Welches Instrument bildet Pflegeleistungen realistisch ab? Die Arbeitslast auf Intensivstationen nimmt für das Pflegepersonal kontinuierlich zu. Dieses Problem hat sich durch die COVID-19 Pandemie verstärkt. In Deutschland werden verschiedene Systeme zur Erfassung der Pflegeleistung auf der Intensivstation und der daraus resultierenden Personalbedarfsberechnung angewendet. Zwei dieser Systeme stehen in diesem Beitrag im Vergleich: TISS-28 und INPULS®.

Eine adäquate Personalberechnung sowie die Abbildung von Leistungen der stationären Intensivpflege in Deutschland steht bereits seit vielen Jahren zur Diskussion (Plücker 2014). Einflussfaktoren, welche die Situation der stationären Intensivpflege verschärfen und eine Notwendigkeit der systematischen Personalbemessung und Abbildung der anfallenden Leistungen katalysieren, sind steigende Bedarfe an intensivmedizinischer und pflegerischer Versorgung und eine vorherrschende Personalknappheit (Isfort 2010). Eine Unterbesetzung des Personals, vor allem in pflegesensitiven Bereichen, kann zu weitreichenden Konsequenzen führen (Buchan & Aiken 2008). Angeführt werden die Gefährdung der Patient*innennsicherheit sowie ein verschlechterter Outcome (Plücker 2014, Buchan & Aiken 2008, Karagiannidis et al. 2019, Aiken et al. 2002). Die Besetzungsstärke wird als zentrale Determinante der Pflegequalität betrachtet (DIVI).

Die Belastungen der Intensivpflege wird unter der vorherrschenden COVID-19 Pandemie verstärkt. In diesem Zusammenhang fordern Fachgesellschaften eine Stärkung der Intensivpflege mit am Pflegebedarf orientierten Personalbemessungsinstrumenten. Bisher existiert weder ein Goldstandard (Isfort 2013), der bundesweit in den Kliniken zur Erhebung der Personalausstattung im Intensivbereich eingesetzt wird, noch ein verbindlich politisch definierter Personalstandard (Rissen et al. 2018). Systeme, die derzeit in deutschen Kliniken zur Leistungserfassung und Personalberechnung in der Intensivpflege verwendet werden, sind der Therapeutic Intervention Scoring System-28 (TISS-28) (DIVI) und das Intensiv Pflege- und Leistungserfassungssystem (INPULS®) (UK Heidelberg).

Im Vergleich: Was leisten TISS-28 und INPULS®?

Die beiden Systeme TISS-28 und INPULS® sind den Scoring- und Klassifizierungssystemen zuzuordnen und dienen in ihren Grundzügen "zur vergleichbaren, vereinfachten Objektivierung eines komplexen, multiparametrischen Zustandes" (Fleig 2011).

Der TISS-28, entworfen von Miranda et al. (1996), ist eine verkürzte Version des ursprünglich 1974 von Cullen entwickelten TISS-76 Score. Primär wurde dieser entwickelt, um die Erkrankungsschwere sowie eine Prognose des Verlaufes der Patient*innen abzubilden. Diese werden in erster Linie aufgrund der Grunderkrankung und den damit verbundenen medizinischen Maßnahmen eingestuft, zudem werden Organsysteme und deren Funktion anhand von 28 Merkmalen beurteilt. Je höher die erreichte Gesamtpunktzahl, umso arbeits- bzw. pflegeaufwändiger gestaltet sich die Versorgung der Intensivpatient*innen. Eine Einteilung der Punktwerte in Schweregradklassen findet lediglich innerhalb des TISS-76 statt. Miranda et al. (1996) gaben jedoch in ihrer Validierungsstudie an, dass eine Pflegefachkraft einen Arbeitsaufwand von ca. 46,35 Punkten pro Schicht versorgen könne.

Es liegt keinerlei Evidenz vor, die den Zusammenhang des Ergebnisses des TISS-28 Scores und dem tatsächlichen Pflegeaufwand der Patient*innen auf einer Intensivstation belegt (Simon 2008, Reimers & Siegling 2009). Laut einer Analyse werden lediglich 43% pflegerischer Aktivitäten mittels des TISS-28 erfasst (KCQQ 2017). Zudem werden verschiedene Patient*innengruppen innerhalb des Scores nur unzureichend bis gar nicht abgebildet. Hierzu gehören Patient*innen im Delir, adipöse Patient*innen sowie Isolationsmaßnahmen von Patient*innen mit multiresistenten Erregern (Guenther et al. 2016, Giuliani et al. 2018).

INPULS® wurde zwischen 1997 und 2000 von Pflegefachpersonen für Anästhesie- und Intensivmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg entwickelt. Mit Hilfe des Systems können Kennzahlen für die Abbildung der Kosten- und Erlössituation einer Intensivstation über die Gewichtung der Pflegeminuten generiert werden. Ebenso werden Kennzahlen wie beispielsweise Belegung, Auslastung und Beatmungsdauer erhoben. Hieraus kann eine Pflegepersonalbedarfsberechnung erfolgen. Neben der medizinischen Therapie werden bei INPULS® auch die durchgeführten pflegerischen Leistungen in der Eingruppierung der Patient*innen berücksichtigt und abgebildet.

Anhand ausgewählter Merkmale (z.B. Beatmung, Grad der Unterstützung bei Körperpflege oder Mobilisation) werden die Patient*innen täglich retrospektiv für den Vortag einer von sechs Pflegekategorien, denen jeweils Pflegeminuten hinterlegt sind, zugeordnet. Diese bilden den durchschnittlichen Pflegeaufwand der entsprechenden Kategorie in 24 h ab. Die Intensität der Merkmale und somit auch der Pflegeaufwand nimmt mit höherer INPULS® Kategorie zu. Die Merkmale zur Eingruppierung sind in einem Katalog festgehalten, welcher regelmäßig durch alle Anwenderkliniken evaluiert und evidenzbasiert angepasst wird.

Eine Schwäche von INPULS® ist, dass die festgelegten Minutenwerte nicht empirisch belegt, sondern aus Erfahrungswerten generiert wurden. Dennoch ist es vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) als Instrument zur Leistungserfassung anerkannt (Wilczek 2019).

Wissenschaftliche Herangehensweise

TISS-28 weist in seiner Verwendung als System zur Erhebung des Pflegeaufwandes einige, bereits aufgeführte Schwachpunkte auf. Ihm gegenüber steht INPULS® als Leistungserfassungssystem. Mittels einer quantitativ analytischen Beobachtungsstudie wurden in einem 31-tägigen Zeitraum retrospektiv die Daten von Patient*innen auf der Intensivstation (ITS) und der Intermediate-Care-Station (IMC) erfasst und ausgewertet.

Das Ziel hierbei war, die Abschätzung des Pflegeaufwandes durch TISS-28 und INPULS® aufzuzeigen. Zusätzlich wurde die Abbildung des Pflegeaufwandes durch die im intensivmedizinischen Bereich verbreiteten Scores (SAPS II, APACHE II und SOFA) untersucht. Vor Beginn der Studie wurde ein positives Votum der zuständigen Ethikkommission (Nr.: S-731/2020) eingeholt.

Setting und Methodischer Aufbau

Durchgeführt wurde die Studie auf den Stationen E0 (IMC) und E99 (ITS) der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie und der Klinik für Anästhesiologie an der Chirurgischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg. Die Station E0 umfasst 24 Überwachungsbetten, die Station E99 16 Intensivbetten, von denen zum Zeitpunkt der Studie zwölf Betten betrieben wurden. Betreut werden auf den jeweiligen Stationen kritisch kranke Patient*innen nach erfolgten großen Operationen des Bauchraumes und/oder an Gefäßen und im Rahmen der Notfallversorgung.

Eingeschlossen wurden alle volljährigen Patient*innen, die mindestens 24 Stunden auf einer der beiden Stationen aufgenommen waren. Um den Pflegeaufwand der Patient*innen objektiv einschätzen zu können, wurde durch die fachliche Expertise der Studienverantwortlichen in Zusammenarbeit mit den pflegerischen Leitungen der beteiligten Stationen ein experimentelles Scoring-Tool entwickelt (Abb. 1, e only). Für den Zeitraum der Studie wurden alle eingeschlossenen Patient*innen somit zusätzlich in diesen experimentellen Pflegescore eingestuft. Alle Eingruppierungen erfolgten retrospektiv anhand der in der Patientenkurve dokumentierten Pflegeleistungen. Als Kategorien des experimentellen Pflegescores wurden Merkmale und Tätigkeiten gewählt, die sowohl in der Literatur (Guenther et al. 2016, Giuliani et al. 2018) als auch in der täglichen Praxis als pflegeaufwändig beschrieben und erlebt werden. Die Gewichtung der zu vergebenden Punkte erfolgte ebenfalls durch die fachliche Expertise der beschriebenen Arbeitsgruppe und orientiert sich am benötigtem Unterstützungsgrad der Patient*innen und dem (Mehr-)Aufwand der durchgeführten Maßnahme für die Pflegekraft.

Analyse der Daten und Ergebnisse

Insgesamt wurden 845 vollständige Datensätze von 125 Patient*innen erfasst und für die Studie verwendet. Hiervon wurden 261 Datensätze von 37 unterschiedlichen Patienten*innen auf der ITS und 584 Datensätze von 100 unterschiedlichen Patienten*innen auf der IMC generiert. Anlässlich des Aufenthaltes einiger Patienten*innen auf beiden Stationen innerhalb des Erhebungszeitraums und der oftmals damit einhergehenden langen Verweildauer kam es dazu, dass einzelne Patienten*innen auf beiden Stationen mehrere Datensätze generierten. Es wurden Daten von 82 Männern (65,6%) und 43 Frauen (34,4%) eingeschlossen. Das mittlere Alter betrug 60,59 Jahre (SD ±4,072). Die durchschnittliche Verweildauer betrug für die ITS 7,05 Tage und für die IMC 5,84 (ohne Aufnahme- und Entlassungstag). Der Großteil der Patient*innen war mit 81,6% der Sektion Viszeralchirurgie zugeordnet. Bei 92,8% der Patient*innen wurde während des stationären Aufenthaltes ein operativer Eingriff durchgeführt.

Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mittels IBM SPSS (Version 26). Die Überprüfung des Hauptzielkriteriums (Einfluss von TISS-28 und INPULS® auf den experimentellen Pflegescore) wurde mittels des Pearson Rangkorrelationskoeffizient erhoben. Multiple lineare Regressionsmodelle dienten der Beschreibung des Einflusses der übrigen Scores (SOFA, SAPS II, APACHE II) auf den Pflegebedarf. Die Datensätze beider Stationen wurden getrennt voneinander analysiert, um mögliche Unterschiede in der Intensität der einzelnen Scores und innerhalb der Bereiche zu detektieren. Die statistische Signifikanz wurde als p < 0.05 für alle Analysen definiert.

Ergebnisse - ITS: Auf der ITS wurden insgesamt 261 Datensätze erhoben. Der Pflegescore lag im Mittel bei 14,42 Punkten (SD ±3,723). Die TISS-28 Punkte lagen in ihrem Mittel bei 33,93 (SD ±6,2). Die durchschnittliche INPULS® Kategorie lag bei 3,97 (SD ±0,794) (Tab. 1, e-only). Es zeigte sich eine höhere Korrelation zwischen Pflegescore und INPULS® mit einem Wert von 0,688 als zwischen Pflegescore und TISS-28 mit einem Wert von 0,443. Beide Ergebnisse sind signifikant (p<0.0001).

Ergebnisse - IMC: Auf der IMC wurden insgesamt 584 Datensätze erhoben. Der Pflegescore lag im Mittel bei 8,59 Punkten (SD ±2,524). Die TISS-28 Punkte lagen in ihrem Mittel bei 25,95 (SD ±6,164). Die durchschnittliche INPULS® Kategorie lag bei 2,97 (SD ±0,57) (Tab. 2, e-only). Es zeigt sich eine deutlich höhere Korrelation zwischen Pflegescore und INPULS® mit einem Wert von 0,605 als zwischen Pflegescore und TISS-28 mit einem Wert von 0,172. Beide Ergebnisse sind signifikant (p<0.0001).

Wie in den Tabellen 1 und 2 zu sehen, herrscht auf beiden Stationen eine höhere Korrelation zwischen dem experimentellen Pflegescore und INPULS® im Vergleich zu TISS-28. Dies legt nahe, dass INPULS® eher in der Lage ist, die erbrachte Pflegeleistung auf einer ITS und IMC Station realitätsgetreuer abzubilden als TISS-28. Die übrigen Scorings-Systeme zur Einschätzung der Krankheitsschwere und des prognostizierten Verlaufs (APACHE II, SOFA, SAPS II) lassen aufgrund ihrer niedrigen Korrelation mit dem experimentellen Pflegescore nur bedingt Rückschlüsse auf die Pflegebedürftigkeit zu. Bei Betrachtung der Ergebnisse wird ersichtlich, dass der experimentelle Pflegescore auf der ITS mit durchschnittlich 14,42 Punkten deutlich höher ausfällt als auf der IMC mit durchschnittlich 8,59 Punkten. Dieser Unterschied spiegelt ebenfalls die Durchschnittswerte von TISS-28 und INPULS® auf den beiden Stationen wider. Auch innerhalb der Auswertung der einzelnen Stationen zeigte sich, dass mit zunehmender Punktzahl im Pflegescore die Patient*innen in eine höhere INPULS® Kategorie eingruppiert waren. Diese Beobachtung ließ sich nicht auf TISS-28 übertragen, da hier die Range der erreichten Punktwerte deutlich größer war (Abb. 2-3, e-only). Mögliche Begründungen für den festgestellten Unterschied zwischen ITS und IMC können ein höheres Aufkommen invasiv beatmeter Patient*innen sein, eine höhere Krankheitsschwere und die damit verbundenen stark eingeschränkten Möglichkeiten der Patient*innen, Aufgaben des täglichen Lebens selbstständig durchzuführen. Zudem wurden bei Patient*innen auf der ITS häufiger invasive Maßnahmen, vor allem extrakorporale Verfahren, angewandt.

Auf beiden Stationen waren die Patient*innen mit den höchsten Punktwerten im experimentellen Pflegescore auch ausnahmslos in den höchsten INPULS® Kategorien der Station vertreten. Der TISS-28 Wert wies bei dieser Gruppe der Patient*innen allerdings eine deutlich höhere Range auf (Abb. 2-3, e-only). Die Ergebnisse limitieren sich durch den rein zu Studienzwecken erstellten, nicht evidenzbasierten Pflegescore. Zudem werden sie stark von der Qualität der jeweiligen Dokumentation in den Patient*innenkurven beeinflusst. Durch die monozentrische Durchführung der Studie und dem Schwerpunkt des Klientel auf den viszeralchirurgischen Bereich, sind die Ergebnisse nur bedingt repräsentativ. Es ergibt sich weiterer Forschungsbedarf um allgemeingültige Aussagen treffen zu können.

Die folgenden Dokumente erhalten Sie online über das eMagazin der PflegeZeitschrift und auf springerpflege.de:

Literatur

Abb. 1: Experimenteller Pflegescore

Abb. 2 und 3: Streudiagramme

Tab. 1 und 2: Ergebnisse der Stationen E99 ITS und E0 IMC