Ob Hamburg, Aachen oder Essen – das Konzept der Gesundheitskioske macht die Runde. Wen man dort trifft, wer das Ganze bezahlt und ob das Ärzten wirklich Entlastung bringt, haben wir für euch recherchiert.
Mit hehren Zielen startete die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag in Sachen Pflege und Gesundheitspolitik. Demonstrativ fanden sich die Pläne zur Verbesserung der Pflegesituation vor denen der allgemeinen Gesundheitspolitik. Immerhin – hatte Corona doch gezeigt, dass sich die Welle der Empörung angesichts gewaltigen Nachholbedarfs schnell zum Tsunami entwickeln kann.
Eines der Projekte in Sachen Pflege, das in Deutschland Schule machen und gemeinsam mit anderen Modellvorhaben die Pflege auf neue Beine stellen sollte, ist der sogenannte Gesundheitskiosk. Nicht ganz neu, aber gerade der anhaltende Erfolg lässt die Einrichtungsform nun auch in den Fokus der Politik – sprich: des G-BA – rücken. Wie bei so vielen Themen sind es jedoch regionale Anbieter, die die Umsetzung selbst in die Hand nehmen. Kaum verwunderlich auch, dass die Premiere bereits 2017 in Hamburg stattfand.
Fünf Jahre samt regionalem Erfolg, großer Nachfrage und Nachahmern in anderen Städten später gibt der G-BA im Februar 2022 sein Go für die Übernahme des Konzepts in die Regelversorgung. Die Pionierarbeit der Hamburger Pflegetrendsetter liegt dabei auf einem niedrigschwelligen Angebot. Erreichen soll es „insbesondere die Menschen, die bisher kaum oder schwer Zugang zum Gesundheits- und Pflegesystem gefunden haben oder die aufgrund der Schwere einer Erkrankung akut Hilfe und Orientierung benötigen“, erklärt Ulf Werner, Head of Project & Healthcare Management bei OptiMedis.
Dass der Weg der richtige ist, zeigen nicht nur die Folgekioske in Aachen oder Essen. Eine Evaluation der Hamburg Center for Health Economics (HCHE) der Universität Hamburg bestätigte den Nutzen für das medizinische Versorgungssystem. So besuchten gut 57 % der am Projekt teilnehmenden Versicherten den Kiosk mindestens einmal zur Beratung. Mit ebenso positiven Effekten für die Ärzteschaft: Die im Wirkungskreis des Hamburger Einrichtung tätigen Mediziner berichten von großer Entlastung im Alltag.
Doch es braucht – insbesondere in der Politik – manchmal 3 bis 4 Anläufe, um konkret zu werden. Zu deutsch: Das Hamburger Pilotprojekt durfte erst einmal den Nutzen im praktischen Alltag beweisen, bevor das Konzept flächendeckend etabliert wird. Aber: Immerhin jetzt tut sich was.
Und als wäre der Zeitrahmen vollkommen im Lot, soll es Ende des Jahres in eine allgemeine Umsetzung gehen, eingebettet in ein neues Versorgungsgesetz. Geregelt sei darin auch die bisher strittige Frage danach, wer die Standorte finanziert – die Kassen – und wer die Bedarfsplanung vornimmt bzw. den Standort der Kioske bestimmt – die Länder.
Dass vor Eröffnung der Kioske jedoch das Wissen um die lokalen Bedürfnisse und Gegebenheiten besonders wichtig ist und potenzielle Anbieter die infrastrukturellen und sozioökonomischen Umstände im Blick behalten müssen, weiß Werner: „Ein großes Risiko liegt darin, nicht die Klient:innen zu erreichen, für die das Kioskangebot vorrangig konzipiert ist – nämlich die besonders vulnerablen Gruppen. [...] Ein wichtiger Punkt ist auch die gute Erreichbarkeit des Kiosks. Er sollte an frequentierten Orten eines Stadtteils sein, zum Beispiel in der Nähe eines Einkaufszentrums oder Busbahnhofs.“
Eine andere, ganz praktische Frage hingegen stellt sich den Patienten: Wen treffen sie in den Kiosken an und welche Befugnisse haben die Mitarbeiter? Eng damit verbunden ist die Frage danach, ob das Personal tatsächlich einem Ärztemangel Vorschub leisten kann und eine Hilfe in der täglichen ärztlichen Praxis darstellt.
Diese Fragen klären sich (auch) durch den gesundheitlichen Fokus, den die Kioske setzen. So geht es in Essen beispielsweise vielfach um gesundheitsorganisatorische Fragen wie die Beantragung von Pflegestufen, die Vermittlung von Facharztterminen oder auch Themen aus dem Bereich Ernährung. Dies deckt sich mit den im Koalitionsvertrag festgehaltenen Plänen, wonach „in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen […] niedrigschwellige Beratungsangebote (z. B. Gesundheitskioske) für Behandlung und Prävention [angeboten werden].“ Auch die Hamburger sind auf diese Schwerpunkte spezialisiert. Laut HCHE nehmen die Kunden zu einem großen Teil (40 %) die Beratung beim Thema Übergewicht wahr.
„In Form eines Fallmanagements beraten die Mitarbeiter:innen zum Beispiel rund um das Thema Gesundheit und vermitteln evidente Gesundheitsinformationen. Sie übernehmen außerdem fachübergreifend die Fallsteuerung der Klient:innen und sind für das Systemmanagement zuständig“, erklärt Werner die Aufgaben des Personals. On top bietet das Hamburger Modell jedoch noch ein gänzlich neues personelles Angebot. „Darüber hinaus sind Lots:innen oder Peers als Ansprechpartner:innen im Einsatz, die dezentral, also über den Stadtteil oder die Gemeinde verteilt, zu finden sind – beispielsweise in Einrichtungen des Gesundheitswesens oder in Vereinen.“
Sowohl was den strukturellen Aufbau, die gesundheitspolitischen Ziele als auch das Personal in den Kiosken betrifft, unterscheiden sich die Standorte nur in Nuancen. Und sind damit erfolgreich – ein zweiter Standort in Essen beispielsweise schon geplant. Ist das nun der Auftakt zur großen Ärzteentlastung?
Dafür spricht:
Dass das Personal keine medizinischen Antworten geben kann und das Konzept bisher nur in Großstädten etabliert ist, nimmt ihm nicht den Erfolg. Fraglich bleibt zuletzt eher, wie das ohnehin personell vollkommen unterbesetzte und mangelhaft ausgestattete Gesundheitswesen ein neues Format eröffnen möchte.
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