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Entspannung an Kerckhoff-Klinik nur auf ersten Blick: „Bugwelle behandlungsbedürftiger Patienten“

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Die Bad Nauheimer Kerckhoff-Klinik zieht die Zügel straffer. Dort gelten ab heute strengere Corona-Regeln.
Viel zu tun bleibt an der Kerckhoff-Klinik auch im Sommer – obwohl das Coronavirus Deutschland gerade eine Verschnaufpause gönnt. © Nicole Merz/Archiv

In der Bad Nauheimer Kerckhoff-Klinik gibt es eine große Herausforderung: Um Menschen, deren Behandlung wegen der Pandemie aufgeschoben worden ist, muss sich dringend gekümmert werden.

Bad Nauheim – Einerseits kann sich das Team der Bad Nauheimer Kerckhoff-Klinik über eine Entspannung in Sachen Covid-19 freuen. Andererseits ist die Sorge vor einer vierten Welle da. Und Patienten, die wegen der Pandemie auf ihre Behandlung warten mussten, weil andere Behandlungen als dringender eingestuft wurden, müssen jetzt versorgt werden. Dr. Simon Classen, Direktor des Harvey-Gefäßzentrums und Ärztlicher Direktor der Kerckhoff-Klinik, spricht über die Lage, die sich nur scheinbar entspannt hat.

Entspannung - Die sinkenden Corona-Zahlen spiegeln sich laut Classen auch darin wider, dass in der Kerckhoff-Klinik derzeit (Stand Freitag) keine Covid-19-Patienten behandelt werden müssen. »Seit Anfang Juni erleben wir eine deutliche Entlastung auf unserer Intensiv- und Isolationsstation. Dadurch kommt ein größeres Maß an den bislang tendenziell eher dem Notfallbetrieb zuzuordnenden Themen in die Zentren und Abteilungen zurück.«

Personal - Die Erleichterung der Krankenhäuser wird laut Classen von dem politischen Willen begleitet, die Pflege durch Pflegepersonaluntergrenzen zu unterstützen. Dass in Kliniken Pflegepersonal fehle, habe zur Folge, dass Betten und damit oft auch Behandlungsplätze nicht genutzt werden könnten, erläutert der Ärztliche Direktor. »In einem fortlaufenden Normalbetrieb ist das ein schwieriges Unterfangen, mit weniger einsetzbaren Betten die gewohnte zeitnahe Versorgung unserer behandlungsbedürftigen Patienten sicherzustellen«, gibt der Facharzt zu bedenken. »Zusätzlich sind wir aufgefordert, eine bestimmte Anzahl an Betten für Covid-19 Patient*innen freizuhalten.«

Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim: Durch Corona viele Behandlungen aufgeschoben

Bugwelle - »Die neue Herausforderung besteht darin, die Patienten, deren Diagnostik und Therapien im letzten Jahr verschoben wurden, zu behandeln«, sagt Classen und spricht von einer »Bugwelle behandlungsbedürftiger Patienten, die sich vor uns aufgebaut hat«. Diese Bugwelle werde die Mediziner noch lange fordern. Gerade auch, weil sich durch die Verschiebung der Gesundheitszustand von Patienten verschlechtert habe. Außerdem gelten die erweiterten Maßnahmen zum Infektionsschutz. Es bleibe folglich wenig Luft zum Durchatmen, sagt Classen - »und dennoch bringen unsere Mitarbeitenden jeden Tag außergewöhnliche Leistungen«.

Operationen nachholen - »Selbst die Patienten, die als planbar eingestuft werden, haben eine gewisse Dringlichkeit«, erklärt Classen. »Während der drei Lockdown-Phasen mussten wir immer wieder abwägen, ob eine behandlungswürdige Erkrankung noch Wochen oder Monate Zeit hat, um in der akuten Pandemie-Phase Patienten, die vielleicht nur noch Stunden oder Tage haben, vorzuziehen.« Noch würden einige Patienten auf wichtige Eingriffe an Herz, Lunge und Gefäßen warten, »die wir jetzt schnellstmöglich versuchen zu behandeln«. Hinzu kämen neu vorgestellte Patienten und Notfälle.

Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim: „Weniger Behandlungsplätze für Schwerstkranke“

Schwerstkranke - »Gesicherte Daten fehlen noch, aber der Eindruck scheint sich zu bestätigen, dass sich viele Menschen mit deutlich schwereren Krankheitsbildern verspätet vorstellen«, erläutert Classen. »Wir haben aufgrund der intensiveren und auch längeren Betreuung von Patienten faktisch weniger Behandlungsplätze für die schwerstkranken Patienten zur Verfügung.« So würden Zahlen beispielsweise belegen, dass der Anteil gefäßkranker Patienten mit den schwersten Formen und Stadien der Erkrankung, der sogenannten kritischen Ischämien, im Kerckhoff-Gefäßzentrum und anderen Kliniken steige.

Rückgängig machen? - Mit modernen Methoden und wissenschaftlicher Begleitung lasse sich viel erreichen, um dem einzelnen Patienten zu helfen, sagt Classen. »Leider können wir den Verlauf nicht bei allen Erkrankungen rückgängig machen. Geschädigtes Herzmuskelgewebe kann sich beispielsweise nur in begrenztem Umfang regenerieren. Auch der Verlust eines durchblutungsgestörten Beins ist nicht ersetzbar. Dennoch gibt es Fälle, bei denen die Erkrankung noch erfolgreich behandelbar ist.«

Corona-Spätfolgen - »Wer Covid-19 überstanden hat, leidet häufiger an Spätfolgen«, gibt Classen zu bedenken. »Lunge, Muskeln, Gehirn, Herz oder Nieren können dauerhaft geschädigt sein. Betroffene klagen des Öfteren über chronische Müdigkeit oder anhaltende Störungen des Geruch- und Geschmacksinns.« Ein Teil der Patienten, die nach einer Covid-19-Lungenentzündung aus dem Krankenhaus entlassen werden, weise wahrscheinlich bleibende Einschränkungen der Lungenfunktion auf. Classen weiter: »Wir können auch hier noch keine konkreten Zahlen nennen«, sagt Classen. Der Zusammenhang scheine aber auf der Hand zu liegen. Durch eine gut organisierte Nachsorge bei einem Lungenfacharzt könnten die Erkrankungsursachen erkannt und die richtige Therapie angesetzt werden. Die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Lungenfachärzten, Internisten und der Kerckhoff-Klinik auf den Gebieten Herz-Lunge und Gefäße müsse weiter intensiviert werden.

Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim: Sorgenvoller Blick auf Corona-Variante

Blick nach vorne - Beim Blick in die Zukunft befasst sich Dr. Simon Classen sowohl mit der Frage, wie viel Pflegepersonal zur Verfügung steht, als auch mit einer drohenden vierten Corona-Welle. »Durch neu eingeführte Pflegepersonaluntergrenzen werden die zur Verfügung stehenden Betten bei zunehmendem Bedarf eher weniger, sodass ein Kompromiss auf allen Ebenen sinnvoll und auch zwingend erscheint«, sagt der Kerckhoff-Mediziner. »Die Sommermonate werden zeigen, ob wir die Patienten weiterhin zeitgerecht bei strengen Indikationen versorgen können.« Früher noch übliche individuelle Wünsche zum Zeitpunkt der Behandlung würden zunehmend den freien Kapazitäten weichen müssen. Das bedeute, der Wunsch der Patienten werde leider in der Priorität nach hinten geschoben.

»Der Delta-Variante und einer unter Umständen 4. Welle schauen wir sorgenvoll entgegen. Wir wünschen uns, dass alle Bürger Umsicht zeigen und sich verantwortungsvoll verhalten, so dass es nicht zuletzt zu einer milden ›Welle‹ kommt und auf lange Sicht ein weitestgehend normales Leben für uns alle wieder möglich ist«, erläutert Classen. Perspektivisch gesehen gelte es, sich auf das Virus einzustellen und es - »ähnlich der Influenza« - mit dem gebotenen Respekt in das Leben und die Normalität zu integrieren.

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