Spitalmarkt: Eine Knieprothese für den Wettbewerb

Nr. 15 –

PatientInnen, die zur Unzeit entlassen werden, Milliardeninvestitionen in Spitalneubauten, eine wuchernde Bürokratie und frustriertes Personal: Knapp zehn Jahre nach Einführung der Fallpauschalen sind deren negative Folgen in den Spitälern unübersehbar.

Schöne Aussichten – für InvestorInnen: Operationssaal im über den Kapitalmarkt mitfinanzierten Neubau des Spitals Emmental in Burgdorf. Foto: Christian Merz, Keystone

Auf Palliativstationen liegen unheilbar kranke Menschen. Die Idee ist, dass sie dort bis zu ihrem Tod begleitet werden, dass ihre letzte Lebensphase möglichst erträglich ausfällt. Doch die Realität sieht manchmal ganz anders aus: Immer wieder werden PalliativpatientInnen kurz vor ihrem Ableben noch einmal in eine Ambulanz verladen und in ein Heim verlegt. «Für die Betroffenen und ihre Angehörigen ist das höchst traumatisch», sagt Monika Obrist, Geschäftsführerin des Vereins Palliative zh+sh.

Der Grund für diese Verlegungen ist kein medizinischer, sondern ein finanzieller: Wenn PalliativpatientInnen länger leben als erwartet, wird ihre Behandlung ab einem gewissen Zeitpunkt zu einem Minusgeschäft für das Spital. «Defizite durch Langlieger» nennt man das in der Branche. Monika Obrist betont, dass das Personal und oft auch die Spitäler ihr Möglichstes täten, um Verlegungen am Lebensende zu vermeiden. Doch Palliativstationen könnten sich defizitäre Behandlungen nicht immer leisten, weil sie grundsätzlich kaum profitabel und deshalb latent von einer Schliessung bedroht seien. «Ein Anreizsystem ist in der Palliative Care höchst unethisch», sagt Obrist.

Wenn Obrist von «Anreizsystem» spricht, dann meint sie die Fallpauschalen. Eingeführt wurden diese durch einen Entscheid des Parlaments im Jahr 2007 im Zuge der gleichzeitig beschlossenen Liberalisierung der stationären Gesundheitsversorgung. Die Spitäler wurden zu konkurrierenden Unternehmen gemacht, stationäre Spitalbehandlungen zu Produkten. Damit Letztere auch untereinander verglichen werden können, wurden die Behandlungen normiert. Über die Fallpauschalen werden die Spitalleistungen nicht mehr nach effektivem Aufwand, sondern pauschal nach Diagnosen abgerechnet (vgl. «So funktionieren Fallpauschalen» im Anschluss an diesen Text).

Das neue System sollte die Spitäler zu Kosteneffizienz zwingen. Denn nur jene Spitäler, die effizient sind, holen über die Fallpauschalen so viel Geld herein, dass sie ihre gesamten Ausgaben decken können. So zumindest die Idee. Dass unrentable Spitäler einen langsamen wirtschaftlichen Tod sterben, war dabei nicht ein in Kauf genommener Kollateralschaden, sondern mit ein Ziel der Reform. Der damalige FDP-Bundesrat Pascal Couchepin und die bürgerliche Parlamentsmehrheit sprachen aber vor allem von den Vorzügen, die der freie Markt mit sich bringe: tiefere Kosten, bessere Qualität und höhere Transparenz. Die wenigen warnenden Stimmen blieben ungehört – das Referendum ergriff niemand. Der damalige SP-Gesundheitspolitiker und Chefarzt Franco Cavalli sagt heute: «Das war einer der kapitalsten Fehler, den die SP in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat.» Die Gesetzesrevision trat 2012 in Kraft.

«Alle Befürchtungen sind eingetroffen»

Nun, knapp zehn Jahre später, sieht sich Annina Hess-Cabalzar bestätigt. Die Präsidentin der Akademie Menschenmedizin, die sich für eine «menschengerechte» und bezahlbare Medizin einsetzt, gehörte schon vor Einführung der Fallpauschalen zu den KritikerInnen der Liberalisierung. «Damals sahen wir uns dem Vorwurf ausgesetzt, dass wir Innovationen abklemmen wollten. Doch heute sehen wir, dass alle unsere Befürchtungen eingetroffen sind.» Dabei gehe es bei weitem nicht nur um die Palliativmedizin, sagt Hess-Cabalzar.

Fallpauschalen erzeugen nämlich ganz grundsätzlich Druck, PatientInnen schnell zu entlassen – und in so manchen medizinischen Bereichen liegen die Fallpauschalen und die effektiv anfallenden Kosten weit auseinander. Manche Behandlungen sind deshalb für Spitäler häufig oder sogar grundsätzlich defizitär. «Es ist die Tendenz erkennbar, dass die Grund- und Notfallversorgung, aber auch pflegeintensive Angebote wie die palliative Versorgung unterdurchschnittlich vergütet werden», sagt der Arzt Daniel Tapernoux von der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO). Andere Behandlungen würden dagegen vom System zu hoch abgegolten und seien für die Spitäler deshalb lukrativ. Besonders der Fall sei das bei planbaren Eingriffen, bei denen die PatientInnen nach einer fixen Anzahl Tage wieder entlassen werden könnten. «Diese finden sich gehäuft in der Orthopädie sowie generell in Bereichen, in denen Eingriffe an den PatientInnen gemacht werden», so Tapernoux, der zusammenfassend festhält: «Das System setzt falsche Anreize.»

Dass die spezialisierte Orthopädie lukrativ ist, passt gut zur Spitalmarktliberalisierung, die auch immer ein Privatisierungsprojekt gewesen ist. Nicht nur, weil gewinnorientierte Spitäler seit 2012 massiv höhere Staatsbeiträge erhalten: Die meisten privaten Spitalunternehmen in der Schweiz konzentrieren sich in erster Linie auf lukrative Eingriffe – und schreiben so Gewinne für ihre AktionärInnen. Finanziell uninteressante Behandlungen bieten viele dieser Unternehmen kaum oder gar nicht an. Die defizitären Fälle landen also bei nicht gewinnorientierten Spitälern, die meist in öffentlicher Hand sind. Aber auch diese müssen die resultierenden Fehlbeträge dann durch lukrative Behandlungen quersubventionieren. Und so buhlen am Ende alle um jene Fachgebiete und Eingriffe, mit denen sich mit den Fallpauschalen Gewinne erzielen lassen.

Nur weil es das System so will, leiden aber nicht plötzlich mehr Menschen an Knieschmerzen oder Bandscheibenvorfällen, die operiert werden müssten. Und so besteht in der Branche ein Anreiz, auch Eingriffe durchzuführen, die medizinisch nicht notwendig sind. Fachsprachlich wird dabei von «Mengenausweitung» gesprochen. Auch ChefärztInnen haben häufig ein Interesse daran, viel zu operieren: wegen Lohnanreizen, aber auch, weil die Spitäler von ihnen verlangen, die Kliniken wie UnternehmerInnen zu führen. Werner Kübler, der Direktor des Basler Unispitals, bestätigte den Missstand im Januar an einer Konferenz: «Wir haben Anreize, die Mengen der Eingriffe zu erhöhen, das ist klar.» In Basel-Stadt mit seiner hohen Spitaldichte werden beispielsweise doppelt so häufig Knieprothesen eingesetzt wie im Kanton Obwalden.

Annina Hess-Cabalzar sagt dazu, dass immer mehr Menschen verunsichert seien und in den von ihrer Akademie geführten Beratungscafés nachfragten, ob ein empfohlener Eingriff nur erfolge, «weil der Arzt und das Spital finanzielle Interessen daran haben». Die Befürchtungen seien nicht aus der Luft gegriffen. Wenn PatientInnen den behandelnden ÄrztInnen nicht mehr vertrauen könnten, sei das eine hoch problematische Entwicklung.

«Kostenblock» Personal

Die «Mengenausweitungen» sind für GesundheitsökonomInnen einer der Hauptgründe dafür, dass die Kosten für stationäre Behandlungen gemäss Bundesamt für Statistik auch nach 2012 weiter anstiegen. 2019 wurde im stationären Spitalbereich mit 19,1 Milliarden Franken so viel umgesetzt wie niemals zuvor.

«Wir haben ein Kostenwachstum – und gleichzeitig einen enormen Kostendruck beim Spitalpersonal», sagt Elvira Wiegers, die bei der Gewerkschaft VPOD für das Gesundheitswesen zuständig ist. «Die Belastung, die auf dem Personal lastet, ist unerträglich geworden.» Laut Studien gibt mindestens die Hälfte der Pflegefachpersonen ihren Beruf frühzeitig auf, was laut Wiegers «auch volkswirtschaftlich ein Unding ist». Grundsätzlich bildet die Schweiz viel zu wenige Pflegefachkräfte aus. Laut der Gewerkschafterin fehlen Zehntausende von ihnen.

Yvonne Ribi vom Pflegefachverband SBK ergänzt, dass das Problem nicht nur die tiefen Löhne seien; es fehle an Mitteln, um so viel gut qualifiziertes Fachpersonal anstellen zu können, wie es für eine gute PatientInnenbetreuung brauche. Der Fokus liege auf den tiefen Kosten – die Pflege werde dabei vorwiegend als Kostenblock gesehen. «Das ist für das Fachpersonal sehr frustrierend.» Gleichzeitig werden Kosten externalisiert: Ein grosser Teil der fehlenden Pflegefachkräfte wird im Ausland rekrutiert, die Ausbildungskosten tragen ihre Herkunftsländer.

Gewerkschafterin Elvira Wiegers stört sich daran, dass vor allem dann vor steigenden Prämien gewarnt wird, wenn das Pflegepersonal höhere Löhne verlangt. Schliesslich gebe es andere Ausgaben, die niemand kritisiere, obwohl sie wenig sinnvoll seien: «Neben den hohen Verwaltungskosten, die das Fallpauschalenmodell generiert, sind das etwa die horrenden Kaderlöhne oder die Bautätigkeiten der Spitäler.»

Um sich im künstlich geschaffenen Wettbewerb zu behaupten, investieren die Spitäler nämlich viel Geld in bekannte MedizinerInnen und Neubauten – über 15 Milliarden Franken alleine in laufende oder geplante Projekte. Spitalbauten sind zu Renditeobjekten für AnlegerInnen geworden. Ein Vertreter der Zürcher Kantonalbank pries Spitalanleihen vor wenigen Monaten an einem Spitalkongress als sichere Investitionen an: Die für die Versorgung relevanten Spitäler würden im wirtschaftlichen Notfall vom Staat gerettet – und das private Geld gleich mit. Das ändert aber nichts daran, dass die Spitäler grundsätzlich unter Druck stehen, für die Refinanzierung ihrer Neubauten mit Behandlungen Geld zu verdienen: ein weiterer Anreiz, viel zu operieren.

In ihrem Überlebenskampf jagen die Spitäler also den guten Risiken hinterher und investieren viel in Immobilien. In Schieflage geraten die Spitäler trotzdem – oder gerade deswegen. Schon vor der Pandemie schrieben über vierzig Prozent aller Spitäler rote Zahlen, Schliessungen drohen. Eine staatliche Steuerung des stationären Spitalmarktes existiert seit 2012 nur noch bedingt – und die vorhandenen Möglichkeiten etwa im Bereich von Kontrollen schöpfen weder Kantone noch Bund aus. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hält bis heute am liberalisierten System fest. In der aktuellsten Systemevaluation schreibt es, dass sich «die Zweckmässigkeit der Massnahmen (…) im Bereich der Spitalfinanzierung» bestätigt habe. Die «Auswirkungen der Massnahmen» zeigten zudem in die «gewünschte Richtung».

Auch aus Sicht von Simon Hölzer von der Swiss DRG AG, die das Fallpauschalenmodell im Auftrag der Versicherer und Kantone operativ betreibt, ist das System ein Erfolg. Es habe zu qualitativen Verbesserungen und zuletzt gar zu einer Kostensenkung geführt. Verbesserungspotenzial sieht auch er: Es brauche noch mehr «direkten Wettbewerb» zwischen den Spitälern. Das BAG und SP-Bundesrat Alain Berset wollen die Spitäler derweil zu noch mehr Effizienz zwingen. Gleichzeitig prüft der Bundesrat, ob die Fallpauschalen auch auf gewisse ambulante Eingriffe ausgedehnt werden sollen.

Für Daniel Tapernoux von der Schweizerischen Patientenorganisation handeln Politik und Verwaltung in Bezug auf die Fallpauschalen ideologisch. Auch liessen sie sich viel zu stark von Beratungsfirmen beeinflussen. «Als Folge davon wird der freie Markt völlig überhöht, während die realen Entwicklungen übersehen werden», sagt der Arzt.

Wo bleibt der Widerstand?

Angesichts der negativen Erfahrungen in der Realität sind die Voraussetzungen für Widerstand heute besser als noch 2007. Im konservativen Kanton Bern hat die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments die Regierung beauftragt, die Risiken der Spitalfinanzierung zu untersuchen. Im Kanton Tessin veröffentlicht eine Gruppe von ÄrztInnen um die SP-Ständerätin Marina Carobbio Guscetti und Franco Cavalli in wenigen Wochen ein Weissbuch, das eine Systemänderung verlangt. Anschliessend würden SP und Grüne eine Standesinitiative mit dieser Forderung im Tessiner Kantonsparlament einbringen, sagt Cavalli.

Für Annina Hess-Cabalzar braucht es Veränderungen hin zu einem System, das nicht den Gewinn, sondern die PatientInnen in den Mittelpunkt stellt. Man müsse endlich im Grundsatz darüber diskutieren, was für ein System man wolle, sagt Hess-Cabalzar. Denn eines sei heute klar: «Das Gemeingut Gesundheit alleine Wettbewerb und Markt auszusetzen, das geht schief.»

Angewandte Diagnostik : So funktionieren Fallpauschalen

In einem ersten Schritt werden die PatientInnen gestützt auf die «Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten» (ICD) einer Diagnose zugeteilt. In der ICD sind mehrere Zehntausend mögliche Diagnosen gelistet. Ebenfalls zur Anwendung kommt die rund 40 000 Diagnosen umfassende Schweizerische Operationsklassifikation. Es können auch mehrere Diagnosen miteinander kombiniert werden, worauf auch noch weitere Parameter wie Alter oder der Schweregrad eines Leidens ins Spiel kommen.

Das Computersystem der Swiss DRG AG errechnet aus diesen Angaben eine Zuteilung zu einer von aktuell 1090 Fallpauschalen, darunter etwa «Lebertransplantation, Alter > 15 Jahre», «Komplexe Eingriffe bei Glaukom» oder «Implantation, Wechsel oder Revision einer Hüft-Endoprothese». Jede Fallpauschale ist mit einem «Kostengewicht» versehen. Ein Beispiel: Für eine Hüft-Endoprothese mit viertägigem Aufenthalt beträgt das Kostengewicht 1,583. Es wird mit einer Grundpauschale multipliziert, die von Spital zu Spital leicht verschieden ist. Beträgt sie 9715 Franken, erhält das Spital für den Eingriff einen pauschalen Betrag von 15 379 Franken. Auch wenn die Behandlung zehn Tage dauern würde, erhielte das Spital gleich viel Geld.

Das System ist ebenso aufwendig wie komplex, selbst für die neu entstandene Berufsgruppe der CodiererInnen in den Spitälern. Die Spitäler haben ein zentrales Interesse daran, so zu codieren, zu diagnostizieren und zu behandeln, dass möglichst hohe Kostengewichte entstehen. 2020 wurde auch in der Psychiatrie ein Fallpauschalensystem eingeführt. Der Reha-Bereich folgt 2022.  

Basil Weingartner

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