Bundessozialgericht

Verhandlung B 1 KR 36/20 R

Krankenversicherung - Krankenhausvergütung - MDK-Prüfverfahren - abstrakte Strukturanalyse - Aufrechnungsverbot

Verhandlungstermin 10.11.2021 10:50 Uhr

Terminvorschau

A. gGmbH ./. Techniker Krankenkasse
Das klagende Krankenhaus behandelte eine Versicherte der beklagten KK vom 22.1. bis 23.5.2016 stationär und rechnete hierfür 120.564,87 Euro nach Fallpauschale (DRG) F36C ab (Rechnung vom 16.6.2016). Die KK zahlte diesen Betrag zunächst, leitete anschließend jedoch eine Prüfung durch den MDK im Hinblick auf Behandlungsdauer sowie Kodierung von Hauptdiagnose und Prozeduren ein; die KK stellte ua die Frage: "Wurde die erbrachte Leistung mit der kodierten Prozedur 8-98f.20 korrekt abgebildet?" Der MDK kam zu dem Ergebnis, dass hier ua eine andere Hauptdiagnose zu kodieren und Änderungen bei einigen OPS-Kodes vorzunehmen seien und daher die geringer bewertete DRG A36B abzurechnen sei. Das Gutachten enthielt den Passus: "Aussagen in Gutachten zu OPS-Komplexbehandlungen beziehen sich nicht auf Strukturvorgaben einer OPS-Komplexbehandlung" (MDK-Gutachten vom 7.11.2016). Auf dieser Grundlage übersandte das Krankenhaus eine korrigierte Rechnung über 106.287,15 Euro (7.7.2017). Nach Rückbuchung des ursprünglichen Zahlbetrags zahlte die KK den neuen Rechnungsbetrag (11.7.2017). Am 3.5.2018 verrechnete die KK (nach "erneuter Kontaktaufnahme im April 2018") einen Betrag von 28.617,86 Euro mit unstreitigen anderweitigen Forderungen des Krankenhauses: Das Krankenhaus erfülle nicht die Voraussetzungen der Prozedur 8-98f.20, so dass der OPS-Kode nicht zu kodieren und der daraus resultierende Differenzbetrag zu verrechnen sei. Zwei am 24.6.2016 und am 2.9.2016 durchgeführte Strukturanalysen hätten ergeben, dass das Krankenhaus nicht die Strukturvoraussetzungen der Komplexprozedur nach OPS 8-98f (Aufwendige intensivmedizinische Komplexbehandlung) erfülle.

Das SG hat die KK zur Zahlung des strittigen Betrags von 28.617,86 Euro verurteilt. Das LSG hat die Berufung der KK zurückgewiesen: Es könne offenbleiben, ob der verrechnete Erstattungsanspruch in der Sache bestehe. Jedenfalls sei die KK durch das Aufrechnungsverbot nach § 11 Abs 5 des zwischen der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft und den Krankenkassenverbänden in Hamburg abgeschlossenen Landesvertrags "Allgemeine Bedingungen der Krankenhausbehandlung" nach § 112 Abs 1 und 2 Satz 1 Nr 1 SGB V an der Aufrechnung gehindert. Das Aufrechnungsverbot sei von der Ermächtigungsgrundlage ("Abrechnung der Entgelte") gedeckt. Der Anwendungsbereich der auf Grundlage des § 17c Abs 2 KHG geschlossenen PrüfvV 2014 sei nicht eröffnet, da hier keine Einzelfallprüfung nach § 275 Abs 1c SGB V erfolgt sei, sondern sich die Erstattungsforderung auf eine abstrakt durchgeführte Strukturanalyse bezüglich der Abrechenbarkeit des streitigen OPS-Kodes 8-98f.20 stütze.

Die KK rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 112 Abs 1 und 2 Satz 1 Nr 1 SGB V, § 301 Abs 1 Satz 1 Nr 6 SGB V und § 9 PrüfvV 2014, sowie § 11 Abs 5 Satz 1 iVm § 6 Abs 5 und § 11 Abs 5 Satz 2 des Landesvertrags.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Hamburg - S 6 KR 5611/18, 03.03.2020
Landessozialgericht Hamburg - L 1 KR 52/20, 24.09.2020

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 42/21.

Terminbericht

Die zulässige Revision der beklagten KK hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung Erfolg. Die Aufrechnung der KK scheitert nicht an einem landesrechtlichen Aufrechnungsverbot. Maßgeblich sind allein die Regelungen der PrüfvV 2014. Die KK führte eine Abrechnungsprüfung in Bezug auf einen konkreten Behandlungsfall nach der PrüfvV 2014 durch, die auch die sachlich-rechnerische Prüfung hinsichtlich der Voraussetzungen des OPS-Codes 8-98f umfasste. Die PrüfvV 2014 galt im Jahr 2016 auch für sachlich-rechnerische Prüfungen. Die Anfügung des § 275 Abs 1c Satz 4 SGB V zum 1.1.2016 hatte zur Folge, dass sich der Anwendungsbereich der PrüfvV 2014 ab diesem Zeitpunkt auf sachlich-rechnerische Prüfungen erweiterte. Die KK durfte bei der Prüfung auch Erkenntnisse aus einer abstrakten Strukturprüfung verwerten, an der das Krankenhaus freiwillig mitgewirkt hatte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - der konkrete Prüfauftrag für den einzelnen Behandlungsfall die Prüfung derjenigen Strukturmerkmale mit umfasste, die auch Gegenstand der abstrakten Strukturprüfung waren. Dass es für solche abstrakten Strukturprüfungen im Jahr 2016 an einer rechtlichen Grundlage fehlte, ist unerheblich. Die PrüfvV 2014 bezieht sich umfassend auf alle Abrechnungsprüfungen nach § 275 Abs 1c SGB V in Bezug auf konkrete Abrechnungsfälle. Die PrüfvV 2014 enthält keine Regelung dahingehend, dass die KK der Auffassung des MDK folgen muss oder ausschließlich Erkenntnisse aus dessen gutachtlicher Stellungnahme verwerten darf. Aus anderen Quellen stammende Erkenntnisse sind in Abrechnungsprüfungen nach der PrüfvV 2014 verwertbar. Würden Gesichtspunkte, die zwar thematisch zum Prüfauftrag gehören, durch den MDK aber nicht bewertet wurden, aus der Anwendbarkeit der PrüfvV und insbesondere der Geltung ihrer Fristen ausgeklammert, widerspräche dies der intendierten Beschleunigung und Konzentration der Prüfverfahren. Das in § 11 Abs 5 des in Hamburg geltenden Landesvertrags nach § 112 SGB V geregelte Aufrechnungsverbot ist mit § 9 PrüfvV 2014 unvereinbar und daher insoweit nichtig. Denn Landesverträge nach § 112 Abs 1 SGB V dürfen die allgemeinen Bedingungen der Krankenhausbehandlung ausschließlich innerhalb der bundesgesetzlichen Grenzen regeln.

Ob die KK nach den Vorgaben der PrüfvV 2014 hier zur Aufrechnung berechtigt war und insbesondere die dort geregelten Fristen eingehalten hat, konnte der Senat auf Grundlage der Feststellungen des LSG nicht entscheiden. Die Berechtigung zur Aufrechnung setzt insbesondere voraus, dass das Prüfverfahren vor April 2018 noch nicht durch Mitteilung einer abschließenden Entscheidung durch die KK abgeschlossen war (vgl § 8 PrüfvV 2014). Aus einer solchen Entscheidung muss klar zum Ausdruck kommen, dass die KK die Prüfung als abgeschlossen ansieht und auf den weiteren Lauf der für die abschließende Entscheidung geltenden Neun-Monats-Frist nach § 8 Satz 3 PrüfvV 2014 verzichtet. Nicht ausreichend ist hierfür für sich genommen etwa die Übersendung eines im Prüfverfahren nach der PrüfvV eingeholten MDK-Gutachtens oder die Zahlung auf eine im Prüfverfahren korrigierte Rechnung des Krankenhauses. Die Berechtigung zur Aufrechnung setzt ferner voraus, dass zum Zeitpunkt der Mitteilung der abschließenden Entscheidung über die hier streitige Rechnungskürzung durch die KK die Neun-Monats-Frist noch nicht abgelaufen war, die sich hier um die Zeit zwischen Prüfanzeige und Übermittlung des korrigierten Datensatzes verlängert. Das LSG wird die entsprechenden Feststellungen zu treffen haben.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 42/21.

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