So manche werdende Mutter und auch so manchen werdenden Vater treibt diese Sorge um: „Schaffen wir es, wenn es so weit ist, rechtzeitig bis zur Klinik?“ In und um Attendorn im Sauerland zum Beispiel: In der 24.000 Einwohner zählenden Kommune schloss kürzlich die dortige St. Barbara-Klinik ihre Geburtsstation und die Gynäkologische Abteilung. Für immer.
Die Nachricht sorgte in der Bevölkerung der Hansestadt für Entsetzen und für misstrauische Fragen. Denn die St. Barbara-Klinik war erst 2014 von der Helios Kliniken GmbH übernommen worden, einem Konzern mit allein in Deutschland rund 90 Kliniken.
"In Attendorn landet kein Storch mehr"
Auf die Gewinnorientierung der GmbH zielte dann auch prompt eine Protestaktion. Unbekannte hatten kurz nach Bekanntwerden der Schließung Wäscheleinen durch die Attendorner Altstadt gespannt. Daran baumelten Babystrampler und Protestschilder mit Sprüchen wie: „In Attendorn landet kein Storch mehr“, „500 Kinder sind zu wenig“ oder auch „Wenn Geburten sich nicht mehr lohnen …“. Und auf einem anderen: „Unsere Gesundheit soll nicht gewinnbringend sein.“
Die Klinikleitung widersprach. Die Geburtsabteilung werde „ausdrücklich nicht aus mangelnder Wirtschaftlichkeit“ geschlossen, teilte sie mit und verwies auf „die personelle Situation im ärztlichen Dienst“. Lücken könnten nicht nachbesetzt werden, auch nicht durch den Einsatz von Honorarkräften. Es habe zwar viele Unterstützungsangebote gegeben, dennoch gebe es für Gynäkologie und Geburtshilfe keine langfristige Perspektive. Die Klinik sah sich nicht in der Lage, „die für eine sichere Versorgung von Schwangeren festgelegten Strukturanforderungen zuverlässig zu erfüllen und die hohe medizinische Qualität zu sichern“.
Attendorn ist nicht allein. Auch das Klinikum in Ibbenbüren im nördlichen Münsterland schloss vor einigen Wochen seine Geburtsstation. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass auch das Evangelische Krankenhaus St. Johannisstift in Paderborn wegen Fachkräftemangels „zu Ende Februar“ seinen Kreißsaal und die Geburtsstation schließt: also am kommenden Montag (28. Februar 2022).
Bereits im September 2021 hatte das St. Johannisstift für drei Wochen seine Geburtsstation abgemeldet. Kaum hatte sie damals wieder geöffnet, gab das Klinikum in Herford für eine gute Woche im Oktober bekannt: Es werden nur geplante Geburten mit Kaiserschnitt aufgenommen, nicht hingegen Spontangeburten.
Kreisstädte ohne Kreißsaal
Inzwischen gibt es schon Kreisstädte ohne Kreißsaal: Meschede im Sauerland zum Beispiel. Oder Warendorf im Münsterland. Oder Borken, ebenfalls im Münsterland. Dort soll Mitte dieses Jahres – der genaue Termin ist noch nicht bekannt – die einzige Geburtsstation der Stadt im St. Marien-Hospital dichtmachen.
All das ist Teil eines großen Trends: 1991 gab es in Deutschland 1186 Krankenhäuser mit Entbindungsstationen. 2018 waren es nur noch 655. Ihre Zahl hat sich also in nicht einmal drei Jahrzehnten fast halbiert. Allein zwischen 2010 und 2018 verschwanden nach einer Zusammenstellung des Bundestages 58 Geburtsstationen von der Landkarte.
Die Zahl der Geburten steigt
Dieser Schwund liegt nicht an den Geburten. Denn ihre Zahl steigt. Seit inzwischen gut zehn Jahren ist das so, allen Unkenrufen der Bevölkerungsforschung zum Trotz. 2010 wurden in Deutschland noch 678.000 Geburten gezählt, 2020 gab es hingegen 773.000 Geburten. Zwischenzeitlich kamen sogar 792 000 Kinder in einem Jahr (2016) zur Welt.
Den werdenden Müttern wird, wenn „es“ so weit ist, bis zu 40 Minuten Autofahrt zum nächsten Krankenhaus mit Geburtsstation zugemutet. Nach den Schließungen der zurückliegenden Jahre können die Wege aus ländlichen Gegenden zum nächsten Kreißsaal lang werden – und nach einem Blasensprung gefühlt „eine Ewigkeit“ dauern.
Start aus 2829 Dörfern
Oder ist alles nur halb so wild? Dieses Bild vermittelte kürzlich die hessische Landesregierung. Für exakt 2829 Dörfer und Ortsteile ließ sie die Distanz zum jeweils nächsten Kreißsaal überprüfen. Von fast 94% der überprüften Orte aus konnte die jeweils nächste Geburtsklinik in 30 Minuten erreicht werden – das ergaben zumindest die amtlichen Berechnungen. Weitere 165 Ortsteile (5,8%) benötigten 30 bis 40 Minuten. Von neun Ortsteilen aus lagen die Fahrtzeiten über 40 Minuten.
Topografie, Verkehrswege, durchschnittlicher Verkehr und Ähnliches habe man berücksichtigt, teilte die Landesregierung mit. Von Baustellen, Schafen auf der Fahrbahn, plötzlichen Umleitungen, Traktoren mit Ernteanhängern oder langsameren Lkw ist in der regierungsamtlichen Antwort nicht die Rede.
Wer sich für das Netz der Geburtsstationen interessiert, dem sei ein Blick auf diese Karte der Elternselbsthilfeorganisation „Motherhood e. V.“ empfohlen.
Ein groß geschriebenes NICHT
Es gibt auch eine amtliche Variante, den „Digitalen Krankenhausatlas“ des Statistischen Bundesamtes. Als wir diesen Atlas kürzlich aufgerufen haben, zeigte er allerdings die Geburtsstationen auf dem Stand von 2016 an. Das ist heute (23. Februar 2022) immer noch so. Die Karte zeigt also den Stand von vor sechs Jahren an. Damals gab es, wie gesagt, noch ein paar mehr Einrichtungen als heute. Dafür findet sich auf dieser amtlichen Karte ein Hinweis, der sich auf die Distanz der maximal 40 Autominuten Fahrzeit bezieht – und der nachdenklich stimmt. Denn da heißt es:
„Beachten Sie bitte, dass die in den Karten dargestellten Fahrzeiten unter Umständen deutlich von den tatsächlichen Fahrzeiten abweichen können. Die aktuelle Verkehrslage oder mögliche Einschränkungen des Straßenverkehrs, zum Beispiel durch Staus, Baustellen oder Straßensperrungen, werden bei der Berechnung der Fahrzeiten NICHT berücksichtigt.“
Das NICHT haben nicht wir in große Buchstaben gesetzt, sondern es war ein unbekannter Mitarbeiter des Statistischen Bundesamtes. Oder war es vielleicht eine Mitarbeiterin?
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