Überhastete Digitalisierung gefährdet das Gesundheitssystem

Statt das Gesundheitssystem zu entlasten, führt der Digitalisierungsturbo zu Chaos. Der Überblick zeigt, wie Hacker Medatixx lahmlegen und noch mehr.

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(Bild: Thorsten Hübner)

Lesezeit: 16 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen sollte eigentlich Ärzte entlasten, Wartezeiten verkürzen und die Behandlung der Patienten erleichtern. Stattdessen klagen Mediziner und Entwickler von Praxisverwaltungssystemen (PVS) über massive Probleme und fordern einen Kurswechsel in der Politik.

Die Verhandler der Ampel-Koalition haben sich auf ein gemeinsames "Papier der Arbeitsgruppe Gesundheit und Pflege" geeinigt. Auf sechs Seiten skizzieren SPD, Grüne und FDP, wie sie die nächsten vier Jahre das Gesundheitssystem in Deutschland ausbauen wollen. Die Digitalisierung wolle man künftig sogar noch schneller vorantreiben als unter Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Dazu zählen neben dem Upgrade der elektronischen Patientenakte und dem Start der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) vor allem der beschleunigte Ausbau der Telematischen Infrastruktur (TI), die Praxen und Kliniken in Deutschland miteinander vernetzt.

Doch während andere Branchen die Digitalisierung zur Arbeitserleichterung und Effizienzsteigerung begrüßen, sind große Teile der Ärzte und ihrer Softwarelieferanten nicht begeistert. Das Gesundheitsministerium und die Krankenkassen zwingen sie dazu und ziehen denjenigen, die sich nicht an die TI anschließen, 2,5 Prozent vom Honorar ab.

Die Skepsis der Ärzte und Softwareentwickler begründet sich in vielen Problemen und konzeptionellen Fehlern der TI, die verschärft wurden durch den enormen Termindruck, den der vormalige Gesundheitsminister Jens Spahn auf das Digitalisierungsprojekt ausgeübt hat. Hinzu kam die Coronapandemie, die den Druck auf alle Beteiligten verschärfte. Ärzte, Installationstechniker und Softwareentwickler sind mittlerweile erschöpft und mit den Kräften am Ende. Das wirft die Frage auf, ob die kommende Regierung tatsächlich das Digitalisierungstempo noch weiter erhöhen oder besser einen Gang zurückschalten sollte.

Verantwortlich für den Ausbau der TI ist die Projektgesellschaft Gematik. Sie bestimmt unter anderem die Standards und Zertifizierungen einzelner Komponenten. Im Verwaltungsrat der Gematik hat wiederum das Bundesgesundheitsministerium (BMG) das Sagen. Es hält 51 Prozent der Stimmenanteile und gestaltet die Gesetze, in denen die Terminvorgaben stehen, wann welche Beteiligten welche Komponenten fertigstellen müssen.

Die Vorgaben des BMG und der Gematik müssen die Softwarehersteller der Krankenhaus- und Praxisverwaltungssysteme (PVS) termingerecht umsetzen. Sie müssen etwa neue Komponenten wie die eAU implementieren und in der von der Gematik bereitgestellten TI Test- und Simulationsumgebung (TITuS) testen. Erst wenn darin alles funktioniert, werden Updates an die Kunden geschickt. Das klappt aber nur, wenn die PVS-Hersteller ungestört arbeiten können und genügend Zeit haben, die komplexen Systeme auf Fehler zu überprüfen. Rutscht ihnen etwas durch, dann hat das Auswirkungen auf hunderte oder sogar tausende von Arztpraxen und Krankenhäusern, die dann ihre Patienten womöglich nicht mehr behandeln können.

Problemkinder sind vor allem die Hardwarekonnektoren – spezielle Router, über die sich die Praxen mit der TI verbinden. Jedes Mal, wenn eine neue Funktion der TI in Betrieb genommen werden soll, benötigen sie ein Update. Ende Juni kam beispielsweise die Möglichkeit hinzu, elektronische Patientenakten (ePA) anzulegen und auszulesen. Das zugehörige Konnektor-Update sorgte jedoch dafür, dass in manchen Praxen die Kommunikation im Medizinwesen (KIM), über das sich Ärzte austauschen, nicht mehr funktionierte.

Eigentlich sollten solche Fehler nicht passieren. Die Konnektoren – aktuell in den Geschmacksrichtungen CoCoBox von CGM, Secunet und RISE erhältlich – werden zwar nur in Teilen zertifiziert, aber in Gänze von der Gematik zugelassen. Der gesetzliche Auftrag der Gematik umfasst auch die Sicherstellung der Interoperabilität. Doch die Zulassungsverfahren sind offenbar lückenhaft, so dass es immer wieder zu Softwareproblemen und Inkompatibilitäten kommt.

Heiko Rügen und Uwe Streit, Geschäftsführer von Indamed, mit 5000 Installationen einer der größeren PVS-Softwareanbieter, erläuterten die Probleme in einem offenen Brief an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) im Detail: "Es ist für uns sehr aufwendig und teils aufgrund der zeitlichen späten Verfügbarkeit der neuen Funktionen in den Konnektoren unmöglich, gegen jeden der drei derzeit verfügbaren Konnektoren zu testen." Genau dies sei jedoch nötig, da die verschiedenen Modelle individuelle Anpassungen benötigten – trotz Zulassung der Gematik.

Indamed-Kunden mit der Cocobox bekamen beispielsweise beim Versuch, Notfalldaten zu signieren, nur kryptische Fehlermeldungen. "Es dauerte mehrere Monate, bis wir das Problem eingrenzen und mit mehr oder weniger Unterstützung des Konnektor-Herstellers lösen konnten," erklärte Streit. Doch nachdem der Fehler für die Cocobox behoben war, klagten plötzlich Kunden mit dem Rise-Konnektor, sie könnten keine elektronischen Gesundheitskarten mehr einlesen. Denn Cocobox und Rise-Konnektor reagieren unterschiedlich auf bestimmte Soap-Header-Einträge bei der Datenübertragung, was die Tests der PVS-Anbieter so schwierig mache. Eigentlich sollte eine Zertifizierung wie auch Zulassung derartige Unterschiede verhindern, in der Praxis ist das aber nicht der Fall.

Als Hauptursache, warum die IT in Arztpraxen und Krankenhäusern immer wieder streikt, sehen die Indamed-Chefs die illusorischen Terminvorgaben, nach denen neue Funktionen in die PVS-Systeme integriert werden sollen. Als Beispiele nennen sie den elektronische Medikationsplan (eMP), das Notfalldatenmanagement (NFDM), die elektronische Patientenakte (ePA) und die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU), aber auch neue Softwareschnittstellen wie die Verordnungsschnittstelle (VOSS) und die Archiv- und Wechselschnittstelle (AWS). "Allen genannten Fachanwendungen gemeinsam ist, dass sie konzeptionell nicht ausgereift und allein durch die Spezifikation nicht marktreif sind", urteilen Rügen und Streit in ihrem Brief.

Zwischendurch mussten die Entwickler von Mai bis Juli 2021 kurzfristig die Unterstützung des Impfzertifikats einschieben und auf anderen Baustellen pausieren. In ihrem Brief beschreiben die beiden Geschäftsführer im Detail, unter welchem Zeitdruck gearbeitet wurde. Demnach erhielt der Hersteller ein zur Implementierung der eAU nötiges Stylesheet erst im Dezember 2020 – ein Monat vor dem ursprünglich gesetzlich vorgeschriebenen Starttermin, zu dem die eAU fertig werden sollte. Im Laufe des Jahres verschoben sich die Einführungstermine der ePA und des E-Rezeptes immer weiter nach hinten. "Aufgrund dieser Terminverschiebungen und Nacharbeiten für nicht funktionierende Fachanwendungen ist keine zuverlässige Entwicklungsplanung möglich," stellen Rügen und Streit klar.

Der vormalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nahm bei der Digitalisierung trotz anhaltender Probleme nicht den Fuß vom Gas und setzte Entwickler unter hohen Termindruck.

(Bild: Michael Kappeler/dpa)

Verantwortlich für die Fehlplanung macht Indamed die Gematik. Sie stellt den Softwareherstellern die Testumgebung TITuS bereit, mit der die Hersteller neue Funktionen und Updates prüfen sollen. "TITuS ist auf die Fachanwendungen E-Rezept und ePA nicht vorbereitet", konstatiert Streit. "Die Umgebung ist nicht zuverlässig erreichbar und hat keine belastbaren Rückmeldungen gegeben." Den technischen Support der Gematik bezeichnen Rügen und Streit als "mangelhaft". Ein Ticket mit "höchster Dringlichkeit" zu Problemen der eAU sei elf Tage ohne Reaktion geblieben.

Die Gematik bestätigte c’t auf Nachfrage: "Eine spezifikationskonforme Umsetzung einzelner Systeme garantiert nicht 100 Prozent Interoperabilität." Die Gematik habe in den vergangenen zwei Jahren Maßnahmen entwickelt, die "zu einer Reduzierung der Qualitätsmängel beitragen". Dazu gehörten etwa "von der Gematik organisierte Connectathons" sowie "Ende-zu-Ende Interoperabilitätstests" mit den Herstellern. Bei der Testumgebung TITuS räumte die Gematik ungeplante Wartungsfenster sowie Updates ein, die nicht erfolgreich waren. Hersteller sollten deshalb unbedingt "Tests gegen Echtkomponenten" durchführen.

Obwohl der Gematik und dem BMG also bewusst war, dass Hersteller mit einer unfertigen Testumgebung entwickeln mussten, rückten sie vom TI-Zwang und dem Termindruck nicht ab. Das wirft die Frage auf, ob die Gematik ihre gesetzlichen Aufgaben (§ 311 SGB V) in vollem Umfang erfüllt. Als Nächstes droht die Einführung des E-Rezeptes zum 3. Januar zu scheitern, dessen bundesweiten Testlauf die Gematik erst am 1. Dezember startet.