Wie viele Kliniken braucht es noch? – Seite 1

Ralf Sitzmann ist erleichtert. Erst einmal kann alles bleiben, wie es ist. "Zum Krankenhaus haben viele eine emotionale Bindung", sagt der Bürgermeister der oberbayerischen Gemeinde Kösching. "Da wurden Kinder geboren, liebe Angehörige sind gestorben." Auch deshalb hat Sitzmann gekämpft, als es im Frühjahr darum ging, dass künftig nur noch eine der beiden Altmühltal-Kliniken im Landkreis Eichstätt die stationäre Grundversorgung anbieten solle. Die Mehrheit der Kreistagsmitglieder stimmte schließlich für das 152-Betten-Haus im Zentrum der Bischofsstadt Eichstätt. Doch in Kösching bleiben nach zähen Verhandlungen als Kompromiss Notaufnahme und Geburtenklinik erhalten. Wie und wie lange? Wird man sehen. Zudem soll Kösching eine Fachklinik erhalten. Über deren Ausrichtung – Orthopädie, Altersmedizin oder auch Geburtshilfe – wird später entschieden.

Das Beispiel ist zufällig und nur eines von vielen in der schwierigen Diskussion über die Zukunft der Krankenhäuser in Deutschland. Das System mit mehr als 1.900 Kliniken und fast 500.000 Beschäftigten sei marode, ineffizient und nicht mehr zu finanzieren, sagen die einen. Die schiere Menge an Häusern habe Deutschland bisher glimpflich durch die Corona-Pandemie gebracht, kontern die anderen. Vor allem kleine Kliniken auf dem Land fürchten wie in Kösching um ihre Zukunft – und die Lokalpolitik die Wut der Wählerinnen und Wähler, wenn sie nicht für den Erhalt sorgt.

Tatsache ist aber auch, dass laut dem jüngsten Krankenhaus Rating Report des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung jede zehnte Einrichtung erhebliche Verluste macht. In manchen Bundesländern steht demnach sogar fast jede dritte Klinik vor der Pleite. Das ist der Kontext, in dem ein Expertengremium Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nun Empfehlungen für eine Krankenhausreform liefern soll. Es ist die erste seit 20 Jahren.

"Das sind uns unsere Bürger wert"

Auch die Altmühltal-Kliniken machen Verluste. Ein "alljährliches Ritual der unerfreulichen Art" nannte CSU-Landrat Alexander Anetsberger zuletzt deren üblichen Antrag auf Defizitübernahme der Betriebskosten. Da war es schon eine gute Nachricht, dass für 2021 statt der bisher meist sieben Millionen Euro nur knapp sechs Millionen Euro anfielen. "Die zwei Prozent Kreisumlage tragen wir gern mit", sagt Köschings Bürgermeister Sitzmann von den Unabhängigen Wählern. "Lieber zahlen wir mehr, das sind uns unsere Bürger wert."

Nun ja, am Ende zahlen die selbst mit ihren Steuern. Nach dem Auslaufen der staatlichen Pandemie-Ausgleichsbeträge für zusätzliche Schutzvorkehrungen in den Kliniken und die Freihaltung von Betten für Corona-Infizierte dürfte die Rechnung in den nächsten Jahren wieder deutlich höher ausfallen. Da sind die gestiegenen Inflationsraten, die Krankenhäuser ihren Patientinnen und Patienten nicht einfach weiterreichen können, noch gar nicht berücksichtigt. In Eichstätt und Kösching sind zudem teure Sanierungsmaßnahmen der betagten Häuser nötig. Auch da wird ein Teil der Handwerkerrechnungen beim Kreis landen.

Gesetzlich geregelt ist zwar die Übernahme von 100 Prozent der Investitionskosten durch die Bundesländer. Doch kein einziges erreicht den Wert. Im Gegenteil: Mit einer Quote von 60 Prozent kommt Bayern auf einen Spitzenplatz. 

"Es fehlt die große Strategie"

"40 Prozent weniger Häuser, dann würde das Geld reichen", sagt Axel Fischer dazu, der Vorsitzende der Geschäftsführung der München Klinik. Erst kürzlich wurde am Standort Harlaching im Süden der Landeshauptstadt Richtfest für den Neubau mit 550 Betten gefeiert. Kostenpunkt: gut 250 Millionen Euro.

Den größten Gesundheitsversorger der Metropolregion München lässt man nicht hängen. Deshalb schießt der Freistaat 164 Millionen Euro zu und – trotz angespannter Haushaltslage – den Rest die Stadt. Doch Corona und der Krieg in der Ukraine haben die öffentlichen Finanzen belastet, Material- und Personalkosten ansteigen lassen – und nicht zuletzt auch die Gewichtungen verschoben. Plötzlich investiert Deutschland 100 Milliarden Euro in seine Bundeswehr.

"Umso wichtiger wäre deshalb, dass zunächst genau geprüft wird, welche Krankenhäuser überhaupt notwendig sind", sagt Fischer. Genau den Ansatz aber vermisst er in der Expertinnen- und Expertenrunde. "Es fehlt die große Strategie." Vertreterinnen und Vertreter von Krankenhäusern und Krankenkassen sitzen nicht in Lauterbachs Gremium. Sie sollen aber angehört werden.

Fischer gehört zu jenen, die dem Corona-Argument für den Erhalt möglichst vieler Krankenhäuser entschieden widersprechen. "Die Pandemie hat offenbart, dass wir in Deutschland zu viel Medizin machen – und die systemrelevante Medizin dabei vernachlässigen." Würden die Krankenhäuser zahlenmäßig reduziert und stärker Verantwortung für die Daseinsvorsorge übernehmen, wäre nach seiner Überzeugung im Gesundheitssystem mehr Geld für Investitionen verfügbar und für die verbleibenden Kliniken dann auch wieder mehr Pflegepersonal. "Aber es ist politisch unpopulär, ein Krankenhaus zu schließen oder Betten abzubauen. Die irrationale Diskussion darüber schaut auf Wählerstimmen und nicht auf die bestmögliche Patientenversorgung."

"Kalter Strukturwandel" zu befürchten

Wie schnell ein Politiker über das Thema Krankenhausreform in Ungnade fallen kann, hat Josef Niedermaier erlebt. Der Freie-Wähler-Landrat im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen spricht inzwischen vom "Haifischbecken Gesundheitswesen". Ob es etwas geändert hätte, die Bürgerinnen und Bürger früher in die Überlegungen über die Zukunft des kleinen und defizitären Kreiskrankenhauses in Wolfratshausen einzubeziehen? Niemand wird das je erfahren. Aber das Vertrauen im Süden von München ist dahin – und eine Reform kein Thema mehr. Jedenfalls keine, die Niedermaier anstoßen würde.

Dabei war dem Landrat nur klar, dass "passt schon, weiter so" auf Dauer nicht funktionieren würde. Ein in Auftrag gegebenes Gutachten der Berliner Vicondo Healthcare GmbH schlug eine Radikalkur inklusive Aufgabe der stationären Behandlungen vor. In einem neuen Gesundheitscampus sollten nur noch ambulante Eingriffe durchgeführt werden. Also ganz so, wie sich Gesundheitsökonomen derzeit auch in Lauterbachs Gremium die Zukunft des Gesundheitswesens ausmalen. Schließlich nutzen nur etwas mehr als ein Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner im Einzugsbereich der Wolfratshausener Klinik deren Dienste. Mehr als 30 Prozent wenden sich bei Bedarf an auswärtige Häuser. In München vor allem, aber auch an eine privat geführte im 30 Kilometer entfernten Bad Tölz.

Als das Gutachten voriges Jahr in Wolfratshausen geleakt wurde, war der Teufel los. Demos, Mahnwachen, gegenseitige Beschimpfungen aller Beteiligten – das ganze Programm. Die Klinik wurde als "Seele des Alt-Landkreises Wolfratshausen" verteidigt. Dazu muss man wissen, dass Wolfratshausen und Bad Tölz bis zur Gebietsreform von 1972 eigenständige Landkreise waren und auch 50 Jahre später eifersüchtig über eine mögliche Bevorzugung einer der beiden Teile gewacht wird. 

Ähnliche Diskussionen werden im benachbarten Weilheim-Schongau geführt, wo der Landkreis bisher Jahr für Jahr ein Defizit der beiden Klinikstandorte von rund 10 Millionen Euro ausgleicht. Parallel dazu wird dort nun der Neubau einer "Zentralklinik" auf der grünen Wiese erwogen. Dafür gäbe es nämlich leichter Fördermittel vom Staat. 

"Man könnte aus den Krankenhäusern noch viel mehr herausholen"

So viel also zu Theorie und Praxis. Gesundheitsminister Lauterbach ließ die Frage nach einer geplanten Reduzierung der Krankenhäuser in Deutschland vor Einberufung der Kommission nicht zufällig unbeantwortet. Dass er ein Freund von mehr ambulanten Leistungen ist, daraus macht er kein Geheimnis. "Man könnte aus den Krankenhäusern noch viel mehr herausholen, wenn man sie entfesseln würde und ihnen mehr Möglichkeiten einräumen würde für die ambulante Versorgung und für die Hybridversorgung", sagte der Minister jüngst beim Sommerfest der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) in Berlin. Auch innerhalb der DKG sei der Bedarf nach einer stärkeren Auslagerung bisher stationär erbrachter Leistungen unstrittig, unterstreicht deren Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß. Nicht zuletzt könne so das steigende Versorgungsbedürfnis der Bevölkerung mit stabilen Beitragssätzen für die Krankenversicherung in Einklang gebracht werden.

Doch solang der Abschied von der stationären Versorgung als politisches Versagen oder sogar Verrat an den Wählerinnen und Wählern behandelt wird, dürfte der Widerstand hoch bleiben.

Dann werden, wie in Kösching und Wolfratshausen, Entscheidungen erst einmal nicht getroffen. Zum Wohl der Patientinnen und Patienten? Zu befürchten ist eher, was man in der DKG einen "kalten Strukturwandel" nennt. Ärztinnen und Pflegepersonal werden fehlen, Versorgungsleistungen reduziert und Häuser womöglich doch ganz geschlossen – ohne dass der Wandel vorbereitet und begleitet worden wäre.