Kein Geld für neue Therapien - Willkür im Gesundheitswesen

von Bericht: Andreas Cichowicz

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Zu teuer, zu ineffizient, marode. Selten sind sich Fachleute so einig. Wenn es um unser Gesundheitswesen geht, dann meinen alle, es muss etwas geschehen, und zwar schnell - nur was? Da werden viele gute, aber auch abstruse Vorschläge diskutiert, zum Beispiel Ärzte nach Leistung, also nach Behandlungserfolgen zu bezahlen. Ja, und dann werden für das kommende Jahr auch wieder Beitragserhöhungen der Krankenkassen in Aussicht genommen. Umso aberwitziger erscheint da ein Beschluss, für den sich der Bundesausschuss für Ärzte und Kassen ausgesprochen hat: Neue Therapien, deren Nutzen längst anerkannt ist, dürfen in Zukunft wohl nur noch abgerechnet werden, wenn die Behandlung im Krankenhaus erfolgt, auch wenn es ambulant ebenso erfolgreich möglich wäre.

Kein Geld für neue Therapien: Willkür im Gesundheitswesen
Zu teuer, zu ineffizient, marode. Im Gesundheitswesen stehen 2000 dringende Änderungen an. Aber wohin geht der Weg?

Über eine neue, unsinnige Variante im Streit um die Finanzierung und Verwaltung der Volksgemeinschaft berichtet Andreas Cichowicz.

KOMMENTAR:

Caterina Flohr, Abiturientin, 18 Jahre alt. Eine hübsche junge Frau. Niemand ahnt, dass sie vor ein paar Monaten nur knapp dem Tod entging. Und das beim Zahnarzt, als sie sich die Weisheitszähne ziehen ließ. Plötzlich blähte eine Infektion ihr Gesicht auf. Akute Lebensgefahr - ein Notfall.

Hier wurde sie eingeliefert, in das nächstgelegene Druckkammerzentrum, eine ambulante Einrichtung von Ärzten. Die konnten sie gerade noch retten, mit einer Sauerstofftherapie. Zurück blieben eine Narbe und viel Ärger. Weil sie ambulant behandelt worden war, weigerte sich die Kasse, die Therapie zu bezahlen.

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STEFAN GENSLER:

(Arzt)

"Es ist im Prinzip ein Verlustgeschäft, aber um die Patientin zu retten, wurde sie freundlicherweise hier in die Intensivstation aufgenommen. Und uns freut es besonders, denn sie hat also wirklich überlebt. Viele Patienten sind früher daran gestorben."

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CATERINA FLOHR:

(Patientin)

"Ich finde, das ist eigentlich im Prinzip das Allerletzte, zu sagen, wir streichen die Gelder. Und damit könnte es passieren, dass Patienten sterben, weil sie halt nicht in die Druckkammer kommen können."

KOMMENTAR:

Die Sauerstofftherapie ist auch erfolgreich bei komplizierten Wunden, bei Taucherunfällen, Gasbrand und Rauchvergiftung. Die Methode ist relativ neu: Sauerstoff bei hohem Druck in einer Kammer, die aussieht wie ein Raumschiff. Weil die technische Ausstattung Millionen kostet, ist die Therapie teuer, bis zu 3.000 Mark pro Sitzung. Und die dauert mehrere Stunden. In Deutschland gibt es 80 Druckkammerzentren wie dieses, die ambulant betrieben werden. Und genau für diese dürften die Kassen die Therapiekosten nicht mehr bezahlen. Nur wenn die Behandlung stationär erfolgt, also im Krankenhaus, dann müssen sie zahlen. Völlig absurd - aus Sicht der Kassen.

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JÖRG BODANOWITZ:

(DAK)

"Es ist ein eklatanter Widerspruch, den wir unseren Versicherten überhaupt nicht erklären können, daß zum Beispiel die hyperbare Sauerstofftherapie mit Erfolg im stationären Bereich weiter angewendet wird und werden darf und wir auch zahlen über die Pflegesätze, aber im ambulanten Bereich nicht dafür aufkommen können. Letztlich werden hier unsere Versicherten vom medizinischen Fortschritt abgeschnitten."

KOMMENTAR:

Ein Widerspruch mit grotesken Folgen. Patienten werden notfalls quer durch Deutschland geflogen, in ein Krankenhaus mit eigener Druckkammer. Davon gibt es in Deutschland nur sieben. Tausende Mark Flugkosten statt ambulanter Behandlung in der Nähe - kein Problem für die Kasse. Und das alles, weil die Ärztevertreter die ambulante Sauerstofftherapie ablehnten. Im "Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen" überstimmten sie die Kassen. Und was der Ausschuss entscheidet, gilt wie ein Gesetz. Selbst der Vorsitzende muss eingestehen:

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KARL JUNG:

("Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen")

"Das versteht niemand. Aber das ist bisher eine Lücke, dass der Gesetzgeber sich ausschließlich auf den ambulanten Bereich bezogen hat und der stationäre Bereich da weitestgehend offen war."

KOMMENTAR:

In Wahrheit, so Experten, gehe es den Ärzten aber ums eigene Geld, denn sie wollten privat abrechnen, ohne strenge Budgetierung - neue Therapien als neue Einnahmequellen.

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JÖRG BODANOWITZ:

(DAK)

"Die Ärzte nutzen den Bundesausschuss zur Zeit, um sinnvolle Leistungen, insbesondere aus dem Bereich der Naturheilverfahren und Verwandtes, auszuschließen, zu verhindern, um diese Leistungen dann privat anzubieten und eben nicht über die Chipkarte abzurechnen. Hier stehen ganz massive finanzielle Interessen dahinter."

KOMMENTAR:

Im Klartext: Patienten abkassieren. Manche Patienten reagieren hilflos, andere wie Inka Charelle setzen die Kassen unter Druck, doch zu zahlen. Sie fand sich nicht damit ab, dass ihre Kasse schon vor der ambulanten Therapie warnte, sie werde nicht zahlen.

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INKA CHARELLE:

(Patientin)

"Ich habe mich trotzdem entschlossen, die Therapie zu machen, und es war erfolgreich, und ich bin heilfroh, dass ich es gemacht habe. Ja, ich habe es aber auch nicht eingesehen, dass ich die Kosten selbst tragen muss, und habe daraufhin meine Kasse verklagt und habe den Prozess gewonnen."

KOMMENTAR:

Inge Lembckes Sauerstofftherapie hat ihre Kasse, die DAK, sofort bezahlt. Sie hatte Glück. Anneliese Jungclaus hatte Pech: Dieselbe Kasse, die DAK, zahlte bei ihr nicht. Dabei haben beide die gleiche Krankheit: Wunden im Kiefer nach einer Krebsbestrahlung.

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HEINO JUNGCLAUS:

(Ehemann der Patientin)

"Das kann nicht sein, denn ich denke, alle Menschen sind auch vor Gott gleich, ob arm, ob reich. Ich habe wahrscheinlich genauso viel einbezahlt wie die andere Patientin. Warum wird das bei der bezahlt? Ich verstehe das nicht. Also das ist ein Unding in meinen Augen."

KOMMENTAR:

Doch fast jede Kasse entscheidet im Einzelfall anders. "Die gesetzlichen Bestimmungen lassen keine Kostenübernahme zu", schreibt die Technikerkrankenkasse. "Wir freuen uns, dass wir die Kosten übernehmen können", dagegen die AOK Hamburg. "Dem Antrag auf Kostenerstattung kann nicht entsprochen werden", wiegelt dagegen die Gmünder Ersatzkasse ab.

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KARL JUNG:

("Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen")

"Da wird vieles getan, was nicht dem Buchstaben des Gesetzes entspricht, sondern was Wettbewerbshintergründe hat. Um den Versicherten als Mitglied nicht zu verlieren, werden da Dinge bezahlt, die es an sich nach den allgemeinen Regeln nicht geben könnte."

KOMMENTAR:

Eine zynische Sichtweise - die Dummen sind am Ende immer die Patienten. Heino Jungclaus hat vierzig Jahre in die Kasse einbezahlt. Jetzt, wo seine Frau Hilfe braucht, wird sie verweigert. Die teure Sauerstofftherapie selbst zu zahlen, das wird das Ehepaar ruinieren.

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HEINO JUNGCLAUS:

"Ich kann es mir im Prinzip nicht leisten, bloß ich sage, mir geht die Gesundheit meiner Frau vor. Wir haben ein kleines Haus, und mir ist es wichtig, dass meine Frau gesund wird, und wenn das eben das Haus kosten sollte."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

So oder ähnlich wird es wohl vielen gehen. Die Ärztefunktionäre bleiben davon unbeeindruckt.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 27.04.2000 | 21:00 Uhr