Die Schweiz hat die Digitalisierung des Gesundheitswesens verschlafen – wie sehr, zeigt ein Vergleich mit Dänemark

Anders als Dänemark hat die Schweiz noch keine funktionierenden Patientendossiers. Corona-Meldungen werden per Fax übermittelt, und der Bundesrat muss im Blindflug einschneidende Massnahmen treffen. Schuld am Missstand ist auch die Angst der Bevölkerung vor Datendiebstahl.

Simon Hehli, Tobias Gafafer 61 Kommentare
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In vielen Arztpraxen werden die Krankengeschichten noch immer ausschliesslich auf Papier abgelegt.

In vielen Arztpraxen werden die Krankengeschichten noch immer ausschliesslich auf Papier abgelegt.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich bei beginnendem Halsweh bequem über ein national einheitliches Portal für einen Corona-Test anmelden. Wenige Stunden nach dem Abstrich schickt Ihre Gesundheits-App eine Push-Meldung mit dem Resultat – und die nationalen Behörden erhalten die Daten zur Virusverbreitung in Echtzeit. Müssen Sie wegen eines schweren Covid-19-Verlaufs ins Spital, sehen die behandelnden Ärzte im virtuellen Patientendossier sofort, welche Risikofaktoren Sie haben und welche Medikamente Sie einnehmen. Die Einladung zur Grippeimpfung erhalten Sie elektronisch, sobald Sie gemäss Prioritätenliste an der Reihe sind. Und stellen Sie sich vor, die erfolgte Impfung könnten Sie mit dem Impfpass, der in die Gesundheits-App integriert ist, jederzeit belegen.

Die reinste Utopie? Für die Schweiz schon. Aber die Däninnen und Dänen nutzen all diese Dienste völlig selbstverständlich. Das skandinavische Land zeigt, was in der Pandemie möglich wäre, hätte man die Entwicklung nicht verschlafen. Bereits 2003 ging das öffentliche Gesundheitsportal Sundhed.dk online, das elektronische Patientendossier (EPD) ist ein wichtiger Pfeiler des Gesundheitssystems. «Weil Dänemark ein stark digitalisiertes Land ist und sich die Menschen daran gewöhnt haben, konnten wir relativ leicht und rasch auf die Herausforderungen von Covid-19 reagieren», sagt der renommierte Virologe Søren Riis Paludan von der Universität Aarhus.

Dänemark hat bis anhin pro Million Einwohner nur halb so viele Corona-Fälle wie die Schweiz – und zwei Drittel weniger Tote. Natürlich hat das relativ schlechte Abschneiden der Schweiz bei diesen Zahlen verschiedene Ursachen. Doch die mangelnde Digitalisierung ist ein Handicap, das ist offenkundig. Dass die Meldung vieler Corona-Fälle ans Bundesamt für Gesundheit (BAG) per Fax erfolgte und bei der Zählung Excel-Listen zum Einsatz kamen, sorgte in der ersten Welle für Spott. Das ist allerdings nur ein Beispiel unter vielen.

«Das kostet Menschenleben»

Gegenwärtig zeigt sich, dass es schwierig ist, verlässliche Angaben zu den verimpften Dosen zu erhalten, weil es kein einsatzfähiges nationales Erfassungstool gibt. Auch die Anmeldung zu den Impfungen ist für die Bürgerinnen und Bürger ein Ärgernis, weil immer wieder die Systeme abstürzen – oder je nach Kanton noch gar nicht zugänglich sind. Ebenfalls gravierend: Weil die Testergebnisse und andere wichtige Kennzahlen nicht schweizweit einheitlich erfasst werden und nicht sofort, automatisch und sicher in eine Datenbank übermittelt werden, muss die Politik immer wieder im Blindflug agieren. «Das kostet Menschenleben und richtet enormen volkswirtschaftlichen Schaden an», sagt der Gesundheitsexperte Felix Schneuwly vom Vergleichsdienst Comparis.

«Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist die Schweiz ein Entwicklungsland», kritisiert Peter Indra, Leiter Gesundheitsversorgung des Kantons Basel-Stadt und früherer BAG-Vizedirektor. Es gehe nicht darum, dass die einzelnen Leistungserbringer mit einem PC arbeiteten, sondern um die digitale Vernetzung. Diese sei völlig unzureichend.

Das zentrale Versäumnis ist, dass die Schweiz – anders als Dänemark – immer noch kein funktionierendes elektronisches Patientendossier hat, das der ganzen Bevölkerung zur Verfügung steht. Wer sich auf die Suche nach der Ursache für diesen Missstand macht, findet keinen Alleinschuldigen. Es ist vielmehr das komplexe institutionelle Gefüge, das eine bremsende Wirkung hat – wie so oft in der Schweizer Politik. Eine Rolle spielen das Parlament, die Kantone, die Ärzte. Und das BAG und sein Chef, Gesundheitsminister Alain Berset.

Das jahrelange Warten auf ein Patientendossier

Der Bundesrat legte seine Pläne für ein elektronisches Patientendossier im Jahr 2013 vor, das Parlament verabschiedete das entsprechende Gesetz 2015. Doch erst im letzten Dezember konnte der Aargauer Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati das schweizweit erste EPD eröffnen. Die offizielle Begründung, dass dieser Akt um Monate später erfolgte als gesetzlich vorgeschrieben, sind komplexe Zertifizierungsverfahren. Doch die Probleme liegen tiefer, viel tiefer.

Das EPD droht ein teurer Flop zu werden. Die Mediziner sind skeptisch, ob sie das Instrument jemals in ihrer täglichen Arbeit nutzen können. Denn derzeit ist es nicht möglich, dass die verschiedenen Leistungserbringer vom Hausarzt über den Apotheker bis zum Spital bestehende Informationen zum Gesundheitszustand des Patienten oder zu seinen Medikamenten bearbeiten können. Kritiker sprechen von einem «PDF-Friedhof». In diesem finde man zudem kaum etwas, weil die Metadaten für eine Suche fehlten.

Ruth Humbel ist eine der erfahrensten Politikerinnen des Landes, derzeit präsidiert sie auch die Gesundheitskommission des Nationalrates. Seit Jahren versucht die Aargauer Mitte-Politikerin, die Digitalisierung voranzutreiben, ohne grossen Erfolg. Sie ärgert sich, dass die Spitäler bei der Bewältigung der Pandemie noch nicht auf das EPD zurückgreifen können. «Gerade in diesen Zeiten wäre es wichtig, wenn die Spitalmediziner raschen Zugang zu den Informationen über die Vorerkrankungen ihrer Patienten hätten.»

Beim EPD-Gesetz habe das Parlament Fehler gemacht, räumt Humbel ein. «Wir hätten nicht zulassen dürfen, dass jeder Kanton seine eigene Lösung für das Patientendossier erarbeitet, das ist ja eigentlich absurd.» Wenn man schon die Chance habe, etwas auf der grünen Wiese neu zu bauen, hätte man ein einheitliches System für die ganze Schweiz einführen sollen, findet Humbel. «Aber es wollte sich eben niemand die Finger am Föderalismus verbrennen.»

«Verweigerungshaltung» der Ärzte

Für falsch hält Humbel auch, dass das Parlament das EPD nur für die Spitäler und Pflegeheime obligatorisch erklärt hat, nicht jedoch für Praxismediziner und die Patienten. Humbel kritisiert, dass bei der Ärzteschaft eine Verweigerungshaltung vorherrsche. «Sie haben immer mit dem Referendum gedroht, das hat die Politik eingeschüchtert. Ich habe den Antrag gestellt, dass die frei praktizierenden Ärzte eine Übergangsfrist von zehn Jahren erhalten sollten. Dann wären viele aus der älteren Garde, die noch mit Papier und Fax arbeiten, pensioniert. Doch selbst das ging dem Ärzteverband zu weit.»

Der Aufholbedarf ist riesig: Wie der Bundesrat im Herbst 2018 in der Antwort auf eine Motion Humbels schrieb, führt nur jede dritte Arztpraxis die Behandlungsdokumentation vollständig elektronisch. An diesem Zustand sei Gesundheitsminister Berset nicht unschuldig, sagen Beobachter. Das BAG habe es verpasst, beim EPD eine klare Führung zu übernehmen, findet der Ex-BAG-Mann Indra. «Wenn sich die Verwaltung nicht bewegt, müsste der politische Verantwortliche eingreifen.» Auch Ruth Humbel glaubt, die Digitalisierung habe bei Berset in seinen neun Jahren im Innendepartement nie Priorität genossen. «Es ist halt eine eher technische Angelegenheit.»

Bersets Sprecher Peter Lauener widerspricht. Der Bundesrat habe den ihm unterstellten Ämtern immer wieder klargemacht, dass ihm die Digitalisierung wichtig sei – etwa mit eigens dazu durchgeführten Amtsdirektorenkonferenzen. Im BAG habe er eine neue Abteilung Digitale Transformation geschaffen, deren Leiter Sang-Il Kim seit 2020 direkt in der Geschäftsleitung des Bundesamtes sitzt. Das BAG verfolge diverse Digitalisierungsvorhaben, betont Lauener.

«Beim elektronischen Patientendossier fehlte aber lang die gesetzliche Grundlage, dieser Prozess im Parlament brauchte seine Zeit.» Bei anderen Vorhaben wiederum seien komplexe Datenschutzfragen zu klären oder die Gesundheitslandschaft mit ihren vielen Akteuren verhindere eine rasche Umsetzung, erklärt Lauener. «Um dennoch gemeinsam voranzukommen, hat Bundesrat Berset einen nationalen Dialog Gesundheit zum Thema Digitalisierung angesetzt.»

Projekt zu Impfpass schubladisiert

Dennoch könnte die Schweiz bereits ein paar Schritte weiter sein – zum Beispiel beim elektronischen Impfpass, der angesichts der Corona-Pandemie schmerzlich vermisst wird. Jürg Lindenmann ist Präsident des Verbandes Digitale Gesundheit. 2012 verfasste er im Auftrag des Bundes und der Kantone eine aufwendige Machbarkeitsstudie für ein E-Impfdossier. Was ein Leuchtturmprojekt hätte werden sollen, verschwand in der Schublade.

«Die Leute beim BAG sagten, das Impfdossier passe nicht in die Architektur des EPD, deshalb lasse man es bleiben», erinnert sich Lindenmann. «Das hat mich erschüttert. Denn wenn die Architektur einer Software nicht zu den Bedürfnissen passt, müssen wir doch die Architektur anpassen – nicht umgekehrt!» Laut Lindemann wäre es gut möglich gewesen, ein Impfdossier unabhängig vom EPD aufzubauen und es im Nachhinein ins Patientendossier zu integrieren.

Nun hat der Bund in aller Eile myCOVIDvac aufgezogen, damit sich gegen Corona Geimpfte ausweisen können. Die Daten würden sicher in der Schweiz gespeichert und könnten später als Grundlage für eine internationale Corona-Impfbescheinigung dienen, ist auf der Website zu lesen. Doch Jürg Lindenmann ist skeptisch. «Das ist ein Gebastel, die Versäumnisse der Vergangenheit lassen sich nicht einfach so aufholen.»

Schwer hat es die Digitalisierung aber nicht nur wegen der Trägheit der Politik, sondern auch wegen der hiesigen Mentalität. Die Bevölkerung legt höchsten Wert auf den Datenschutz, das zeigte sich in den letzten Monaten bei den Diskussionen um die E-ID und die Corona-Warn-App. Während die Dänen dem Staat und seinen E-Health-Lösungen voll vertrauen, haben die Schweizer Angst, dass sensitive Daten an die Öffentlichkeit kommen und sie selbst zu «gläsernen Patienten» werden könnten.

Nationalräte erhöhen Druck auf Berset

«Datenschutz darf doch nicht über Gesundheitsschutz gestellt werden», sagt die Mitte-Politikerin Humbel. Sie glaubt, dass die Behörden die Stimmbürger von den Vorzügen eines stärker digitalisierten Gesundheitswesens überzeugen könnten, wenn sie es denn nur probieren würden. «Die Patienten würden profitieren, wenn die Rettungskräfte bei einem Unfall sofort Zugriff auf Informationen wie die Blutgruppe hätten. Oder wenn dank einer brauchbaren Datengrundlage Transparenz herrschen würde, welche Ärzte und Spitäler hohe medizinische Qualität bieten – und welche nicht.»

Mit der Unterstützung von Nationalratskollegen aus der SVP, der SP, der FDP und der GLP erhöht Humbel nun den Druck auf den Bundesrat. Dieser solle endlich einen verbindlichen Zeitplan für die Digitalisierung zentraler Gesundheitsdaten vorlegen, fordert sie in einer im Dezember eingereichten Motion. Humbels Fahrplan: In einem Jahr soll ein patiententaugliches Impfdossier vorliegen. In zwei Jahren müsste ein einheitlich strukturierter elektronischer Datenaustausch zwischen Leistungserbringern und Behörden funktionieren. Und in fünf Jahren wäre die Verwendung der E-Patientendossiers für alle Leistungserbringer vom Apotheker bis zum Spital obligatorisch.

Es wartet also viel Arbeit auf Sang-Il Kim und seine Digitalisierungsequipe im BAG. Vielleicht ist die Schweiz dann vorbereitet, wenn irgendwann die nächste Pandemie heranrollt.

Mitarbeit: Niels Anner, Kopenhagen

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Christian Schürch

Schuld an dieser Misere sind Leute wie "Mister Corona" Daniel Koch, seit Jahren zuständig für solche Aufgaben, die sich aber, anstatt die Probleme anzupacken, lieber als grossartige Retter in den Medien verkaufen. Leider fallen viel zu viele Leute (und die Medien) darauf herein.

Thomas Gallmann

Im Spital wo ich auch arbeite kann ich zwar auf jeden Patienten zugreifen, dann jeden Bericht öffnen und mit ein Paar Klicks auch Laborbefunde und Röntgenbilder finden. Es ist praktisch weil ich die physischen Dokumente nicht holen muss, aber es ist eher umständlicher und sicher nicht schneller, als einen Ordner durchzublättern. Und wenn ich kein Elefantengedächtnis habe, muss mich mir bei komplexen Fällen die Diagnosen und Therapien auf einen Zettel notieren, um dann einen Überblick zu haben. Das mit einer gut organisierten Krankengeschichten-Software in einem modernen Spital. In der Praxis ist die Software vor allem teuer und bis jetzt scheren sich die Anbieter nicht um eine Kompatibilität zwischen den Systemen. Bei einer Übergabe kann bestenfalls ein PDF Auszug elektronisch ¨übermittelt werden, zwar schneller als physisch mit der Post, aber das Sichten der Daten ist genau so umständlich wie auf Papier.  Im Vergleich dazu, wie man in Internetshops Artikel und Leistungen bestellen kann - bis zu einem Hypothekardredit o.ä., ist das Steinzeit.  Weiter sind Gesundheitsdaten besonders schutzwürdig, was die Sache auch kompliziert. Ich empfehle meinen Patienten den elektronischen Impfausweis: Die wenigsten kämpfen sich durch das Programm durch. Selbst die IT versierten ziehen es vor, die Impfkarte mit dem Handy zu fotografieren und so immer greifbar zu haben. Ob solche Zustände zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung führen, kann sich jeder selbst überlegen.