Zu viele Kaiserschnitte, zu viele Prothesen? Der politische Druck auf Ärzte und Spitäler nimmt zu

Ärzte und Patienten neigen dazu, unnötige Gesundheitskosten zu produzieren. Laut Experten wären Einsparungen von mehreren Milliarden Franken möglich. Eine Mitte-links-Mehrheit im Nationalrat will nicht länger zuschauen. Doch was wird das Volk dazu sagen?

Fabian Schäfer, Bern
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Wenn medizinische Leistungen übermässig zunehmen, sollen die Ärzte in Zukunft finanziell zur Verantwortung gezogen werden.

Wenn medizinische Leistungen übermässig zunehmen, sollen die Ärzte in Zukunft finanziell zur Verantwortung gezogen werden.

Benjamin Manser / TBM

Fehlanreize hüben und drüben. Die schweizerische Gesundheitspolitik lädt nicht nur Ärzte und Spitäler, sondern auch Patienten zur Überversorgung ein. Erstere können ihre Einkommen aufbessern und ihre Kapazitäten besser auslasten, wenn sie zusätzliche Eingriffe und Behandlungen durchführen. Hinzu kommt der Wissensvorsprung: In vielen Fällen ist der ärztliche Rat für unentschlossene Patienten oder Angehörige entscheidend.

Genau in die gleiche Richtung wirken die finanziellen Anreize der Patienten. Sie bezahlen hohe Krankenkassenprämien, müssen aber die Kosten einer tatsächlich bezogenen Leistung nur zu einem kleinen Teil selber tragen. Dies erhöht die Neigung, auch in Fällen zum Arzt zu gehen oder eine Behandlung zu verlangen, in denen dies nicht oder noch nicht unbedingt notwendig wäre.

Kaiserschnitt, Entfernung der Prostata, Knie- und Hüftprothesen: All diese Leistungen werden in der Schweiz auffällig häufig erbracht, wie aus einem Expertenbericht im Auftrag von Gesundheitsminister Alain Berset hervorgeht. Verdächtig häufig sind laut den Autoren auch «teure Eingriffe, die evidenzbasiert keinen Mehrnutzen gegenüber konservativer Therapie bringen». Als Beispiele gelten Kreuzbandplastik oder künstliche Wirbelkörper.

Ärzte müssten mit sinkenden Einnahmen rechnen

Die Folgen sind zehnstellig: Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit ergab, dass in der Grundversicherung ein Effizienzpotenzial von 7,1 bis 8,4 Milliarden Franken brachliegt. Zu den drei wichtigsten Ursachen gehört die «angebots- und nachfrageseitige Mengenausweitung».

«Wir wollen das Kostenwachstum auf das medizinisch notwendige Mass beschränken»: Diese Losung hat der Gesundheitsminister Berset am Montag ausgegeben. Und der Nationalrat ist ihm gefolgt: Zum ersten Mal hat eine Mehrheit beschlossen, eine verbindliche Kostensteuerung für grosse Teile des Gesundheitswesens einzuführen. Dem Entscheid ist im Bundeshaus in den letzten Wochen ein ungewöhnliches Hickhack vorausgegangen. Laut Angaben aus mehreren Fraktionen war auch das Lobbying der betroffenen Kreise enorm.

Für sie steht viel auf dem Spiel. Kommt die Vorlage durch, müssen Ärzte und Spitäler mit den Krankenkassen nicht mehr nur die Höhe der Abgeltungen aushandeln, sondern auch eine Art Budget. Daraus soll hervorgehen, wie stark die Fallzahlen und somit die Kosten zunehmen dürften. Wohl niemand zweifelt daran, dass es weiterhin einen Anstieg geben wird. Sobald dieser aber in einem Bereich oder in einem Kanton das erklärbare Mass überschreitet, sollen neu «Korrekturregeln» greifen. Infrage kommen zum Beispiel Rückzahlungen oder eine vorübergehende Reduktion der Abgeltungen.

Referendum von den Ärzten?

Das sei Planwirtschaft, befand die FDP. Aus ihrer Sicht bekämen Bund und Kantone zu viel Macht. Sie dürften die Regeln selber festlegen, wenn sich die Tarifpartner nicht einigen können. Auch die SVP sprach sich gegen den Vorschlag aus, obwohl er ursprünglich auf einen Vorstoss aus ihren Reihen zurückgeht. Den Ausschlag hat die Mitte-Fraktion gegeben: Nachdem sie anfänglich gespalten war, stimmte sie nun geschlossen für das neue Regime. SP, Grüne und GLP waren schon bisher dafür.

Die Gesundheitslobby wird zunehmend unruhig. Nicht ohne Grund: Die Reform dürfte nun auch im Ständerat gute Chancen haben, da die Spitze der Mitte-Partei intern auf Geschlossenheit pocht. Der Entscheid dürfte relativ rasch in einer der nächsten Sessionen fallen.

Es wäre keine Überraschung, wenn das Volk das letzte Wort hätte. Für ein Referendum käme primär die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) infrage. Sie hat den Streit um die Deutungshoheit bereits eröffnet: Nach ihrer Auslegung wird die Kostensteuerung unweigerlich zu Rationierung und Zweiklassenmedizin führen. Sie spricht von einer «Einschränkung des gesetzlichen Anspruchs der Versicherten auf medizinische Behandlungen». Laut der FMH wäre nicht mehr sicher, dass alle Patienten rechtzeitig die notwendige Behandlung erhalten. Ein Killerargument im Abstimmungskampf?

Laut Berset wäre Versorgungssicherheit gewährleistet

Bundesrat Berset hält dagegen. Er hat die Argumentationslinie am Montag vorgezeichnet: Die Kostensteuerung habe nichts mit einem starren Globalbudget oder einem Kostendach zu tun. Demnach wäre auch nicht zu erwarten, dass Ärzte im November Patienten abwimmeln, weil ihr Kontingent ausgeschöpft ist. In der Tat sind die fraglichen Gesetzesartikel so formuliert, dass man erst im Nachhinein wissen wird, ob in einem Bereich die Zahlen übermässig stark angestiegen sind. Somit hätten nicht die Patienten Nachteile zu befürchten, sondern die Ärzte und die Spitäler, und auch sie erst nachträglich.

Wenn die Politik im Gesundheitswesen tatsächlich eine Rationierung einführen möchte, müsste sie anders ans Werk gehen. Diesen Schluss erlaubt eine Stellungnahme des Bundesamts für Justiz: Daraus geht hervor, dass ein schärferer und expliziterer Gesetzestext notwendig wäre, um Leistungen tatsächlich von der Kostenübernahme auszuschliessen. Die tatsächlich vorgesehene Formulierung umfasst so viele Bedingungen, dass unsicher ist, wie gross die Auswirkungen in der Praxis wären.

Die Mitte geht voran

Der grosse Schlagabtausch kommt erst später. Im Juni diskutiert das Parlament erstmals über die Initiative der Mitte-Partei für eine «Kostenbremse». Sie will den Anstieg der Gesundheitskosten verbindlich an die Wirtschafts- und die Lohnentwicklung koppeln. Bundesrat Berset hat einen Gegenvorschlag lanciert, gegen den die Ärzte und die Spitäler erst recht auf die Barrikaden gehen: Er will eine umfassende «Zielvorgabe für das maximale Kostenwachstum» einführen. Dies lehnen nicht nur die Ärzte ab, sondern auch die Krankenkassen.

Aus heutiger Sicht ist schwer vorstellbar, wie Bundesbern unter diesen Umständen eine Volksabstimmung gewinnen könnte. Doch da die Mitte-Partei gesundheitspolitisch nunmehr derart offensiv unterwegs ist, ist vom Parlament noch manch überraschender Entscheid zu erwarten. Die Diskussion um die Kostensteuerung ist das erste Vorspiel.

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