Hinführung zum Thema

Mit der 11. Version des International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11) werden die Kriterien für die Diagnose einer Substanzabhängigkeit neu formuliert. Neben der Veröffentlichung der Beschreibung der Substanzabhängigkeit durch die World Health Organization (WHO; Tab. 1; [1]) wurde von Mitgliedern der Arbeitsgruppe der WHO zur Erstellung des Kapitels „Mental, Behavioural or Neurodevelopmental Disorders“ des ICD-11 ein Entwurf der diagnostischen Kriterien der Substanzabhängigkeit veröffentlicht, auf die sich unsere Diskussion bezieht (Tab. 2; [2]). Die endgültigen diagnostischen Kriterien (CDDG, Clinical Description and Diagnostic Guidelines) werden voraussichtlich im Verlauf von 2021 veröffentlicht. Zudem verfolgt die WHO erstmalig einen offenen Ansatz, sodass es neben einer festen Version („frozen release“) auch eine offen Version („maintenance platform“) geben wird, in der Änderungen eingepflegt werden können und die dann in regelmäßigen Abständen in die „frozen version“ überführt wird.

Tab. 1 Beschreibung der Abhängigkeit und des Abhängigkeitssyndroms in ICD-11 und ICD-10
Tab. 2 Diagnostische Kriterien für Abhängigkeit und das Abhängigkeitssyndrom in ICD-11 und ICD-10

Anders als im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) [4] werden in der ICD-11 die diagnostischen Kategorien für den schädlichen Gebrauch und die Abhängigkeitserkrankung des ICD-10 aufrechterhalten. Wir diskutieren Vor- und Nachteile der aktuellen Neuerungen vor dem Hintergrund neurobiologischer, sozialer und klinischer Befunde.

Hintergrund

In der ICD-11 werden gegenüber der ICD-10 die Kriterien für die Diagnose einer Substanzabhängigkeit neu definiert ([2, 3, 5]; Überblick siehe Tab. 2). Abhängigkeitserkrankungen werden weiterhin vom schädlichen Gebrauch einer Substanz unterschieden. Der Nachteil eines solchen Vorgehens ist, dass der dimensionale Charakter der Substanzgebrauchsstörungen damit nicht gut abgebildet wird. Das heißt der häufig gleitende Übergang vom exzessiven, genussorientierten Substanzgebrauch zu habituellem Drogenkonsum, der schließlich sogar trotz schwerwiegender persönlicher Nachteile fortgesetzt wird, wird weiterhin kategorial in unterschiedliche Störungsbilder unterteilt. Die Beibehaltung der Unterscheidung zwischen dem schädlichen Substanzgebrauch und dem abhängigen Drogenkonsum hat aber den Vorteil, dass das relativ klar definierte Krankheitsbild der Abhängigkeitsstörung nicht wie im DSM‑5 mit der Kategorie des schädlichen Konsums vermengt wird, die in viel stärkerem Ausmaß durch soziale Wertungen und Regulierungen beeinflussbar ist [6].

Ob der Konsum einer Substanz für die betroffene Person mit negativen Konsequenzen verbunden ist, liegt nicht nur an den direkten Auswirkungen der Droge selbst, sondern auch an sozialen Faktoren wie etwa der Frage, ob Erwerb und Konsum der Droge im jeweiligen Land legal oder illegal sind. Die Beeinträchtigung wesentlicher Rollenerwartungen, das Auftreten negativer Konsequenzen etwa beim Versuch, eine illegale Droge zu beschaffen, und Auseinandersetzungen im persönlichen Umfeld auch beim noch nicht abhängigen Konsum einer Droge werden somit von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entscheidend beeinflusst [7]. Wer versucht hat, ein Glas Wein in einem Land zu konsumieren, in dem dies gesetzlich verboten ist, kann diese Erfahrung auch als deutsche Staatsbürgerin oder Staatsbürger machen. Die wesentlichen Veränderungen der vorab veröffentlichten Kriterien der ICD-11 liegen demgegenüber in der Neugruppierung der Symptome einer Abhängigkeitserkrankung. Dieser Entwurf der Kriterien soll im Folgenden diskutiert und mit dem Stand der Kenntnisse bez. neurobiologisch und klinisch gut belegter Mechanismen der Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Abhängigkeitserkrankung verglichen werden. In der ICD-11 werden die bisherigen 6 Kriterien der Abhängigkeitserkrankung zu 3 Paaren zusammengefasst, die jeweils 2 der bisherigen Kriterien als Aspekte des neuen gemeinsamen Kriteriums auflisten. Von diesen 3 neuen Kriterien müssen 2 erfüllt sein, um eine Abhängigkeitserkrankung diagnostizieren zu können, bisher waren es 3 von 6 in der ICD-10 [8]. Möglicherweise wird die genaue Formulierung der Kriterien noch verändert, in der vorliegenden Form könnte aber die Schwelle zur Diagnosestellung herabgesetzt werden, da in jedem der 3 neuen „Doppelkriterien“ nur Aspekte der (früher unabhängig voneinander bewerteten) Kriterien erfüllt sein müssen. So heißt es beispielsweise bei ICD-11-Kriterium 1, dass der Kontrollverlust „oft, aber nicht notwendigerweise von subjektiven Empfinden oder Drang“ begleitet wird. Bei Kriterium 2 können die früher als eigenständige Kriterien separat gelisteten Aspekte gemeinsam vorkommen, müssen es aber nicht, denn es ist die Rede vom Auftreten von Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen oder anhaltenden Konsum zur Verhinderung von Entzugssymptomen [2]. In Kriterium 3 steht die Priorität im Vordergrund, die dem Substanzkonsum im Leben der Betroffenen eingeräumt wird, die Fortführung des Substanzkonsums trotz negativer Konsequenzen trete „oft“ hinzu, ist aber zur Erfüllung des Kriteriums nicht notwendig [2].

Da die Clinical Description and Diagnostic Guidelines der WHO noch nicht offiziell veröffentlicht sind, ist es möglich, dass sich die Zusammensetzung der Kriterien oder Inhalte im Verlauf noch ändern werden. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf den vorab veröffentlichten Entwurf der Kriterien des ICD-11 von Saunders und Kollegen [2], die Mitglieder der WHO-Arbeitsgruppe sind.

Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik

Schon lange wurde argumentiert, dass die Entzugssymptomatik nur ein Aspekt der vorherigen Toleranzentwicklung ist, da es sich bei beiden Symptomen neurobiologisch um die Folge neuroadaptive Veränderungen handelt, die im Sinne einer Aufrechterhaltung der Homöostase der Drogenwirkung entgegengesetzt sind [9, 10]. Wirkt also beispielsweise Alkohol GABAerg und damit inhibierend und subjektiv sedierend und hemmt Alkohol zudem die glutamaterge Neurotransmission am NMDA-Rezeptor, dann werden entsprechend bei chronischem Alkoholkonsum GABAerge Rezeptoren in ihrer Sensitivität herabreguliert, während NMDA-Rezeptoren hochreguliert werden [11, 12]. Damit kann unter der Voraussetzung des fortgesetzten Alkoholkonsums eine neue Homöostase erreicht werden, d. h. die dämpfende und inhibierende Wirkung des Alkohols wird ausgeglichen durch eine entsprechende Neuroadaptation der inhibitorischen und exzitatorischen Systeme im Gehirn. Fällt der Alkoholkonsum plötzlich weg, was bei schwer abhängigen Menschen bereits durch die Unterbrechung des Trinkens während des Schlafes geschehen kann, dann ist die inhibitorische Wirkung der GABAergen Neurotransmission reduziert, während eine erhöhte Zahl der NMDA-Rezeptoren zur zentralnervösen Erregung beitragen kann. Insofern hier auch die Regulation zentralnervöser Kerngebiete betroffen ist, die das autonome Nervensystem steuern (wie beispielsweise der Locus coeruleus als Ursprungsgebiet noradrenerger Neurone im Hirnstamm), kann es zur vegetativen Dysfunktion und damit zu den auch körperlich sichtbaren Zeichen eines Entzugs kommen [13]. Deshalb ist es sinnvoll, Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik als gemeinsames Geschehen zu verstehen und die beiden bisher getrennt gelisteten Leitkriterien als zwei Aspekte eines gemeinsamen Kriteriums im ICD-11 zusammenzufassen.

Das Kriterium der Toleranzentwicklung wird seit längerer Zeit kritisch diskutiert, da die Toleranzentwicklung im Rahmen der klinischen Untersuchungen meist anamnestisch, retrospektiv erhoben wird und die Erinnerung täuschen kann. Es kommt hinzu, dass etwa Toleranz gegen die akuten Alkoholwirkungen partiell genetisch bedingt ist [14]. Dementsprechend können Menschen, die bereits während der ersten Erfahrungen mit der Substanz Alkohol wenig unerwünschte Wirkungen wie Sedation oder Übelkeit zeigen, häufiger zu einem erhöhten Alkoholkonsum neigen, wahrscheinlich, weil ihnen entsprechende Warnzeichen fehlen [15]. Im Nachhinein ist allerdings schwer zu unterscheiden, was bereits angeborene oder möglicherweise auch stressbedingt früh erworbene Toleranz gegenüber den akuten Alkoholwirkungen ist und was sich erst in Folge fortgesetzten Alkoholkonsums als Toleranzentwicklung gegenüber der Drogenwirkung eingestellt hat. Deshalb erscheint es sinnvoll, das alleinige Auftreten einer Entzugssymptomatik als hinreichend zu werten, um das Kriterium als erfüllt zu betrachten.

Die Erfüllung eines dieser neuen Kriterien reicht allerdings nicht aus, um eine Abhängigkeitserkrankung zu diagnostizieren. Das ist sehr berechtigt, da sich Entzugssymptome auch bei anderen zentralnervös wirksamen Drogen und Medikamenten finden. Letztendlich sind neuroadaptive Anpassungen an die Substanzwirkung ubiquitär und finden sich auch bei Einnahme von ß‑Blockern, Antidepressiva oder anderen Medikamenten, die keine Abhängigkeitserkrankung verursachen [16]. Um eine Suchterkrankung bzw. eine Abhängigkeitserkrankung in der Terminologie der ICD-10 und -11 zu diagnostizieren, ist demnach auch weiterhin das Erfüllen zusätzlicher Kriterien notwendig.

Craving und verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch

Auch die Symptome des starken Drogenverlangens („craving“) und der verminderten Kontrolle über den Substanzgebrauch werden in der ICD-11 gemeinsam gelistet und es genügt, dass einer dieser beiden Aspekte vorliegt, damit das Kriterium erfüllt ist. Auch diese Gruppierung erscheint neurobiologisch und klinisch sinnvoll, da die Kontrolle über den Substanzmittelgebrauch aus unterschiedlichen Gründen reduziert oder ganz verloren sein kann. Ein wesentlicher Grund hierfür ist das starke Verlangen, das betroffene Personen dazu bringt, ihre bewusst gefassten Vorsätze nach Reduktion des Suchtmittelkonsums oder nach Abstinenz nicht einzuhalten. Die neurobiologisch orientierte Suchtforschung hat in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl zentralnervöser Korrelate des Suchtverlangens und der Manifestation impulsiv oder zwanghaft anmutender Verhaltensweisen identifizieren können [3, 8, 17]. Schon lange ist bekannt, dass Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial deutlich mehr Dopamin im Bereich des ventralen Striatums, einer Kernregion des sog. hirneigenen Belohnungssystems, freisetzen und dass diese Freisetzung auch bei wiederholtem Drogenkonsum nicht abnimmt [17]. Wird durch Drogen eine unphysiologisch hohe Dopaminfreisetzung ausgelöst, führt das zur Enkodierung eines sog. Vorhersagefehlers, d. h. die Drogenwirkung ist besser als erwartet und die betroffene Person ist motiviert, den Drogenkonsum zu wiederholen [14, 18, 19].

Beim wiederholten Drogenkonsum kommt es zu einer zunehmenden Gewohnheitsbildung, die im Tiermodell mit der Verschiebung der Aktivierung vom ventralen in Richtung dorsales Striatum verbunden ist [20, 21]. Eine Untersuchung bei Personen mit Alkoholabhängigkeit beobachtete ebenfalls eine Aktivierung im dorsalen gegenüber dem ventralen Striatum bei Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung [22], während dies in anderen Untersuchungen nicht der Fall war [23, 24]. Aktuelle Untersuchungen, die die Gewohnheitsbildung mit komputationaler Modellierung des Verhaltens erfassen wollen, zeigen keine generelle Zunahme habituellen Verhaltens bei Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen; vielmehr sind Personen mit Abhängigkeitserkrankungen offenbar dann besonders rückfallgefährdet, wenn zur Tendenz der Gewohnheitsbildung auch eine hohe Erwartung gegenüber den Alkoholwirkungen vorhanden ist [25]. Hinzu kommt eine verstärkte Reaktion auf konditionierte Alkoholreize, wobei hier in bildgebenden Untersuchungen eine verstärkte Aktivierung des medialen präfrontalen Kortex in mehreren Untersuchungen mit einer hohen Rückfallneigung nach Entgiftung verbunden war [23, 26]. Das starke Verlangen nach der abhängigkeitserzeugenden Substanz wird daher vermutlich durch Aktivierung entsprechender motivationaler Netzwerke begleitet oder bedingt, wobei dem ventralen Striatum und weiterer limbischer Regionen eine wesentliche Rolle zugeschrieben wird.

Demgegenüber wird die kognitive Kontrolle über den Drogenkonsum in der Regel als Funktion des präfrontalen Kortex verstanden [5, 8]. Da Striatum und frontaler Kortex allerdings in unterschiedlichsten Regelkreisen verbunden sind, wäre es nicht richtig, hier von eigenständig operierenden Hirnzentren zu sprechen. Es wäre falsch anzunehmen, dass im frontalen Kortex eine Art unabhängige Kontrollinstanz „sitzt“, die durch übermäßige Begierde aus älteren Hirnregionen quasi „überrannt“ wird. Vielmehr sind diese Hirnregionen in engster Interaktion, und bei der Entwicklung von Suchterkrankungen zeigte sich, dass das ventrale Striatum und der präfrontale Kortex gemeinsam und gleichsinnig verstärkt reagieren, wenn eine Personen sich für einen schädlichen Alkoholkonsum entscheidet [27].

Alkohol und andere Drogen haben neurotoxische Wirkungen, die die Funktion des präfrontalen Kortex direkt beeinträchtigen können. Allerdings zeigten Untersuchungen des mit dem frontalen Kortex verbundenen Arbeitsgedächtnisses, dass Menschen mit Alkoholabhängigkeit gegenüber gesunden Kontrollpersonen üblicherweise offenbar kaum Einschränkungen aufweisen [8].

Bezüglich der Aspekte des starken Verlangens nach Alkohol oder einer anderen Substanz und einer verminderten Kontrolle über den Substanzgebrauch handelt es sich neurobiologisch um Aspekte integrierter Regelkreise, die gemeinsam auftreten können, aber auch – insbesondere bei differenzieller neurotoxischer Schädigung – unabhängig voneinander ausgeprägt sein können. In der ICD-11 genügt, dass einer dieser beiden Aspekte erfüllt ist, damit das Kriterium als Hinweis auf das Bestehen einer Abhängigkeitserkrankung gewertet werden kann. Aufgrund der klinischen Überlappung der Symptome und der neurobiologisch verflochtenen Regelkreise erscheint diese Zusammenführung sinnvoll.

Im Bereich dieser Phänomene besteht die stärkste Überlappung zu den sog. Verhaltenssüchten, d. h. der Glückspielsucht und des pathologischen Spielens, die in der ICD-11 gesondert gelistet werden. Wiederum erscheint es sinnvoll, dass das alleinige Vorliegen eines starken Verlangens oder einer Kontrollminderung ohne Toleranzentwicklung oder Entzugssymptomatik einerseits oder die noch zu diskutierenden schädlichen Folgen des Drogenkonsums andererseits nicht ausreichen, um eine Suchterkrankung zu diagnostizieren. Denn starkes Verlangen und Kontrollminderung sind Phänomene, die sich bei jeder leidenschaftlichen Tätigkeit der Menschen nachweisen lassen können und die deshalb per se nicht pathologisch sind [5]. In dem von der WHO bereits veröffentlichten Beschreibungen wird der „internal drive“ besonders betont, der sich nicht nur als subjektiv starkes Verlangen zeigen kann („craving“), sondern auch im Verlust der Kontrolle über den Drogenkonsum, in der zunehmenden Priorität des Drogenkonsums über andere Tätigkeiten und im fortgesetzten Konsum trotz schädlicher oder nachteiliger Auswirkungen. Damit wird der Beobachtung Rechnung getragen, dass ein subjektives Verlangen nach der Droge bei alkoholabhängigen Patienten nicht notwendigerweise auftreten und mit einem erhöhten Rückfallrisiko verbunden sein muss und dass unterschiedliche neurobiologische Korrelate der Kontrollminderung, des Verlangens nach Alkohol und der Vernachlässigung anderer Aktivitäten identifiziert werden konnten [28,29,30]. Es bleibt abzuwarten, ob sich die von Saunders und Kollegen vorab veröffentlichten Kriterien mit den endgültigen der WHO decken oder ob hier noch Akzentverschiebungen beispielsweise in der Gewichtung des Cravings erfolgen.

Substanzgebrauch als Priorität im Leben, die trotz schädlicher Folgen persistiert

Das 3. neue Kriterium der Abhängigkeitserkrankungen führt zwei heterogen wirkende Kriterien der ICD-10 zusammen, einerseits die zunehmende Vernachlässigung alternativer Verpflichtungen und Vergnügen zugunsten des Drogenkonsums und andererseits den fortgesetzten Drogenkonsum trotz schädlicher Konsequenzen. Das Kriterium in der ICD-10 „Anhaltender Konsum trotz eindeutiger schädlicher Folgen“ wird in der ICD-11 weniger scharf formuliert und es wird nur noch gefordert, dass der Konsum „oft“ trotz des Auftretens von „Problemen“ fortgesetzt wird.

Klinisch ist es durchaus plausibel, dass zu den Voraussetzungen für die Diagnose einer Substanzgebrauchsstörung schädliche Konsequenzen gehören. Würde das Individuum wegen der Substanzgebrauchsstörung keinerlei nachweisbare Schädigungen erleiden, stellt sich die Frage, warum die Medizin überhaupt zuständig sein sollte. Warum der Aspekt der jetzt recht allgemein betitelten „Probleme“ aber zusammengeführt werden soll mit der zunehmenden Vernachlässigung alternativer Vergnügen, ist nicht wirklich verständlich. Dass die WHO diesen oder einen ähnlich weit auslegbaren Begriff verwenden wird, ist sehr wahrscheinlich, da in der von der WHO bereits veröffentlichten Beschreibung der Alkoholabhängigkeit (Tab. 1) sogar von anhaltendem Konsum trotz negativer Konsequenzen („negative consequences“) gesprochen wird. In diesem Punkt werden offenbar in der ICD-11 unterschiedliche Phänomene vermengt: einerseits die Vernachlässigung anderer Vergnügen, deren neurobiologisches Korrelat im Tiermodell und beim Menschen mit GABAergen Funktionsstörungen im Bereich der Amygdala in Verbindung gebracht werden konnte [28], und andererseits das Auftreten von Problemen wie etwa der finanziellen Verschuldung durch den Kauf von Drogen, deren Preis auch durch gesellschaftliche und gesetzliche Vorgaben beeinflusst wird. Die Zusammenführung dieser unterschiedlichen Aspekte in ein einziges Kriterium überzeugt demnach nicht. Sie ist offenbar der Absicht geschuldet, die bisherigen 6 Kriterien auf 3 zu reduzieren, ohne dass zwingende inhaltliche Gründe für dieses schematisch anmutende Vorgehen ersichtlich werden.

Infobox 1 Die Probe aufs Exempel: Ist die Atemsucht eine Sucht?

Will man den Sinn von Krankheitsklassifikationen testen, lohnt es sich, imaginäre Beispiele zu überprüfen. Gibt es also beispielsweise eine Atemsucht? Würde die ICD-11-Klassifikation dazu führen, dass das Atmen als Suchterkrankung im Sinne der Substanzgebrauchsstörung klassifizierbar wäre, dann wäre die Definition zu hinterfragen. In der bisherigen ICD-10 ist das bisher nicht der Fall. Zwar kann man davon sprechen, dass es bei Unterbrechung der Luftzufuhr zu starken Entzugserscheinungen und zu einem starken Verlangen nach dem Atmen kommt. Nicht erfüllt sind aber das Kriterium des Schadens durch das Atmen, es gibt keine Toleranzentwicklung in dem Sinne, das im Laufe des Atmens immer größere Mengen an Luft konsumiert werden müssen, um die ursprünglich erwünschte Wirkung zu erzielen oder einer Entzugssymptomatik vorzubeugen, und es gibt keine Kontrollminderung gegenüber dem Atmen (sieht man von anderweitig verursachten Fällen angstbedingter Hyperventilation ab). Auch eine Verengung der Verhaltensvielfalt auf das Atmen findet sich allenfalls als bewusst gewählter Akt bei meditativen Techniken, nicht aber als ungewollte Folge einer Suchterkrankung. Im ICD-10 gibt es also keine Atemsucht.

In der ICD-11 ist diese Frage nicht mehr so einfach zu beantworten, denn hier genügt es ja, dass einer der Aspekte innerhalb der jeweils paarweise neu zusammengeführten Kriterien erfüllt sein muss, um eine Abhängigkeitserkrankung zu diagnostizieren. Das Auftreten von Entzugssymptomen beim plötzlichem Unterbrechen der Luftzufuhr würde also genügen, um eines der 3 Kriterien zu erfüllen, das 2. Kriterium wäre erfüllt, wenn das starke Verlangen zu Atmen und eine reaktive Hyperventilation bei kurzfristiger Unterbrechung der Substanzzufuhr als Kontrollminderung mit Craving gewertet wird. Damit wären aber 2 von 3 Kriterien erfüllt und die Diagnose der „Atemsucht“ könnte gestellt werden. Was hier ironisch klingt, kann aber politisch gefährlich werden: Überträgt man die Suchtkriterien auch auf die Verhaltenssüchte, könnte etwa eine starke persönliche Motivation zum politisch kritischen Bloggen auf Kosten anderer Verpflichtungen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen pathologisiert werden.

ICD-11 in der Praxis

Neben der Frage, ob bisher nicht als Suchterkrankungen verstandene Konsummuster oder Verhaltensweisen als Abhängigkeitserkrankung klassifizierbar werden, stellt sich die Frage, ob die Anwendung der ICD-11-Kriterien die Zahl oder Gruppe der Personen signifikant verändert, die bisher in der ICD-10 beispielsweise als substanzabhängig diagnostiziert wurden. In der bisher größten Studie von Degenhard und Kollegen wurden in 10 Ländern bzw. Regionen in der Welt bei über 12.000 Personen die Konkordanz von der ICD-10, ICD-11 sowie der DSM-IV und DSM‑5 bei Alkohol- und Cannabiskonsum [31] untersucht. Hier zeigte sich, dass in 8 von 10 Regionen und in allen Regionen mit mittleren Einkommen (Brazilien-Sao Paolo, Kolumbien-Medellin und Rumänien) die Alkoholabhängigkeit in der ICD-11 häufiger als in der ICD-10 diagnostiziert wurden (Tab. 3 und Abb. 1; [31]). In einer gepoolten Analyse war die Rate der Alkoholabhängigkeit bei erwachsenen alkoholkonsumierenden Personen unter der Verwendung der ICD-11 bei 7 und damit um 10 % höher als unter Verwendung der ICD-10, bei der die Rate 6,3 betrug [31]. Auch wenn dieser Unterschied in der Studie nicht statistisch signifikant war, ist er klinisch relevant und würde für Deutschland bedeuten, dass anhand der ICD-11 zu den bisher schätzungsweise 2,9 Mio. Menschen mit Alkoholabhängigkeit (entspricht 3,5 % der Bevölkerung [32]) zusätzlich etwa 300.000 weitere Personen die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit bekämen.

Tab. 3 Rate der Alkoholabhängigkeit über die Lebenszeit in der ICD(International Classification of Diseases)-10 und ICD-11 bei Personen, die jemals im Leben Alkohol konsumiert haben. (Adjustierte Raten entnommen aus den Supplement Data von Degenhardt et al. 2019 [31])
Abb. 1
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Rate der Alkoholabhängigkeit über die Lebenszeit in der ICD(International Classification of Diseases)-10 und ICD-11 bei Personen, die jemals im Leben Alkohol konsumiert haben. (Adjustierte Raten entnommen aus den Supplement Data von Degenhardt et al. 2019 [31])

Eine weitere Arbeit zeigt bei Jugendlichen sogar eine 2,3-fach höhere Prävalenz der Alkoholabhängigkeit im ICD-11 gegenüber der Verwendung des ICD-10 [33] und etwa 50 % häufiger die Diagnose der Cannabisabhängigkeit unter Verwendung des ICD-11. Dies sind klinisch relevante Unterschiede und weisen darauf hin, dass es durch die ICD-11 zu einer Zunahme der Abhängigkeitsdiagnosen kommen kann.

In einer weiteren Veröffentlichung wurde die australische Subgruppe der multinationalen ersten Studie genauer beschrieben. Es zeigten sich keine statistisch signifikanten Unterschiede hinsichtlich des Vorkommens von Alkohol- und Cannabisabhängigkeit zwischen der Klassifikation nach ICD-11, ICD-10 und DSM-IV [34]. Allerdings wurde die Alkoholabhängigkeit mittels ICD-11 insgesamt trotzdem 10 % häufiger als mittels dem ICD-10 diagnostiziert. Auch zeigte der Vergleich der genannten Diagnosesysteme (ICD-10 und ICD-11, DSM-IV) mit der Kategorie der neuen Substanzgebrauchsstörung des DSM-5 nur eine geringe Überschneidung, was Zweifel an der Kategorisierung mittels des DSM‑5 weckt. Aber auch kulturelle und regionale Einflüsse auf die Kategorisierung mittels ICD-11 müssen erwogen werden. Da in den öffentlich zugänglichen Versionen des ICD-11 nur noch von „Problemen“ [1] bzw. „negativen Konsequenzen“ [2] beim Substanzkonsum die Rede ist, können auch soziale Schwierigkeiten darunter gefasst werden, die allein aufgrund regional unterschiedlicher Gesetze eintreten. So kann fortgesetzter Konsum trotz gesetzlichen Verbots zu „Problemen“ oder „negativen Konsequenzen“ ohne eigentlichen Krankheitswert führen, wenn diese Probleme einfach nur im Rahmen der gesetzlichen Strafen und der damit verbundenen persönlichen Nachteile auftreten. Bezüglich der Umsetzung der neuen ICD-11 in die alltägliche Praxis sollte also systematisch untersucht werden, in welchen sozialen Kontexten für die Betroffenen unangemessene Pathologisierung oder Stigmatisierung auftreten könnten.

Fazit für die Praxis

  • Die Änderungen in den Abhängigkeitskriterien der ICD(International Classification of Diseases)-11 umfassen eine Zusammenführung der bisherigen 6 Kriterien der ICD-10 zu 3 Doppelkriterien, die jeweils zwei Aspekte umfassen. Pro Paar muss ein Aspekt bzw. Symptom erfüllt sein.

  • Zukünftig müssen nur 2 der 3 Kriterien erfüllt sein.

  • Die sozialen Auswirkungen der ICD-11-Neuerungen für Betroffene sollten zukünftig systematisch erforscht werden.