Angstkultur und fehlende Führung – ein neuer Parlamentsbericht stellt dem Universitätsspital Zürich ein schlechtes Zeugnis aus

Die Affäre um den Herzchirurgen Francesco Maisano hat das Zürcher Universitätsspital schwer erschüttert. Nun hat die Aufsichtskommission ihren Untersuchungsbericht veröffentlicht.

Jan Hudec, Fabian Baumgartner
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Baustelle Unispital: Die Affäre um den ehemaligen Direktor der Herzklinik belastet die Zürcher Institution noch immer.

Baustelle Unispital: Die Affäre um den ehemaligen Direktor der Herzklinik belastet die Zürcher Institution noch immer.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Die Herzklinik des Zürcher Universitätsspitals (USZ) ist im vergangenen Jahr Schauplatz eines erbittert ausgetragenen Arbeitskonflikts geworden. In dessen Mittelpunkt: die Spitalführung, ein leitender Arzt, der als Whistleblower auftrat, und der Leiter der Klinik für Herzchirurgie, Francesco Maisano.

Am Ende mussten sowohl der Whistleblower als auch Maisano gehen. Mehr noch: Am 16. November 2020 gaben der Spitalratspräsident Martin Waser und zwei weitere Mitglieder des Spitalrats ihren Rücktritt per Sommer 2021 bekannt.

Wie konnte es so weit kommen? Sind strukturelle Probleme die Ursache, zumal auch zwei Direktoren anderer USZ-Kliniken in die Kritik gerieten und das Spital schliesslich verlassen mussten? Und welche Konsequenzen sind aus den Vorkommnissen zu ziehen? Diese Fragen hat die Aufsichtskommission für Bildung und Gesundheit in einem Bericht zu klären versucht, den sie am Donnerstagnachmittag vorgestellt hat. Die Kantonsräte nahmen im Juni 2020 ihre Arbeit auf.

Vom Aufbruch ins Chaos

Aus dem 76-seitigen Bericht wird deutlich, dass die Wurzeln des Konflikts einige Jahre zurückreichen. Das Grundproblem: eine Eskalation zwischen der Herzchirurgie und der Kardiologie. Informanten bezeichneten die Kliniken gegenüber der kantonsrätlichen Kommission als eigene «Königreiche», wo die Direktoren walten, wie sie wollen.

Als Francesco Maisano im Herbst 2014 zum Direktor der Klinik für Herz- und Gefässchirurgie ernannt wurde, herrschte Aufbruchstimmung. Anfangs funktionierte die Zusammenarbeit denn auch gut – insbesondere mit der Kardiologie. Dass war wichtig, denn geplant war, Kardiologie und Herzchirurgie zu einem gemeinsamen Herzzentrum zu fusionieren.

Doch die Situation verschlechterte sich, als der Leiter der Kardiologie, Thomas Lüscher, Ende 2017 das Spital verliess. Zu seinem Nachfolger wurde Frank Ruschitzka auserkoren, der seit 2013 als Stellvertreter Lüschers gearbeitet hatte. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden ist der Mediziner im vergangenen Jahr wegen einer Covid-19-Studie, die später aufgrund fehlerhafter Daten zurückgezogen werden musste.

Für die Daten war Ruschitzka zwar nicht selbst verantwortlich, die Universität ermahnte ihn jedoch zu mehr Sorgfalt und verpflichtete ihn zu 30 Stunden unentgeltlicher Arbeit. Umstritten war er jedoch bereits bei seiner Berufung. Die zuständige Kommission unterstützte ihn zuerst mehrheitlich nicht.

Nach Ruschitzkas Wahl verschlechterte sich die Beziehung zwischen den beiden Klinikdirektoren zusehends, die Verhandlungen über eine Fusion kamen nicht voran. Die Spitaldirektion versuchte zu deeskalieren und stellte den beiden Klinikdirektoren einen Coach zur Seite. Doch es half nichts.

Im Juli 2019 brachte Ruschitzka an einer offiziellen Sitzung der Leitung des Herzzentrums offen Anschuldigungen gegen Maisano vor. Diese betrafen laut Bericht der Aufsichtskommission die angebliche Nichtoffenlegung von Interessenbindungen und die Unterschlagung von Komplikationen in Veröffentlichungen.

Maisano forderte daraufhin die Durchführung eines Audits. Die Resultate des Audits wurden am 29. Oktober 2019 vorgelegt und entlasteten ihn weitgehend. Doch Ruhe kehrte nicht ein, denn es gab Zweifel an der Unabhängigkeit der Auditoren. Mitte Dezember erhielt die Spitaldirektion dann eine als «Whistleblowing» bezeichnete Meldung mit zahlreichen Vorwürfen gegen den Klinikdirektor. Die Vorwürfe waren mehrheitlich dieselben, die bereits Ruschitzka geäussert hatte. Absender dieses Mal: der leitende Arzt.

Das Verhältnis zwischen dem Whistleblower und Maisano war schon zuvor angespannt gewesen. Im September 2019 hatte der Klinikdirektor nämlich den Arzt wegen Problemen mit der Patientensicherheit bei der Spitalleitung gemeldet. Eine Trennung von dem Mann stand deshalb zur Diskussion, so weit kam es dann aber doch nicht. Mit den Vorwürfen befasst sich jedoch eine externe Untersuchung, deren Ergebnis noch nicht vorliegt.

Das USZ beauftragte das Unternehmen Walder Wyss Rechtsanwälte damit, die Vorwürfe des Whistleblowers gegen Maisano zu prüfen. Doch dem Whistleblower ging es nicht schnell genug. Er wandte sich mit seinen Vorwürfen an Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli und Bundesrat Alain Berset. Und schliesslich griffen auch die Medien das Thema auf.

Was folgte, ist bekannt: Der Whistleblower wurde entlassen, dann wieder eingestellt. Schliesslich musste er doch gehen. Maisano wiederum wurde zuerst beurlaubt. Im September 2020 entschied der Spitalrat, sich definitiv von ihm zu trennen. Dies, obwohl ihn der Zwischenbericht von Walder Wyss von den schwersten Vorwürfen entlastet hatte.

Undurchsichtige Führungsstruktur

Am Bericht der Aufsichtskommission fällt auf, dass die Autoren ein bisschen am Lack des Whistleblowers kratzen und andererseits den sonst schwer kritisierten Klinikdirektor Maisano in ein etwas weniger unvorteilhaftes Licht rücken. Die Aufgabe der Kommission bestand freilich nicht darin, den personalrechtlichen Konflikt aufzuarbeiten. Und so erhält man in dieser Frage auch keine abschliessenden Antworten. Diese soll zumindest in Bezug auf Maisano der Schlussbericht der Anwaltskanzlei Walder Wyss liefern. Er ist bereits abgeschlossen, liegt der Öffentlichkeit aber noch nicht vor.

Da der Kantonsrat die Oberaufsicht über das Unispital hat, standen für die Kommission nicht die einzelnen Vorkommnisse im Fokus, sondern vielmehr jene Bereiche, in denen sie strukturelle Fehler ausmachten. Und von diesen gibt es aus Sicht der Kantonsräte viele. Nicht weniger als 75 Empfehlungen an Spital, Universität, Regierungsrat und auch den Kantonsrat selbst enthält der Bericht. Es geht um Probleme mit den Schnittstellen zwischen der Universität und dem USZ, um den Umgang mit Interessenbindungen und Whistleblowing und um mangelhafte Führungsstrukturen am Spital.

Hier sind die zentralen Punkte zusammengefasst:

Führungsstrukturen: Aus Sicht der Kommission ist die heutige Führungsstruktur am Spital zum Teil undurchsichtig und nicht zweckmässig. Als Beispiel führt sie die verwirrliche Rolle des heutigen ärztlichen Direktors Jürg Hodler an. Die 43 Kliniken und Institute des Spitals sind in 10 Medizinbereiche gegliedert. Hodler führt eigentlich diese Medizinbereiche. Er selbst ist aber auch Direktor des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie. Das Institut gehört dem Bereich «Bildgebende Verfahren» an. Leiter Medizin des Bereichs ist Thomas Frauenfelder, der selbst wiederum Stellvertreter Hodlers im Institut ist. Kurz: Hodler führt in seiner Funktion also nicht nur sich selbst, sondern auch Personen, denen er unterstellt ist und die ihrerseits in zwei unterschiedlichen Rollen wieder ihm unterstellt sind.

Abgesehen davon, dass es fast unmöglich ist, hier noch den Durchblick zu haben, ist völlig unklar, wer hier eigentlich wen führen soll. Die Autoren des Berichts kommen denn auch zu dem Schluss, dass die Klinik- und Institutsdirektoren sich infolge der unklaren Führungssituation nicht geführt fühlten und andererseits teilweise als nicht führbar beschrieben würden. Die Kommission empfiehlt, die Strukturen zu bereinigen und die ärztliche Direktion zu stärken.

Auch die Rollenteilung zwischen Spitaldirektion (operative Führung) und Spitalrat (strategische Führung) betrachtet die Kommission als problematisch. Es fehle der Spitaldirektion an einer umfassenden Weisungs-, Steuerungs- und Gestaltungsbefugnis. Eine konsequente Personalführung sei so nicht möglich, auch weil die Spitaldirektoren vom Spitalrat und nicht von der Spitaldirektion angestellt würden. Diese Struktur erschwere es, personelle Konflikte zu lösen. So habe sich just im Konflikt in der Herzmedizin niemand in der finalen Verantwortung gesehen. «Dieses Nicht-Entscheiden und Nicht-Handeln hat erst zur ‹Explosion› geführt», heisst es im Bericht. Auch hier braucht es aus Sicht der Kantonsräte strukturelle Anpassungen.

Doppelanstellungen: Klinikdirektoren am USZ sind heute immer auch Professoren an der Universität. Die Kommission kritisiert diese Doppelrolle. Im Berufungsverfahren habe die Universität ein Übergewicht. Der Hochschule gehe es bei einer Berufung insbesondere darum, einen exzellenten Forscher anzustellen. Die fachlichen Fähigkeiten beispielsweise als Chirurg oder als Führungsperson spielten dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Für das Spital seien sie jedoch zentral.

Die Subkommission empfiehlt nun, Lehrstuhl und Klinikleitung zu entkoppeln und künftig auf Doppelanstellungen zu verzichten. Bei der Universität scheint man dies jedoch kritisch zu sehen. «Leider hat die Subkommission die Universität als eine Institution wahrgenommen, die bezüglich der Doppelanstellungen nicht bereit ist, Veränderungen zuzulassen», heisst es im Bericht.

Angstkultur: Gewisse Probleme hätten sich am Spital nur deshalb entwickeln und so lange bestehen können, weil die Vertrauensbasis für eine offene Fehlerkultur fehle. «Wegen der starken Hierarchien in den Kliniken und der Machtfülle, die einige Klinikdirektoren ausnutzen, herrscht speziell beim medizinischen Personal eine eigentliche Angstkultur», schreibt die Kommission. Sie empfiehlt deshalb, einen umfassenden Kulturwandel zu vollziehen. Auch müsse man vielleicht Abstand davon nehmen, unbedingt «Koryphäen» einzustellen. Diese brächten zwar Prestige, seien aber nicht immer teamorientiert. Auch aus Patientensicht sei es manchmal besser, «statt den Besten nur die ganz Guten zu haben, wenn sich die Teamleistung dadurch insgesamt verbessert», hält die Kommission fest.

Interessenkonflikte: Aus Sicht der Kommission werden Interessenbindungen am Unispital nicht klar genug deklariert. Trotz mehrfachen Hinweisen der Aufsichtskommission habe die Spitalführung die potenziellen Reputationsrisiken durch Interessenbindungen, Nebenbeschäftigungen und Beteiligungen, die nicht transparent deklariert seien, verkannt. Die bestehenden Vorgaben seien weder umfassend genug, noch seien sie konsequent umgesetzt worden. Die Subkommission empfiehlt, die Vorgaben zu erweitern und auch die Spitaldirektion und den Spitalrat einzuschliessen. Beide Gremien sollen wegen ihrer Vorbildwirkung ein besonderes Augenmerk auf diese Thematik richten. Zudem soll ein öffentlich einsehbares Register erstellt werden, das idealerweise bezüglich der Doppelanstellungen mit der Universität koordiniert ist.

Finanzierung und Kooperation: Die Klinikleitungen verfügen über eigene Kassen, die sogenannten Klinikpools. Damit haben sie aus Sicht der Kommission ein unverhältnismässiges Machtinstrument, das es ihnen erlaube, Parallelstrukturen aufzubauen. Dies sei zum Beispiel beim Konflikt zwischen den Kliniken der Herzchirurgie und der Kardiologie der Fall gewesen. «Weil durch die Klinikpools beträchtliche Mittel der Betriebsrechnung entzogen werden, wird die finanzielle Führung des Gesamtunternehmens geschwächt.»

Die Subkommission empfiehlt deshalb die Aufhebung der Klinikpools. Dies ist auch in der Vorlage zur Änderung des Spitalgesetzes, das derzeit vom Kantonsrat beraten wird, vorgesehen. Zudem müsse auch die heutige Klinikstruktur überdacht werden. Es sollen sinnvolle Einheiten gebildet werden, zum Beispiel ein Herzzentrum mit Kardiologie, Herzchirurgie und Herzanästhesie, die auch in finanzieller Hinsicht die fachliche Zusammenarbeit förderten.

Qualitätskontrolle: Um Probleme schneller erkennen und ihnen auf den Grund gehen zu können, empfiehlt die Kommission die Schaffung einer internen Revisionsstelle. Die Spitaldirektion bekäme damit ein Instrument präventiver und kontrollierender Wirkung, sind die Autoren überzeugt. So könnte die interne Revision auch dafür eingesetzt werden, «anonymen Hinweisen diskret nachzugehen und frühzeitig einen möglichen Handlungsbedarf festzustellen, bevor es zu medialen Explosionen kommt, welche die Patientensicherheit potenziell gefährden».

Ganz konkret ist die Kommission auch der Frage nachgegangen, warum in der Klinik für Herzchirurgie die Mortalität zugenommen hat. Zwar seien die Zahlen aufgrund verschiedener Faktoren – wie der Tatsache, dass viele Hochrisikopatienten betreut werden – nur schwer zu beurteilen. Dennoch sei die Zunahme der sogenannten In-Hospital-Mortalität von 4,8 Prozent im Jahr 2015 auf 6 Prozent im Jahr 2018 und 6,9 Prozent im Jahr 2019 besorgniserregend. Seit 2017 könne ausserdem eine Zunahme der Liegedauer der Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation festgestellt werden. Für beide Befunde gebe es zurzeit keine gesicherten Erklärungen. Die Kommission empfiehlt deshalb, eine interdisziplinäre Task-Force einzusetzen, um den erhöhten Mortalitätsraten auf den Grund zu gehen.

Selbstkritik: Die Parlamentarier gehen auch mit sich selbst ins Gericht. Die im Bericht dargelegten Mängel seien nicht gänzlich neu, sondern seien über die Jahre im Parlament und in den zuständigen Kommissionen wiederholt diskutiert worden. Es sei jedoch nicht gelungen, Verbesserungen zu erzielen. «Der Kantonsrat und die Aufsichtskommission Bildung und Gesundheit müssen sich vorwerfen lassen, die Umsetzung von Empfehlungen nicht genügend geprüft bzw. eingefordert und begleitet und somit die Oberaufsicht ungenügend wahrgenommen zu haben», schreiben die Autoren. Sie empfehlen dem Kantonsrat und den Fraktionen, der Besetzung der Aufsichtskommissionen hohe Bedeutung beizumessen.

Wie geht es nun weiter? Was bleibt von dieser Affäre zurück? Noch laufen diverse Untersuchungen. Die Politik hat mit dem Bericht aber klargemacht, dass sie den Druck aufs Spital hoch halten will. «Wir erwarten, dass unsere Empfehlungen umgesetzt werden», sagte Claudia Frei-Wyssen (glp.), Präsidentin der Aufsichtskommission für Bildung und Gesundheit. Dafür scheint sie im Parlament Rückhalt von rechts bis links zu haben, wie am Donnerstag den Medienmitteilungen der Parteien zu entnehmen war.