Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist Stabilitätsanker für Thüringen

Die Medizin- und Biotechnologiebranche in Thüringen steht bislang kaum im Fokus der Öffentlichkeit. Eigentlich zu Unrecht, denn die Unternehmen haben national und international einen hervorragenden Ruf. Hier entstehen innovative Produkte und ganzheitliche Lösungen „made in Thüringen“ mit dem übergeordneten Ziel der optimalen Patientenversorgung. Die Branche hat sich im Netzwerk medways e.V. mit Sitz in Jena zusammengeschlossen. Geschäftsführerin ist Frau Dr. Eike Dazert.

Im Interview mit dem WIRTSCHAFTSSPIEGEL stellt Frau Dr. Dazert das Netzwerk und seine Aktivitäten vor, gibt einen Überblick über die Lage der Branche und spricht über die Notwendigkeit des Netzwerkens.

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medways e.V. gibt es seit 1999 – also seit über 20 Jahren. Bitte beschreiben Sie uns den Werdegang des Netzwerks. Sind die Ziele, die Sie sich bei Gründung gesetzt haben, aufgegangen? Was hat sich verändert?

Die Gründung von medways geht auf eine BMBF-Ausschreibung zur Etablierung von Kompetenzzentren für die Medizintechnik zurück. Ziel war es, die kompetentesten Einrichtungen der universitären und außeruniversitären Forschung einschließlich forschungsorientierter Versorgungseinrichtungen mit der Industrie zu vernetzen, um Forschungsideen schnell und möglichst barrierefrei in entsprechende Produkte und Versorgungsleistungen im Gesundheitssystem umzusetzen. Der Ophthalmo Innovation Thüringen e.V. (OIT) ging aus diesem Wettbewerb als einer der Sieger hervor und gehörte im Ergebnis zu den vom Bund geförderten Kompetenzzentren der Medizintechnik mit damals sieben Mitgliedern. Wie der Name schon sagt, lag der Schwerpunkt zum damaligen Zeitpunkt auf Themen der Augenheilkunde. Nach Ende der Förderung gelang es dem OIT, sich als Netzwerk für die Medizintechnik insgesamt zu etablieren und die Arbeit zu verstetigen. Die Übernahme eines immer breiteren Aufgabenspektrums zur Wahrung der Interessen der Medizintechnik und der Zusammenschluss mit dem „Bioinstrumente Jena e.V.“ führten 2008 zu einer Namensänderung in medways e.V. und zur Ausweitung des Fokus auch auf die Biotechnologie. Das Ziel, die „time to market“ so kurz wie möglich zu halten, hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Neben der Etablierung einer langfristigen Infrastruktur, in der medizintechnische Kompetenzen sowohl horizontal (technologieübergreifend und interdisziplinär) als auch vertikal (durch Abdeckung der Wertschöpfungskette) zusammengeführt werden, werden auch Kompetenzen im regulatorischen Bereich immer wichtiger. Entsprechend dieser aktuellen Herausforderungen konzentrieren sich heute die Aktivitäten des Branchenverbandes für Medizintechnik und Biotechnologie medways für die derzeit 92 Mitglieder auf die drei Bereiche medways research center, medways service center und med ways academy.

Im medways Research Center sorgt medways mit langjähriger Erfahrung für ein professionelles Projektmanagement von Forschungsverbünden und bietet ein umfangreiches Portfolio an Leistungen an. Weiterhin beteiligt sich medways als Projektpartner oder im Unterauftrag aktiv an Verbundprojekten.

Im medways Service Center berät medways KMU, Großkonzerne und Start-ups im Rahmen der Projektarbeit zu regulatorischen Fragestellungen. Weiterhin organisiert und betreut medways Gemeinschaftsstände auf für die Branche wichtigen Messen.

Für unsere Mitgliedsunternehmen erkunden wir ausländische Zielmärkte, knüpfen dort wichtige Kontakte, begleiten Delegationsreisen und sorgen im Ausland für eine Sichtbarkeit der Branche.

Zusätzlich vertritt medways die Interessen der Mitglieder gegenüber der Landespolitik, arbeitet strategisch in Gremien und Ausschüssen mit und bringt sich auf Bundes- und europäischer Ebene in übergeordnete Netzwerk strukturen ein.

Im Fokus der medways Academy steht ein umfassendes Weiterbildungsprogramm inklusive In-House-Schulungen für KMU und Forschungseinrichtungen zu Fragen der Zulassung, zur Einführung und Aufrechterhaltung von Qualitätsmanagementsystemen.

Weiterhin bieten wir regelmäßige Informationsveranstaltungen zu technologiebezogenen Themen und zu Fördermöglichkeiten des Landes, des Bundes und der EU an sowie zu weiteren Themen wie zum Beispiel der Fachkräfte-Gewinnung.

Beschreiben Sie uns bitte die Lage Ihrer Branche in Thüringen. Wie sind Medizintechnik und Biotechnologie im Freistaat aufgestellt?

Biomedizintechnik und In-vitro-Diagnostik (IVD) sind ein wichtiger Teil der industriellen Gesundheitswirtschaft und in Thüringen ein zentraler Wirtschaftsfaktor, der die wirtschaftliche Entwicklung im Bundesland stark antreibt. Die Branche wächst durchschnittlich 3,3 Prozent pro Jahr und die Exportquote liegt mit ca. 65 Prozent deutlich über dem Durchschnitt.

Bezogen auf Mitarbeiterzahlen und Umsatz nimmt die Medizintechnikindustrie in Thüringen einen Spitzen platz unter den ostdeutschen Bundesländern noch vor Berlin und Sachsen und vergleichbar mit vielen westdeutschen Bundesländern wie Niedersachsen und dem Saarland ein. Laut Statistischem Landesamt erwirtschaften die Unternehmen mit einem Zehntel der Mitarbeiter vergleichbare Umsätze wie der Rest der Gesundheitswirtschaft, was das enorme Wertschöpfungspotenzial verdeutlicht. Die Medizintechnik / IVD in Thüringen ist im Bereich der Hersteller geprägt durch nur wenige Großunternehmen mit Firmensitz im Freistaat und darüber hinaus einer kleinteiligen Unternehmensstruktur mit mehreren Hidden Champions und einer umfangreichen KMU-geprägten Zulieferindustrie.

Schon in der Krise 2009 und auch in der derzeitigen Coronakrise erwies und erweist sich die industrielle Gesundheitswirtschaft als Stabilitätsanker für Deutschland, aber auch für Thüringen. Die Arbeitsproduktivität ist fast dreimal höher als im verarbeitenden Gewerbe und die Industrie zeichnet sich durch eine überdurchschnittliche Innovationskraft und eine hohe Investitionsbereitschaft aus. Gerade in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass Medizinprodukte unentbehrlich sind für die Versorgung der Patienten und den Schutz der Anwender. Ihre Bedeutung ist in der Pandemie noch stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt.

Die positive Entwicklung der vergangenen zehn Jahre hat ganz aktuell jedoch einen Dämpfer erhalten: Die Anteile an der Bruttowertschöpfung und an den Beschäftigtenzahlen sind leicht zurück gegangen. Für diese Entwicklung werden vor allem veränderte regulatorische Rahmenbedingungen verantwortlich gemacht. Der dadurch bedingte zusätzliche Kosten- und Arbeitsaufwand stellt insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen vor Existenzfragen. Im Bundesvergleich zeichnet sich Thüringen durch eine besonders kleinteilige Wirtschaftsstruktur aus, wodurch die Unternehmen besonders von den beschriebenen Herausforderungen betroffen sind.

Weitere Herausforderungen betreffen technologische, wirtschaftliche, demografische und gesundheitspolitische Bereiche, denen sich die Branche in den nächsten Jahren stellen muss. Die wichtigsten Schlagworte hierbei sind Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, Internationalisierung, neue Anforderungen und strukturelle Veränderungen auf Kundenseite, und als zentraler Punkt die Fachkräftesicherung.

In diesem Kontext der besonderen Herausforderungen, aber auch der sich daraus ergebenden Chancen sind unsere Dienstleistungen und Unterstützungsangebote für die Unternehmen der industriellen Gesundheitswirtschaft und die flankierenden Forschungseinrichtungen fokussiert.

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Wie ist Ihr Eindruck: Welchen Stellenwert misst die Landespolitik Ihrer Branche bei?

Die Landespolitik ist sich der großen Bedeutung der Branche aus meiner Sicht bewusst und unterstützt die Akteure mit vielfältigen Maßnahmen, wie zum Beispiel umfangreichen Technologie- und Innovationsförderprogrammen. Trotzdem entspricht nach meiner Überzeugung die Höhe der Aufmerksamkeit nicht der Bedeutung der Branche. Die Medizin- und Biotechnologie-Branche ist insgesamt relativ wenig krisenanfällig. Dies führt jedoch zu einer geringeren Aufmerksamkeit im Vergleich zu krisengeschüttelten Branchen.

Die Wahrnehmung der Probleme korreliert dabei nicht immer mit der tatsächlichen Größe der Herausforderungen. Ein lautstarker ständiger Verweis auf bestehende Probleme entspricht jedoch nicht dem Selbstverständnis der mittelständischen Wirtschaft im Bereich der Biomedizintechnik. Auch hier besteht unsere Aufgabe als Verband darin, den Akteuren der Branche zu einer Stimme und zu noch mehr Sichtbarkeit zu verhelfen – ein Punkt, in dem wir noch deutlich besser werden können und müssen.

Was sind die größten Herausforderungen, vor denen die Branche derzeit in Thüringen steht?

Wie vorhin schon kurz angesprochen, sind hier sicherlich die stark gestiegenen Anforderungen im regulatorischen Bereich durch EU-Verordnungen von zentraler Bedeutung. Besonders schwierig ist hierbei, dass sich die größten Herausforderungen dem Einfluss der Unternehmen entziehen. Sie liegen beispielsweise in den unzureichenden Kapazitäten der benannten Stellen zur Bearbeitung der Zertifizierungsanträge, einer nahezu unkontrollierten Kostenentwicklung bei diesen Stellen und einem hohen Druck zur Erzeugung klinischer Daten zur Inverkehrbringung und zur Aufrechterhaltung der Verkehrsfähigkeit. Besonders ärgerlich ist, dass nach ersten Untersuchungen die zu erfüllenden Anforderungen nicht zur zentralen Forderung, nämlich der Erhöhung der Patientensicherheit und einer verbesserten Patientenversorgung, beitragen. Hier fordern wir Untersuchungen zur Erfolgskontrolle der neuen Regularien und eine Anpassung der Umsetzungsstrategie.

Neben diesem wichtigen Punkt bestehen jedoch noch weitere Herausforderungen, bei denen zentral sicherlich der Fachkräftemangel zu nennen ist. Neben einem klaren Fokus auf die lebenslange Qualifizierung der Mitarbeiter ist dieser mittel- bis langfristig aus meiner Sicht nur über die gezielte Integration ausländischer Arbeitskräfte zu decken.

Mit der Corona-Krise sind zusätzlich weitere Probleme aufgetreten, die ein völliges Umdenken in unserer globalen Wirtschaftsarchitektur erfordern. Lieferketten sind gerissen, Lieferzeiten für Rohstoffe oder zentrale Komponenten haben sich enorm verlängert, die Kosten explodieren und vor allem sind beide Faktoren nicht mehr gut planbar. Viele Unternehmen bauen wieder Lagerkapazitäten auf, aber diese binden Kapital und gefährden die Liquidität besonders der kleinen Unternehmen.

Welches sind die augenblicklichen Megathemen von Medizintechnik und Biotechnologie global betrachtet? Wo geht die Reise hin?

Nahezu alle Megathemen hängen mit der Digitalisierung zusammen beziehungsweise werden von dieser getrieben. Remote Medizin mit Videosprechstunden, Fernüberwachungssysteme und Wearables gehören längst zum Alltag medizinischer Diagnostik und Therapie. Die Nutzung der stets und ständig erhobenen Daten macht KI Entwicklungen und neue Anwendungen möglich. Ob wir es schaffen, dass alle Teile der Gesellschaft von diesen Möglichkeiten profitieren, wird eine zentrale Frage der nächsten Jahre sein. Dabei wird es aus meiner Sicht auch sehr entscheidend sein, ob wir eine Vereinbarkeit zwischen den Anforderungen des Schutzes persönlicher Daten und der Datennutzung für Forschung und Entwicklung herstellen können. Weiter – hin von Bedeutung sind die Bereiche der Point of Care-Diagnostik und der ungebrochene Trend hin zu einer personalisierten Medizin.

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In Ihrer Selbstbeschreibung erheben Sie den Anspruch, Ihrer Branche die allumfassenden Services zu bieten, die sie braucht. Was heißt das konkret, was tun Sie als Verband für Ihre Mitglieder?

Der wichtigste Punkt ist aus meiner Sicht, dass wir uns als Dienstleister für unsere Mitglieder und die Branche verstehen und unser Handeln jeden Tag auf dieses Ziel ausrichten. Gerade in der Coronakrise haben uns eine Vielzahl von Anfragen und Unterstützungsgesuchen erreicht. Hier die Probleme konkret zu lösen und nicht nur weiterzuvermitteln ist uns sehr wichtig und bindet einen großen Teil unsere Kapazitäten. Auf die Leistungen, die wir anbieten, sind wir ja vorhin schon zu sprechen gekommen.

Erwähnen möchte ich aber noch, dass wir uns beim Aufbau einer Industrie in Klinik-Plattform (IKP) engagieren. Dabei erhalten die Unternehmen der Medizintechnik und Diagnostik einen Zugang zu Ressourcen für klinische Studien, zum ärztlichen Know-how für klinische Bewertungen und im Entwicklungsprozess für neue Produkte und für Gebrauchstauglichkeitsbewertungen und Funktionstests in einer realistischen Anwendungsumgebung. Die Ärzte in den Kliniken wiederum erhalten Zugang zu neuester Medizintechnik und Diagnostik beziehungsweise innovativen Therapien. Sie können ihre Expertise unmittelbar in den Entwicklungsprozess einbringen und Einfluss auf die Produktentwicklungen nehmen. Durch die Struktur der IKP werden sie soweit irgend möglich von organisatorischen Nebenaufgaben entlastet und können so ihre sehr knappen Ressourcen fokussiert einsetzen.

Überall in der Wirtschaft ist der Trend zur branchenübergreifenden Kooperation spürbar. Ihr Netzwerk gehört selbst zu den Initiatoren der Cross Cluster Initiative Thüringen (CCIT). Welche Erfahrungen haben Sie gemacht und was kann Ihre Branche in eine solche Zusammenarbeit einbringen?

Die Idee zu Beginn der Coronakrise 2020 war, als Netzwerkgeschäftsstellen eng zu kooperieren, um unseren Netzwerkpartnern auch dann Lösungsoptionen zu eröffnen, wenn das Problem einen branchen- und netzwerkübergreifenden Ansatz verlangt. Diese Idee ist sehr gut aufgegangen, obwohl man natürlich immer noch besser werden kann. Wir tauschen uns monatlich oder anlassbezogen aus, schieben gemeinsame Kooperationen an und bespielen Veranstaltungsformate wie die jährlichen Cross-Cluster-Wochen gemeinsam.

Ein sehr gutes Beispiel für eine gelebte Kooperation ist die gemeinsame Bewerbung von drei Clustern (InfectoGnosticsForschungscampus e.V., ITNet e.V., medways e.V.) mit 14 weiteren Partnern im Februar 2022 auf die BMBF-Ausschreibung: „Forschungsnetzwerk Anonymisierung für eine sichere Datennutzung“ mit einem Zuschussvolumen von 10 Millionen Euro bei einer Projektlaufzeit von drei Jahren. Ohne die genaue Kenntnis der Kompetenzen der Partnercluster und das Vertrauensverhältnis in den beteiligten Geschäftsstellen wäre es aus meiner Sicht nicht gelungen, eine Ausschreibung dieser Art zu adressieren.

Gerade unsere Branche profitiert aus meiner Sicht sehr von dieser gelebten „bottom up“-Kooperation. Die Produktentwicklung in Medizintechnik und Diagnostik verlangt in besonderem Maße die Zusammenführung verschiedener Kompetenzen, zum Beispiel Optik, Materialwissenschaft, Fertigungstechnik, Recycling/Nachhaltigkeit und IT für eine geschlossene Wertschöpfung.

Und abschließend: Wo erwarten Sie sich Impulse von außerhalb?

Aus meiner Sicht sind in Thüringen Strukturen etabliert, die eine hocheffiziente Kooperation verschiedener Akteure auf verschiedenen Ebenen ermöglichen. Wir haben sehr engagierte und anpackende Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, gut aufgestellte und engagierte Netzwerke und Landesgesellschaften. Die Netzwerke leisten eine gute operative Arbeit und könnten sich in idealer Weise mit der strategischen Arbeit der Landesgesellschaften und deren Mittlerrolle zwischen Politik und Akteursnetzwerken ergänzen. Persönlich wünsche ich mir in allen Ebenen mehr Mut bei der Unterstützung neuer/disruptiver Ideen und eine Kultur, die das Scheitern auch als Bestandteil eines Lernprozesses akzeptiert.

Interview: Torsten Laudien

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