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Leer und trotzdem bezahlt. Die Krankenkassen wollen, dass der Bund auch das Vorhalten von Leistungen in Kliniken finanziert.

© imago images/Max Stein

Kassen wollen Vorhaltepauschalen für Kliniken: "Alleinige Leistungsorientierung hat sich nicht bewährt"

Kliniken sollen nicht nur Geld fürs Behandeln, sondern auch fürs Vorhalten von Leistungen bekommen. Darauf drängt Stefanie Stoff-Ahnis vom GKV-Spitzenverband.

Frau Stoff-Ahnis, rechnen Sie unter der neuen Regierung mit einer großen Krankenhausreform oder wieder nur mit Klein-Klein-Reparaturen?

Die Politik schiebt das Thema seit Jahrzehnten vor sich her. Insofern ist es ein Fortschritt, dass im Koalitionsvertrag jetzt ausdrücklich steht, dass wir eine echte Reform brauchen. Und es finden sich dort durchaus konkrete Ansatzpunkte, beispielsweise was Qualitätsverbesserungen betrifft. Allerdings bedarf es für Strukturfragen auch einer Zustimmung der Länder.

Beginnen wir mit der Kernfrage: Hat Deutschland zu viele Kliniken? Und wenn ja: Wie viele müssten abgebaut werden?

Die Corona-Pandemie hat nochmal dramatisch vor Augen geführt, dass die Krankenhausstrukturen reformbedürftig sind: Wer schwer krank ist, braucht eine spezialisierte Versorgung und ist dafür auch bereit, weitere Wege in Kauf zu nehmen. Und schauen Sie auf die Auslastung. Vor der Coronakrise war jedes fünfte Bett nicht belegt, während der Pandemie standen in Kleinkrankenhäusern sogar 40 Prozent der Betten leer. Gleichzeitig haben wir das Problem fehlender Pflegekräfte und beständig steigender Kosten. Daraus leiten wir ab, dass sich die Strukturen dringend verändern müssen – und zwar keinesfalls hin zu noch mehr Krankenhäusern. Allerdings ist der Reformbedarf mit einer hochgerechneten Zahl nicht ansatzweise genug beschrieben. Im Gegenteil: Meine Sorge ist, dass dadurch konstruktive Debatten erschwert werden. Wir würden dann gleich wieder in der Konfrontation landen.

Warum?

Dann streiten wir darüber, ob X oder Y Kliniken genug sind, dabei müssen wir doch auf die Versorgungsnotwendigkeiten schauen. Das hängt mit unterschiedlichen Gegebenheiten und Zielsetzungen zusammen. Einerseits haben wir bedarfsgerechte Versorgung auf dem Land zu sichern, andererseits brauchen wir mehr Spezialisierung und eine Konzentration bestimmter Leistungen mit hoher Qualität. Und in Ballungsräumen haben wir natürlich auch Überversorgung, die es abzubauen gilt.

Durch großzügige Hilfen sind in der Pandemie auch kleine Häuser ohne Coronapatienten gepäppelt worden. Ein Fehler?

Tatsächlich haben die Hilfen des Bundes dazu geführt, dass der bestehende Reformbedarf zugedeckt wurde. Die Bundeszahlungen erfolgten nicht zielgerichtet, sondern per Gießkanne – am Anfang bekamen sogar psychiatrische Kliniken Gelder, wenn sie Betten freihielten! Sie gingen nicht nur an Häuser, die man für die Schwererkrankten in der Pandemie benötigte.

Ist dieser Gießkanneneffekt bezifferbar?

Die Daten für 2021 liegen noch nicht vor. Aber im Jahr 2020 kamen die Kliniken auf Mehrerlöse von 15 Prozent – bei gleichzeitigem Fallrückgang um 13 Prozent. Der Gesamterlös aller Krankenhäuser betrug 92,5 Milliarden Euro, das waren über 12 Milliarden mehr als 2019. Ein exorbitanter Anstieg, über den man nur sagen kann: 2020 war das goldene Jahr der Krankenhausfinanzierung.

Vor der Coronakrise waren die Forderungen, die Versorgung stärker zu konzentrieren, sehr forsch. Das hat sich in der Pandemie geändert. Werden Schließungen politisch durchsetzbar sein?

Bisher obliegt die Krankenhausplanung allein den Ländern – die oft wenig Interesse an stärkerer Konzentration und Abbau von Klinikstandorten haben, da die laufende Finanzierung der Krankenhäuser nicht durch sie erfolgt, sondern durch die Beitragszahlenden der Krankenkassen. Der Koalitionsvertrag deutet an, dass sich nun aber etwas ändern könnte. Und das wäre wünschenswert. Im Coronajahr 2020 hat der Bund über zehn Milliarden Euro zugeschossen, um die Krankenhausversorgung aufrechtzuerhalten. Da wäre schon zu erwarten, dass er dafür dann auch gewisse Mitspracherechte bei der Planung bekommt.

Im Erstentwurf des Koalitionsvertrags war ganz konkret die Rede von einer stärkeren Beteiligung des Bundes an den Investitionskosten. Das ist dann rausgeflogen. Schade drum?

Ja, denn das wäre wichtig gewesen. Wir haben über viele Jahre erlebt, dass die Länder ihrer Verantwortung für die Investitionsfinanzierung nicht nachgekommen sind. Der Bund ist in der Pandemie zum wesentlich Akteur geworden und sollte es auch bleiben. Wir plädieren für eine Vorhaltefinanzierung durch den Bund – nach bundeseinheitlichen Kriterien und Direktzahlung an die Krankenhäuser.

Manche hatten gehofft, dass sich die Ampel vom System der Fallpauschalen verabschiedet, das ja oft für eine patientenfeindliche Kommerzialisierung des Kliniksystems verantwortlich gemacht wird. Was spricht dafür, es beizubehalten?

Wir begrüßen es, dass das Grundgerüst der Fallpauschalen erhalten bleibt. Denn sie bringen Transparenz in das Versorgungsgeschehen und ermöglichen damit Qualitätssicherung. Ein weiterer Vorteil ist schlicht, dass auf diese Weise begrenzte Mittel gerecht verteilt werden können und die Krankenhäuser sich einem Wettbewerb untereinander zu stellen haben. Allerdings hat sich die alleinige Leistungsorientierung in der Vergangenheit nicht bewährt.

Woran lag das?

Eine Ursache dafür war die fehlende Investitionsbereitschaft der Länder. Dadurch gab es fragwürdige Querfinanzierungen, das allein für die Patientenversorgung bestimmte Geld floss auch in Baumaßnahmen und Anschaffungen. Anders gesagt: Statt genug Pflegekräfte einzustellen wurde vom Krankenhausmanagement Geld umgelenkt, um zum Beispiel das Dach neu zu decken oder Gewinne zu erzielen. Aber auch die notwendige Vorhaltung bestimmter Leistungen ist in den Fallpauschalen nicht genügend abgebildet. Insofern freuen wir uns über die Ankündigung im Koalitionsvertrag, das bisherige System um erlösunabhängige Vorhaltepauschalen zu ergänzen.

Wie muss man sich das vorstellen mit den Vorhaltepauschalen?

Es gäbe zusätzliche Zahlungen, die sich nicht an erbrachten Leistungen, sondern am notwendigen Vorhalten von Personal und Technik orientieren. Sie könnten nach Versorgungsstufen der Kliniken differenziert sein, also je nachdem, ob es sich um Basis-, Spezial- oder Maximalversorger handelt. Und dafür sollte der Gemeinsame Bundesausschuss entsprechende Kriterien definieren. Das wäre nicht nur finanztechnisch wünschenswert, es würde auch aus Versorgungssicht total Sinn machen. Beginnen könnte man damit etwa in der Kinderheilkunde und Geburtshilfe, aber auch in der Notfallversorgung. In diesen Bereichen brauchen wir dringend eine Vorhaltefinanzierung.

Zu einer qualitätsbezogenen Vergütung – also etwa Zuschlägen für gute und vielleicht auch Abschläge für schlechte Behandlung – findet sich nichts im Koalitionsvertrag. Hat man sich von dieser eigentlich gut klingenden Idee still und leise wieder verabschiedet?

Qualitätsorientierte Vergütung wäre hilfreich und würde aus GKV-Sicht immer begrüßt. Aber die Entwicklung solcher Modelle ist sehr anspruchsvoll und momentan offenbar noch ein zu dickes Brett für die Koalition. Immerhin haben wir in der aktuellen Versorgung mit Mindestmengenregelung und GBA-Leitlinien schon ein bisschen was davon. Wer sich nicht an diese Qualitätsvorgaben hält, darf die entsprechenden Operationen, zum Beispiel eine Lebertransplantation oder ein neues Hüftgelenk, dann nicht mehr durchführen. Das ist echter Patientenschutz. Wir könnten uns da aber deutlich mehr vorstellen. Beispielsweise, dass man gute pflegerische Leistung gesondert vergütet – so zum Beispiel ein professionelles Pflegeassessment. Das wäre gleichzeitig ein Anreiz für die Kliniken, mehr in gute Pflege zu investieren.

Ein Nadelöhr, vor allem in größeren Städten, ist die Notfallversorgung. Es landen dort viel zu viele Menschen, die auch anders behandelbar wären. Was muss hier geschehen?

Die Reform der Notfallversorgung ist überfällig. Wir haben bereits in der vergangenen Legislaturperiode für vorgeschaltete Anlaufstellen in den Krankenhäusern geworben, wo die Patientinnen und Patienten nach einer Ersteinschätzung je nach Schwere des Falls entweder in die Notfallpraxen der Kassenärzte oder in die Notaufnahme geschickt werden, den sogenannten Gemeinsamen Tresen. Leider ist zwischen den beiden Versorgungssystemen noch immer ungeklärt, wie das organisiert werden kann und wer dabei welche Rolle übernimmt. Außerdem muss es darauf hinauslaufen, dass der Rettungsdienst die Patientinnen und Patienten in die für den konkreten Fall geeignete Klinik mit der entsprechenden Notfallstufe fährt.

Sollte es in den Krankenhäusern mehr Möglichkeiten für ambulante Behandlungen geben?

Ja, solche Möglichkeiten sollten weiterentwickelt werden. Von 20 Millionen Fällen in den Kliniken pro Jahr sind vier Millionen lediglich Ein-Tages-Fälle. Und der Blick auf andere Länder zeigt: Von diesen vier Millionen könnten viele ambulant behandelt werden. Um die knappen Kapazitäten richtig einzusetzen, also Geld zu sparen und auch Pflegekräfte genau dort einzusetzen, wo man sie wirklich braucht, drängt sich das auf. Wir arbeiten mit Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Krankenhausgesellschaft bereits an einem Katalog an Leistungen, die ambulant erbracht werden sollten. Allerdings müssen die dann auch stets einheitlich wie ambulante Fälle vergütet werden, egal ob sie in ambulanten Praxen oder in Kliniken erfolgen. Das ist im Koalitionsvertrag leider unscharf formuliert.

Teuer für die Beitragszahler: Für Medikamente bleibt es bei der vollen Mehrwertsteuer.
Teuer für die Beitragszahler: Für Medikamente bleibt es bei der vollen Mehrwertsteuer.

© Lisa Krassuski/dpa

Apropos Sparen: Die Ampel-Sondierer hatten vor, die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel auf sieben Prozent zu senken. Das wurde auf den letzten Drücker wieder gestrichen. Hatten Sie die Milliarden-Ersparnis schon eingepreist?

Wir fordern seit langem eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel. Es klingt doch wie ein schlechter Witz, dass für Schnittblumen oder Ölgemälde lediglich der reduzierte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent fällig ist, aber die Krankenkassen für Blutverdünner und Krebsmedikamente mit 19 Prozent mehr als doppelt so hohe Steuern bezahlen müssen. Eine entsprechende Anpassung würde die Solidargemeinschaft um über fünf Milliarden Euro pro Jahr entlasten. Entsprechend enttäuscht sind wir, dass die Regierenden diesen Schritt nun doch nicht gegangen sind. Ähnlich war es mit den Hersteller-Rabatten. Auch hier hatte sich die Arbeitsgruppe wohl bereits auf eine Erhöhung geeinigt, die nun doch nicht kommt. Aber immerhin: Das Preismoratorium für den Bestandsmarkt wird verlängert. Das macht Sinn, denn dadurch bleibt mehr Geld für echte Arznei-Innovationen. Konkret spart das den Beitragszahlenden 1,5 bis zwei Milliarden Euro im Jahr.

Niedrigere Kosten stellt die Koalition auch für Medikamente mit neuen Wirkstoffen in Aussicht. Bisher dürfen die Hersteller ein Jahr lang beliebig hohe Preise verlangen, bevor ein Nutzen nachgewiesen ist. Nun soll der ausgehandelte Erstattungsbetrag schon nach sieben Monaten gelten. Zufrieden mit dem Kompromiss?

Natürlich hätten wir es besser gefunden, wenn der gemeinsam verhandelte Erstattungsbetrag rückwirkend bereits ab dem ersten Tag angesetzt würde. Aber auch die Sieben-Monats-Lösung ist ein wichtiger Schritt. Sie wird zu einer Ersparnis von ungefähr 110 Millionen Euro im Jahr führen. Außerdem wurde angekündigt, das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) weiterzuentwickeln. Dafür böte sich vor allem der Bereich von Sonderzulassungen an, beispielsweise bei Medikamenten gegen seltene Krankheiten. Hier gilt bisher, dass die Hersteller für neue Mittel unter einem Jahresumsatz von 50 Millionen Euro gar keinen Zusatznutzen nachweisen müssen. Diese Regelung sollte gestrichen werden.

Die Hersteller warnen, dass damit die schnelle Verfügbarkeit neuer und vielleicht auch überlebenswichtiger Arznei gefährdet würde…

Das muss nicht zwingend so sein. Wenn die Sonderregelung für Orphan Drugs wegfielen, hätten die Hersteller aber endlich einen Anreiz, auch zu diesen Arzneimitteln Studien in Auftrag zu geben und Daten vorzulegen. Für die Patientinnen und Patienten bliebe es dann nicht länger im Vagen, ob die neuen Wirkstoffe tatsächlich den versprochenen Zusatznutzen bringen. Und die Beitragszahlenden würden ebenfalls profitieren, die Ersparnis läge bei rund 350 Millionen Euro im Jahr. Obwohl Arzneimittel mit einer Sonderzulassung, wie etwa die Orphan Drugs, nur ein Prozent des Verordnungsanteils betreffen, produzieren sie nämlich bereits 25 Prozent aller Ausgaben für AMNOG-Medikamente – mit steigender Tendenz.

Erschrocken sind viele Kassenvorstände über die Ankündigung im Koalitionsvertrag, die Budgetierung der Hausarzt-Honorare aufzuheben. Sie auch?

Ganz klar: Wir lehnen das ab. Im Koalitionsvertrag wird dieser Vorstoß ja im Kontext einer Stärkung des ländlichen Raums präsentiert. Doch de facto würde das dort gar nichts bringen. Die Honorarsystematik in den Facharzt-Gruppen bietet den Kassenärztlichen Vereinigungen schon jetzt die Möglichkeit, Allgemeinärzten insbesondere in strukturschwachen, ländlichen Regionen zu fördern – und ganz überwiegend wird das auch so praktiziert. Die Budgetierung spielt für diese Mediziner gar keine Rolle.

Wer würde dann davon profitieren?

Die Allgemeinärzte in Ballungszentren, sie bekämen dadurch höhere Honorare. Allerdings wäre das wenig sachgerecht. Im bundesweiten Durchschnitt beträgt der Reinertrag je Inhaber einer Praxis für Allgemeinmedizin laut Statistischem Bundesamt von 2019 rund 188.000 Euro im Jahr. Das zeigt: Eine bessere Vergütung der Ärztinnen und Ärzte ist nicht unser dringlichstes Problem. Wir würden rund 260 Millionen Euro aus Beitragsgeldern für höhere Arzthonorare ausgeben, ohne dass sich die Versorgung für die Patientinnen und Patienten in irgendeiner Weise verbessert.

Stefanie Stoff-Ahnis ist Vorstandsmitglied im Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) - und dort zuständig für Krankenhäuser, ambulante Versorgung sowie Arzneimittel. Das Interview mit ihr führte Rainer Woratschka

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