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Rätselhafte Verluste bei den Spitälern: An Corona liegt es nicht, sagen die Krankenkassen

Schweizer Spitäler melden für 2020 wegen Covid-19 Defizite in Millionenhöhe. Die Krankenkassen sagen, sie hätten gleich viel Geld überwiesen wie im Vorjahr, und zweifeln die Pandemie als Ursache an.

Franziska Pfister 4 min
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Rapport im Notfallzentrum des Inselspitals Bern.

Rapport im Notfallzentrum des Inselspitals Bern.

Gaetan Bally / Keystone

Die letzten Ferienrückkehrer sitzen wieder im Büro, das neue Schuljahr hat angefangen, da ruft der Spitalverband den finanziellen Ausnahmezustand aus. Im Jahr 2020 drohe Spitälern ein Defizit von über 2 Mrd. Fr., warnt H+ im August. «Wer bezahlt nun die Verluste der Spitäler?», fragte SRF besorgt. Eine rhetorische Frage, in der die Befürchtung mitschwang: wir alle.

Gesundheitsökonomen finden die Summe da schon zu hoch. Ab dem Frühjahr arbeiten Spitäler an der Belastungsgrenze, Betten sind knapp, das Personal ausgelaugt von 12-Stunden-Schichten. Trotzdem soll ein Milliardenverlust anfallen, wie geht das zusammen?

Ein halbes Jahr später bestätigt sich das düstere Bild. Das Operationsverbot in der ersten Welle und Mehrkosten für die Behandlung von Covid-19-Patienten hätten sie in die Verlustzone gedrückt, schreiben Spitäler in allen Landesteilen.

70 Mio. Verlust meldet der Spitalverbund St. Gallen, 38 Mio. die kantonseigenen Spitäler im Aargau, 12 Mio. das Freiburger Spital, 1 Mio. das Kantonsspital Uri. Und das Spital Männedorf spricht von 3 Mio. «Verlust trotz Mehrleistungen». Die Liste wird wohl noch länger, noch liegen nicht alle Jahresrechnungen vor.

Operationen nachgeholt

Ein Aufschrei bleibt aus, nur die Krankenkassen wundern sich. Sie haben Spitälern gleich viel Geld überwiesen wie im Jahr vor der Pandemie, zeigen Marktzahlen des Verbands Santésuisse. «Wir können in den Zahlen keinen Ertragseinbruch sehen», sagt Direktorin Verena Nold. Für ambulante und stationäre Behandlungen in der Grundversicherung flossen 13,7 Mrd. Fr., 0,5% mehr als 2019.

Die Erklärung mit den ausgefallenen Operationen greift laut Verena Nold nicht: «Hätte ein Einbruch stattgefunden, würden wir das in unseren Zahlen sehen.» Gewöhnlich fallen die Spitäler in ein Sommerloch, da die Leute verreisen. Im vergangenen Sommer sei das anders gewesen, sagt Nold. Da seien wohl Operationen nachgeholt worden, die bereits im Frühling hätten stattfinden sollen.

Die Daten erfassen nur die Grundversicherung, sanken womöglich die Einnahmen mit Zusatzversicherten? Nur bedingt, sagt Nold. Bloss gut ein Viertel der Bevölkerung habe eine Spitalzusatzversicherung abgeschlossen. Auch die Auslastung sage noch nicht alles über den Ertrag aus. Wer weniger, dafür kränkere Patienten behandle, können gleich hohe Erträge erwirtschaften wie Spitäler mit mehr leichten Fällen.

Der Spitalverband H+ hält es für verfrüht, Aussagen zu den Effekten von Covid-19 auf die Abrechnungen zu machen. Erfahrungsgemäss gebe es zwischen Behandlung und Bezahlung eine Verzögerung, sagt die Direktorin Anne Bütikofer. Die sei auch im zweiten Semester 2020 zu erwarten. Die Fallpauschalen für Covid-Patienten seien zu tief angesetzt und deckten die effektiven Kosten nicht.

Ein Blick in die Jahresrechnungen zeigt, dass Verluste zwar mit Corona erklärt werden, aber nicht immer damit zu tun haben. Vielmehr spielen betriebswirtschaftliche Überlegungen eine Rolle, die nicht oder noch nicht aufgingen.

Ein Beispiel der Insel-Gruppe: In Bern hat sie ein Zentrum für CAR-T-Zelltherapie eröffnet, eine «zeit- und ressourcenaufwendige» neue Krebsbehandlung, wie der Chef-Onkologe Thomas Pabst sagt. Auch in die Digitalisierung wurde laut einem Sprecher investiert und mehr Geld für Schutzmaterial ausgegeben.

Obwohl 8% weniger Patienten aufgenommen wurden, resultierte noch ein Betriebsgewinn. Erst Abschreibungen von Investitionen in die Infrastruktur rissen ein Loch von 100 Mio. in die Rechnung und führten zu einem Verlust von 7 Mio. Fr.

Oder das Spital Männedorf. Mehrkosten für Test-Infrastruktur, Schutzmaterial und Personal schmälerten den Ertrag des Regionalspitals um 1,5 Mio. Auch die Personalkosten stiegen um 900 000 Fr. Zwei Drittel der Summe hätten die Mitarbeitenden als Boni ausbezahlt erhalten, für den Sondereffort, sagt der Direktor.

Eigentlich wollte Stefan Metzker ausbauen. Im Januar 2020 stellte er Ärzte ein für Behandlungen, die in den Vorjahren vermehrt nachgefragt worden seien. «Dann kam das Operationsverbot und die Chirurgen konnten keine Eingriffe mehr vornehmen.» Sie halfen dann auf der Intensivstation aus. Die Krankenkassen sehen nur einen indirekten Zusammenhang zwischen Verlusten und Corona.

Die Spitäler hätten investiert, doch die erhofften Erträge seien wegen der Pandemie ausgeblieben, sagt Verena Nold von Santésuisse. «Covid-19 hat nicht zu einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen geführt», sagt Thomas Boyer, Chef von Groupe Mutuel (GM). Die Pandemie habe seiner Kasse vergangenes Jahr Kosten von 50 Mio. Fr. verursacht.

Dünne Finanzdecke

Corona-bedingte Zusatzkosten sind laut Patrick Schwendener «nur untergeordnet» für die Mindereinnahmen der Spitäler verantwortlich.» Der Mehrheit von ihnen gelinge es nicht, ein nachhaltiges Ergebnis zu erzielen.

Jedes fünfte Spital weist eine Eigenkapitalquote von unter 30% aus, jedes achte liege gar unter 20%, hat der Director von PWC errechnet. «Hochgerechnet auf die Schweiz heisst dies, dass von rund 160 Spitälern 20 bis 35 konkurs- oder sanierungsgefährdet sind – besonders bei schwerwiegenden Ereignissen wie der Situation in 2020.»

Vielen Kliniken fehle es an Eigenkapital, deshalb drängten sie auf politischer Ebene darauf, Reserven der Krankenkassen heranziehen zu dürfen, sagt Krankenkassen-Chef Boyer. «Unsere Reserven sind aber nicht dazu da, um Verluste der Spitäler zu decken.

Es darf nicht sein, dass die Versicherten für die Pandemie aufkommen müssen.» Spitäler müssten unerwartete Ereignisse über Eigenreserven auffangen können. GM hat daher angekündigt, 50 Mio. Fr. aus den Reserven an die Versicherten zurückzuzahlen.

Noch ist Corona aber nicht bewältigt. Boyer schliesst nicht aus, dass die Gesundheitskosten in den nächsten Monaten steigen werden. Vermehrt würden Operationen nachgeholt und in der Psychiatrie meldeten sich Patienten, die nicht richtig gepflegt worden seien oder in der Pandemie psychische Probleme entwickelt hätten.

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