Die Mär von den überoperierten Privatversicherten

Wer eine Spitalzusatzversicherung hat, wird häufiger Opfer von geldgierigen Chirurgen: So lautet eine weit verbreitete Erzählung. Sie erweist sich nun als falsch.

Simon Hehli
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Werden Privatversicherte häufiger operiert? Eine neue Studie widerspricht diesem scheinbaren Naturgesetz des Gesundheitswesens.

Werden Privatversicherte häufiger operiert? Eine neue Studie widerspricht diesem scheinbaren Naturgesetz des Gesundheitswesens.

Annick Ramp / NZZ

Es wimmelt nur so von Fehlanreizen im Schweizer Gesundheitswesen. Und einer der gravierendsten, so lautete bisher eine kaum bestrittene Gewissheit, betrifft Privat- und Halbprivatversicherte: Diese laufen Gefahr, überbehandelt zu werden. Denn ein Eingriff bei diesen Patienten ist für Spitäler und Ärzte so lukrativ, dass sie lieber einmal zu viel operieren als einmal zu wenig – zum Schaden von Portemonnaie und Gesundheit. Eigentlich logisch. Doch stimmt das überhaupt? In einer Studie kommt das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan), eine gemeinsame Institution von Bund und Kantonen, zu einem überraschenden Befund.

Mitten in der Pandemie unter dem staubtrockenen Titel «Personen mit und ohne Spitalzusatzversicherung» publiziert, fand die Untersuchung bisher kaum mediales Echo. Zu Unrecht, denn die zentrale Erkenntnis ist gesundheitspolitisch brisant: Privat- und Halbprivatversicherte nehmen nicht häufiger Spitalleistungen in Anspruch als Allgemeinversicherte. Der Anteil der Personen, die 2017 einen stationären Eingriff vornehmen liessen, betrug bei beiden Gruppen rund 13 Prozent.

Gute Nachrichten sind dies insbesondere für die Vertreter der operierenden Zunft. Sie fühlten sich in den letzten Jahren als Sündenböcke für die stetig steigenden Gesundheitskosten – und erhalten nun Gegenargumente. Die Erkenntnis der Obsan-Studie decke sich mit seiner langen beruflichen Erfahrung, sagt der Orthopäde Atul Sukthankar, der die Gesellschaft Zürcher Belegärzte präsidiert. «Die Erzählung, dass wir Patienten unnötig operieren, widerstrebt meinem Verständnis unseres Berufs. Jeder Patient wird unabhängig von seinem Versicherungsstatus medizinisch optimal behandelt.» Belegärzte stünden mit ihrem Ruf in der Pflicht. Falsche Versorgung oder unnötige Operationen würden diesen ruinieren.

Belege für Überarztung

Aus der Luft gegriffen waren die Vorwürfe an die Chirurgen allerdings nicht. 2016 erschien ein vielbeachtetes Papier des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), für das die Autoren Daten von 2012 verwendeten. Sie konnten belegen, dass an Privatversicherten deutlich häufiger komplexe Eingriffe am Knie, Hüftoperationen oder Kaiserschnitte vorgenommen werden. Ist dieses Papier nun obsolet?

Das Gesundheitsobservatorium gibt auf diese Frage keine abschliessende Antwort. Eine Erklärung für die anderen Resultate könnte in der Methodik liegen: Die neue Studie geht nicht auf Unterschiede bei einzelnen chirurgischen Disziplinen und zwischen Notfall- und Wahleingriffen ein. Wenn man davon ausgeht, dass der Versicherungsstatus eines Patienten ausschlaggebend für einen Eingriff sein kann, dann ist dies eher bei einer planbaren Knieoperation der Fall als bei einem Herzinfarkt.

Einige Fachleute verfechten nun die These, dass sich seit 2012 tatsächlich einiges zum Besseren verändert habe. Der Krankenkassenexperte Felix Schneuwly vom Vergleichsdienst Comparis sagt, die Patientinnen und Patienten seien vorsichtiger geworden in Bezug auf chirurgische Eingriffe. Sie würden vermehrt nach konservativen Behandlungsalternativen fragen und Zweitmeinungen einholen – auch dank der medialen Debatten. Gleichzeitig seien sich auch die Privatkliniken und die Belegärzte stärker des Reputationsrisikos von überflüssigen OPs bewusst geworden, sagt Schneuwly. So hat sich der Chirurgenverband FMCH einen «Code of Conduct» gegeben, um jene Mitglieder sanktionieren zu können, die zu oft zum Skalpell greifen.

Viel mehr Transparenz bei Spitälern

Für Wolfram Strüwe, den Leiter Gesundheitspolitik bei der Helsana, ist entscheidend, dass heute in der Spitallandschaft viel mehr Transparenz herrscht. Grund dafür ist das 2012 eingeführte System mit Fallpauschalen. So liessen sich die Leistungen der Spitäler viel besser vergleichen, und «schwarze Schafe» unter den Ärzten würden eher auffallen.

Gleichzeitig seien auch die Privatversicherer strenger geworden, betont Strüwe. «Sie schauen genauer hin, bevor sie eine Kostengutsprache für einen aufwendigen Eingriff erteilen – und bei den Kundinnen und Kunden gibt es mehr Verständnis dafür, dass die Versicherer die Kosten im Griff behalten wollen.» Manche Unternehmen wie die Helsana versuchen dieses Ziel mit neuen Produkten zu erreichen, die keine freie Spitalwahl mehr vorsehen. Das hätten Privatversicherte früher kaum goutiert, doch heute ist der Kunde nicht mehr einfach König.

Die Finanzmarktaufsicht schaut bei den Spitalzusatzversicherungen genauer hin, und auch der wirtschaftliche Druck hat zugenommen. Zwar ist der Anteil der Privatversicherten an der Gesamtbevölkerung von 2012 bis 2017 nur leicht gesunken. Aber wie profitabel dieser Bereich bleibt, ist offen. Die Zusatzversicherungen für das Spital sind teuer und bieten immer weniger Mehrwert. Erstens sind die Leistungen der Schweizer Grundversicherung bereits sehr umfassend. Zweitens gehören «Achterschläge» der Vergangenheit an, moderne Spitäler bieten auch Grundversicherten Einer- oder Zweierzimmer an. Und drittens werden immer mehr Operationen ambulant durchgeführt, so dass den Patienten eine stationäre Zusatzversicherung wenig nützt.

Es gibt also durchaus Gründe, die dafür sprechen, dass die Obsan-Statistik eine reale Entwicklung abbildet. Doch nicht alle Kritiker sind überzeugt. Daniel Scheidegger, der Vizepräsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und früherer Chefarzt Anästhesie, sagte 2017 in einem Interview mit der NZZ, bei Privatversicherten sei die Gefahr grösser, dass die Ärzte unsinnige Sachen machten, weil es so lukrativ sei. «Einem Allgemeinversicherten will niemand ein Kniegelenk andrehen, wenn es der Patient noch gar nicht braucht und er keine Schmerzen hat.»

Hat sich nichts verändert?

Scheidegger bezweifelt die Aussagekraft der Obsan-Untersuchung und glaubt nicht, dass seine damalige Behauptung ungültig geworden sei. «Die Frage, ob sich in den letzten Jahren etwas verändert hat, muss ich klar verneinen. Operierende haben nie das Gefühl, einen unnötigen Eingriff durchzuführen. Für sie stimmt die Indikation immer.» Dazu komme, dass sie auch von ihrem Arbeitgeber zu solchen lukrativen Eingriffen ermutigt würden.

Auch der BAG-Vizedirektor Thomas Christen mag noch nicht an ein Verschwinden der Fehlanreize glauben und hält im Vorwort zur Obsan-Studie an den gegenteiligen Erkenntnissen der Studie von 2016 fest. Das erstaunt wenig, steht doch Christen als ehemaliger SP-Generalsekretär und Promoter einer Einheitskasse den Zusatzversicherungen kritisch gegenüber – und gönnt ihnen dementsprechend keine positiven Meldungen.