte Nekrosen der Haut, welche abgetragen werden, zwischenzeitlich mit einem Silikonwunddistanznetz versorgt (f) und abschließend durch die Kollegen der plastischen Chirurgie mit einem anterolateralen Oberschenkellappen gedeckt wurden. Eine gemeinsame Falldiskussion kann hier bei komplexen Behandlungsschritten einen entscheidenden Vorteil bieten

Abb. 4
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Eine 88-jährige Patientin bei Zustand nach periimplantärer offener Unterschenkelfraktur (ac), zunächst Anlage eines Fixateurs externe, dann offene Reposition und interne Fixation mittels 13-Loch-LCP („locking compression plate“), entwickelt einen Plattenlagerinfekt mit Wundheilungsstörung (d) und MRSA(Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus)-Nachweis. Bei persistierendem Infekt, hohem Patientenalter, zahlreichen Komorbiditäten und blander Knieprothese (e) fiel der Entschluss zu einer Unterschenkelamputation nach Burgess (f). Eine interdisziplinäre Falldiskussion und ein gemeinsamer Behandlungsbeschluss können auch schwierige medizinische Entscheidungen auf eine breite Basis stellen

Apotheker auf Station

Etwa 40 % der Behandlungsschäden während des stationären Aufenthalts sind vermeidbar. Mehr als jedes 8. unerwünschte Ereignis (ca. 15 %) ist auf die Arzneimitteltherapie zurückzuführen, wobei das Risiko eines arzneimittelbezogenen Problems (ABP) grundsätzlich mit der Zahl der verordneten Arzneimittel ansteigt [4]. Beim naturgemäß sehr heterogenen Patientenkollektiv der Unfallchirurgie werden heute auch zunehmend multipel internistisch vorerkrankte oder aufgrund des demographischen Wandels viele geriatrische Patienten mit einer komplexen Pharmakotherapie behandelt. Dieses spiegelt sich an steigenden Operationszahlen wider [15]. Zudem müssen regelmäßig zusätzliche Arzneimittel während des stationären Aufenthaltes eingesetzt werden, die mit einem hohen Risiko für die Manifestation von Nebenwirkungen assoziiert sein können. Hierzu gehören unter anderem Analgetika, Antikoagulanzien und Antibiotika [2]. Gerade hier kann der Einsatz von Apothekern auf Station eine wertvolle Ergänzung des Behandlungsteams im Sinne eines interdisziplinären Behandlungsansatzes darstellen, da er regelmäßig zu einer Verbesserung der Qualität der Arzneimitteltherapie, zu einer Erhöhung der Arzneimitteltherapiesicherheit, zu einem rationaleren Einsatz von Antibiotika und langfristig auch zu einer Reduktion von Arzneimittelkosten führen kann [6, 8, 18].

Die Arzneimittelqualität wird erhöht und die Arzneimittelkosten sinken

Am UKM gehören in der Klinik für Unfall‑, Hand- und Wiederherstellungschirurgie bereits seit vielen Jahren Apotheker zum Behandlungsteam und sind in den täglichen Stationsablauf integriert. Sie stehen bei allen Fragen zur Arzneimitteltherapie sowohl der behandelnden Ärzte als auch der Mitarbeiter der Pflege zur Verfügung und überprüfen regelmäßig die Medikation aller stationären Patienten auf mögliche Optimierungen, wobei ein besonderer Fokus auf die antiinfektive Therapie gerichtet wird. Alle Vorschläge zur Anpassung werden dann mit den behandelnden Ärzten besprochen und im gemeinsamen Konsens umgesetzt. Hierdurch kam es zu einer Erhöhung der Arzneimittelqualität, einer Reduktion der Arzneimittelkosten und darüber hinaus auch zu einer Zeitersparnis bei Ärzten und Pflege [11].

Interdisziplinäre Delirprävention in der Alterstraumatologie

Deutschland wird in den kommenden Jahrzehnten einen durchgreifenden demographischen Wandel erfahren, sodass die Prävalenz neurodegenerativer Erkrankungen, wie z. B. der Alzheimer-Demenz, von aktuell 1,6 auf schätzungsweise 3,4 Mio. Menschen im Jahr 2060 ansteigen wird [19]. Während bekannt ist, dass ca. 80 % der Patienten mit einer manifesten Demenz ein postoperatives Delir (POD) entwickeln werden, zeigen die meisten Patienten in der Altersgruppe ab 65 Jahre präoperativ allenfalls leichte kognitive Einschränkungen [9]. So sind die Folgen eines Delirs für diese zuvor meist eigenständige und selbstversorgende Patientengruppe sowie das familiäre Umfeld dramatisch. In 50 % der Fälle zeigen sich postoperativ kognitive Dysfunktionen, sodass nach dem stationären Aufenthalt häufig die Hilfe Dritter benötigt wird [16]. Des Weiteren ist ein POD mit einer temporären 20-fach erhöhten Letalität assoziiert [26]. Da alte Patienten mit Extremitätenverletzung häufig Operationen, verlängertem stationärem Aufenthalt und nebenwirkungsreichen medikamentösen Therapien ausgesetzt sind, stellt die interdisziplinäre multimodale Delirprävention einen Schlüssel zur erfolgreichen Behandlung dar.

Am Universitätsklinikum Münster wurde hierzu ein interdisziplinäres Team bestehend aus einem Neurologen, einem Apotheker und einer Pflegefachkraft zusammengestellt. In einem ersten Schritt wird jeder Patient ab 65 Jahren einem kognitiven Leistungstest unterzogen, dessen Ergebnis zur Voraussage des Delirrisikos verwendet wird. Basierend hierauf wird bei entsprechendem Risikoprofil das Delirpräventionsteam eingeschaltet: Durch den Apotheker wird eine pharmakologische Anamnese erhoben sowie die Medikation auf delirogene Substanzen oder Nebenwirkungen überprüft. Des Weiteren erfolgen eine tägliche interdisziplinäre Visite, ein Delirmonitoring sowie die enge Zusammenarbeit mit den Angehörigen. Ärzte und Pflegekräfte werden regelmäßig fortgebildet und eine Delir-Hotline wurde eingerichtet. Eine „delir pocket-card“ hat sich als Hilfestellung zur Akutbehandlung eines Delirs während Nacht- und Wochenenddiensten bewährt [26]. Moderne operative Techniken, wie z. B. die Zementaugmentation bei sakroiliakaler Verschraubung nach Beckeninsuffizienzfraktur erlauben außerdem eine frühzeitige Mobilisierung und beugen zusätzlich einem Delir vor [10, 24].

Bei entsprechendem Risikoprofil wird das Delirpräventionsteam eingeschaltet

Oberstes Ziel der interdisziplinären Zusammenarbeit ist die Delirprävention. Internationale Erfahrungen berichten über eine hohe Effektivität des Delirpräventionsteams gemessen an der Reduktion der Inzidenz eines postoperativen Delirs, der Stürze auf Stationsebene, Dauer des stationären Aufenthaltes und poststationären Pflegebedürftigkeit [5, 12, 17].

Zukunft der Traumatologie

Wo müssen wir hin? In einer Zeit, die aufgrund der COVID(„coronavirus disease“)-Pandemie durch starke Verunsicherung geprägt ist und in der fast täglich wechselnde politische Vorgaben gemacht werden, ist eines ganz klar: Die Zukunft der Traumatologie liegt in der digitalen Vernetzung. Die oben beschriebenen Ansätze zeigen nur einen Bruchteil der laufenden Projekte. Richtungsweisend sind des Weiteren z. B. die digitale Sprechstunde, der Teleschockraum, Notfall-Apps und computerassistierte Entscheidungsfindung beim Traumapatienten [1, 13, 20]. Allen gemeinsam ist die Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Experten unterschiedlichster Fachdisziplinen, die so eine kreative gemeinsame Entscheidungsfindung erlaubt.

Fazit für die Praxis

  • Interdisziplinarität ist aufgrund der zunehmenden Spezialisierung der Schlüsselfaktor zur erfolgreichen und optimierten Versorgung von Patienten mit komplizierten Verläufen. So konnte durch den Apotheker auf der Station und das Delirpräventionsteam die Behandlungsqualität zahlreicher Bereiche in der Unfallchirurgie nachhaltig gesteigert werden.

  • Die Zukunft wird, aller Voraussicht nach, stark von der digitalen Vernetzung geprägt sein. So kann, basierend auf den bereits bestehenden Traumanetzwerken, eine intensive Zusammenarbeit der verschiedenen Fachabteilungen und Krankenhäuser zu einer Steigerung der traumatologischen Versorgungsqualität in der Bundesrepublik beitragen.