Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus

SG Koblenz: Implantation von endobronchialen Nitinolspiralen („Coils“)  im Jahre 2017 hatte das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative gem. § 137c Abs. 3  SGB V 

In zwei von uns vertretenen Verfahren hat das SG Koblenz mit Urteilen vom 23.06.2021 (S 8 KR 562/19; S 8 KR 563/19 – rechtskräftig) eine Krankenkasse zur Zahlung der Vergütung für die im Krankenhaus unserer Mandantin vorgenommenen Lungenvolumenreduktionen mittels Implantation von endobronchialen Nitinolspiralen („Coils“) verurteilt.

Das Gericht hat hierzu festgestellt, dass die neue Behandlungsmethode der Coil-Implantation zu den entscheidungserheblichen Behandlungszeitpunkten (22.02.2017/12.04.2017) das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative nach § 137c Abs. 3 SGB V hatte.

Es weicht damit im Ergebnis von den bisherigen Coils-Entscheidungen des BSG (Urt. v. 19.12.2017, B 1 KR 17/17 R; Urt. v. 08.10.2019, B 1 KR 2/19 R) und des LSG Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 16.06.2020, L 5 KR 743/18) ab. Ein Beispiel für eine Auflehnung gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung des BSG? Nein. Zwischen den einzelnen Fällen bestanden zum einen Unterschiede in tatsächlicher Hinsicht – Evidenzlage zum Behandlungszeitpunkt (2013/2016 vs. 2017). Zum anderen sah sich das Gericht mit gewandelten rechtlichen Rahmenbedingungen konfrontiert: Es konnte seine Entscheidungen im Lichte der – in neuer Senatsbesetzung ergangenen – vierten Liposuktions-Entscheidung des BSG vom 25.03.2021 (B 1 KR 25/20 R) treffen.

Der 1. Senat des BSG vertritt in vorgenannter Entscheidung – unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung – die Auffassung, dass die Vorschrift des § 137c Abs. 3 SGB V das allgemeine Qualitätsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V partiell einschränkt. Die frühere Senatsrechtsprechung hatte hingegen auch hinsichtlich der Potentialleistungen nach § 137c SGB V grundsätzlich das allgemeine Qualitätsgebot als Maßstab angelegt. Das bedeutete, dass auch insoweit der „volle Nutzennachweis im Sinne eines evidenzgestützten Konsenses der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute“ zu erbringen war (vgl. etwa die Urteile v. 19.12.2017 – B 1 KR 17/17 R – „Coils I“ , vom 18.12.2018 – B 1 KR 11/18 – „Proteomanalyse“ und vom 08.10.2019 – B 1 KR 2/19 R – „Coils II“). Dieses Auslegungsergebnis hatte die klar gefasste Vorschrift und den in den Gesetzesmaterialien eindeutig zum Ausdruck kommenden Gesetzgeberwillen zu Makulatur werden lassen (zu den verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Rechtsprechung, s. zuletzt SG Aachen, Urt. v. 13.04.2021 – S 13 KR 587/19, Rn. 34 ff.).  Zwei Mal sah sich der Gesetzgeber deshalb genötigt, mittels einer (hier sog.) „lex-BSG“ die seinem Willen widersprechende BSG-Rechtsprechung einzufangen (–> Einfügung des Abs. 3 in § 137c SGB V durch Art. 1 Nr. 64 Buchst b GKV-Versorgungsstärkungsgesetz vom 16.7.2015 und Änderung des § 39 Abs. 1 S. 1 und § 137c Abs. 3 S. 1 SGB V durch Art. 1 Nr. 0 und 4b Implantateregister-Errichtungsgesetz vom 12.12.2019).

Die Verabschiedung der früheren BSG-Rechtsprechung noch während des anhängigen Verfahrens vor dem SG Koblenz machte einen argumentativen „Spurwechsel“ möglich. Das Gericht musste nicht mehr vom vollen Nutzennachweis der Coil-Implantation überzeugt werden. Zur Verurteilung der Kasse reichte nunmehr bereits der Nachweis aus, dass die Methode zu den entscheidungserheblichen Behandlungszeitpunkten jedenfalls einem abgesenkten Qualitätsgebot, dem Potentialmaßstab“, genügte.

Nach der neuen BSG-Entscheidung dürfen Potentialleistungen vor Erlass einer Erprobungsrichtlinie nur dann angewendet werden, „wenn die Abwägung von Chancen und Risiken zugunsten der Potentialleistung ausfällt“. Dies sei dann der Fall, „wenn im einzelnen Behandlungsfall eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, für die nach dem jeweiligen Behandlungsziel eine Standardtherapie nicht oder nicht mehr verfügbar ist.“, BSG, Urt. v. 25.03.2021 – B 1 KR 25/20 R –, Rn. 40, juris.

Die Erfüllung dieser Voraussetzungen konnte in den beiden Streitfällen problemlos nachgewiesen werden:

Bei den behandelten Patienten waren die konventionellen Behandlungsmethoden ausgeschöpft. Sie litten jeweils unter einem schweren Lungenemphysem mit einem pulmonalen Residualvolumen > 225 % vom Soll. Damit gehörten sie genau der Patientenklientel an, bezüglich derer der G-BA bereits im Folgejahr (2018) zu der Einschätzung gelangte, dass der Nutzen einer Coil-Implantation belegt ist (Tragende Gründe zum G-BA-Beschluss vom 20.12.2018, S. 7). Wegen der Schwere der Erkrankung, der fehlenden Behandlungsalternativen sowie der Datenlage zur Coil-Implantation zum Behandlungszeitpunkt konnte auf den – zur Zeit der Behandlungen bereits vorliegenden – Abschlussbericht des IQWiG vom 07.02.2017 verwiesen werden. Zu verweisen war daneben auf die vom G-BA im Rahmen seines Bewertungsverfahrens durchgeführte Expertenanhörung. Die angehörten Sachverständigen befanden die zur Coil-Implantation vorliegenden Daten ausdrücklich als „sehr gut“. Zwar gaben sie dieses Votum erst am 15. Dezember 2017 ab, d.h. einige Monate nach den streitgegenständlichen Behandlungen. Jedoch konnte anhand des Wortprotokolls zur Sachverständigenbefragung präzise nachvollzogen werden, dass sie sich damit vor allem auf die bereits im Jahre 2016 publizierten Ergebnisse der „RENEW“-Studie bezogen. Auf diese Studie sowie die beiden weiteren Studien „REVOLENS“ (2016) und „RESET“ (2013) hatte bereits das vom G-BA beauftragte IQWiG sein positives Votum gestützt. Bei Beachtung aller gesetzlicher Vorgaben streitet   nach dem BSG (Urt. v. B 1 KR 10/10 R) eine Rechtsvermutung für die Richtigkeit der Beurteilungen des IQWiG („Das IQWiG stellt ein Expertengremium dar, das in seiner persönlichen und fachlichen Integrität und Qualität durch Transparenz und Unabhängigkeit gesetzlich und institutionell abgesichert ist“).

Damit war nachvollziehbar dargelegt, dass zu den jeweiligen Behandlungszeitpunkten ein Konsens in den einschlägigen Fachkreisen zumindest über einen potentiellen Nutzen der Behandlungsmethode existierte. Nicht so leicht von der Hand zu weisen war in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf die zeitliche Nähe der Behandlungen zum Abschluss des formalisierten Bewertungsverfahrens nach § 137c SGB V im Jahre 2018. Das Verfahren endete mit der Aufnahme der Coil-Implantation in die Anlage I („Methoden, die für Versorgung mit Krankenhausbehandlung erforderlich sind“) der Richtlinie des G-BA zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus. Der geringe zeitliche Abstand war dabei aber nicht allein ausschlaggebend; vielmehr war zusätzlich festzustellen, dass der G-BA seine Nutzenbewertung maßgeblich auf die des IQWiG sowie auf das Votum der von ihm befragten Fachexperten gestützt hatte, und in der Zwischenzeit keine weiteren Studien erschienen waren, die das Meinungsbild der Fachleute in eine andere Richtung hätten lenken können. Hiernach dürfte die Behandlungsmethode zu den entscheidungserheblichen Zeitpunkten sogar dem allgemeinen Qualitätsgebot des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V entsprochen haben.

Ihr Ansprechpartner: RA Kushtrim Zumeri