Rems-Murr-Kreis

Krankenhaus-Finanzierung: Es geht nicht um Gesundheit, es geht um Geld

Rems Murr Kliniken PK
Marc Nickel. © Benjamin Büttner

Es müsste eigentlich um Gesundheit gehen in diesem Artikel, aber er dreht sich fast nur um Geld. Zu berichten ist von der Finanzierung deutscher Krankenhäuser: von Mangelverwaltung, bizarrer Bürokratie und planvoller Gängelung. Laien sei das alles kaum noch vermittelbar, sagt Dr. Marc Nickel, scheidender Geschäftsführer der Rems-Murr-Kliniken; und die meisten Politiker „verstehen es auch nicht mehr“.

Warnung: In diesem Text werden Sie Begriffen begegnen wie „Basisfallwert“, „virtueller Bettenüberhang“, „Fixkostendegressionsabschlag“. Aber trösten Sie sich: So öde die Ausdrücke klingen – was sich dahinter verbirgt, ist alles andere als langweilig. Sondern zum Lachen und Weinen.

Geburtsfehler: Duale Krankenhausfinanzierung

Erstens: Bau, Umbau, Ausbau von Krankenhäusern zu bezahlen, ist Ländersache. Zweitens: Das Geld für die Patientenbehandlung geben die Krankenkassen. Das nennt sich „duale Krankenhausfinanzierung“.

Aber schauen wir uns „erstens“ genauer an: De facto übernimmt, wenn ein Krankenhaus gebaut wird, das Land allenfalls die Hälfte der Kosten. Manche Bundesländer, zum Beispiel Baden-Württemberg, sind vergleichsweise generös, andere rücken noch viel weniger raus. Simple Folge: Jedes neue, umgebaute, renovierte, erweiterte, modernisierte Krankenhaus ächzt vom Tag der Eröffnung an unter einem Defizit.

Nicht immer ist es so hoch wie beim mehr als 300 Millionen Euro schweren Winnender Neubau, aber das Prinzip ist überall gleich. Marc Nickel nennt das den „Geburtsfehler“.

Deshalb kann sich im Grunde keine Klinik damit begnügen, einfach kompetent und hingebungsvoll Patienten zu behandeln, Kranke zu heilen, Leid zu lindern. Die Arbeit muss profitabel sein – sonst wachsen die Startschulden womöglich noch.

Womit wir bei „zweitens“ wären und uns den berüchtigten Fallpauschalen zuwenden.

Das Monster: Fallpauschalen oder DRG

In den 1990er-Jahren blieb ein Patient so lange im Krankenhaus, wie der Arzt es für sinnvoll hielt, und das Krankenhaus bekam von der Kasse so viel Geld, wie es dafür brauchte. Gab es gerade zu viele leere Betten, war es verführerisch, auch jemanden, der vielleicht schon heimgehen konnte, noch dazubehalten.

2003 setzte sich deshalb das neue System der Fallpauschalen durch: Jeder Diagnose ist ein fester Vergütungssatz zugewiesen, egal, wie lange der Patient bleibt. „An sich“, sagt Marc Nickel, sei das Fallpauschalen- oder DRG-System – Diagnosis Related Groups, diagnosebezogene Fallgruppen – „gar nicht so schlecht“. Es tauge, um „Budgets zu steuern“ und abschätzen zu können, wohin die Kostenreise in einem Krankenhaus geht. So werde das System in vielen Ländern eingesetzt.

„Niemals“ aber „war es zur Einzelfallabrechnung gedacht. Auf dem ganzen Planeten ist das noch nie so gebraucht worden.“ In Deutschland schon: Hier wuchs es zum „bürokratischen Monster“ heran.

Es gibt bei uns nun mehr als 1200 Fallgruppen – um jeden einzelnen Patienten in die richtige einsortieren zu können, muss man Haupt- und Nebendiagnosen, zentrale und begleitende Therapien penibel aufschlüsseln; Fachbegriff: „kodieren“. Weil es dabei „um bares Geld“ geht, arbeiten in den Rems-Murr-Kliniken, Abteilung „Medizincontrolling“, rund 20 „Kodier-Fachkräfte“, die nichts anderes tun, als Patientenakten in DRG-konforme Kostenforderungen an die Krankenkassen umzurechnen. Jede Klinik muss dahinter her sein wie „der Teufel hinter der armen Seele“.

Der Medizinische Dienst aber prüft das und fahndet nach Fehlern: Fällt dieses neue Hüftgelenk wirklich unter Fallgruppe I47A, „Revision oder Ersatz ohne komplizierende Diagnose, ohne Arthrodese, ohne äußerst schwere CC, Alter > 15 Jahre, mit komplizierendem Eingriff“? Oder nicht eher unter I47B, „ohne best. kompliz. Faktoren, mit kompl. Diagnose an Becken/Oberschenkel, mit best. endoproth. oder gelenkplast. Eingr. od. m. Impl. od. Wechsel Radiuskopfproth. od. m. kompl. Erstimpl. od. m. Entf. Osteosynthesemat.“? Oder gar unter I47C (die Details sparen wir uns)?

Zumindest der weitere Rechenweg ist unstrittig: Basisfallwert multipliziert mit Bewertungsrelation. Der Basisfallwert ist immer gleich: Er beträgt derzeit 3837,42 Euro. Die Bewertungsrelation ist bei jeder der 1200 Fallgruppen anders. Das Hüftgelenk nach I47A (Bewertungsrelation 1,829) bringt 7108 Euro. Einmal Hüfte I47C (Bewertungsrelation 1,222): 4689 Euro.

Absurd kompliziert? Richtig hart, sagt Nickel, werde es beim Tumorpatienten, 85, „mit fünf internistischen Nebendiagnosen“.

Gut gedacht, aber: Das Pflege-Budget

Die Lage, sagt Nickel, werde immer prekärer. Zwar wird der Basisfallwert, Grundlage des DRG-Multiplikationszaubers, jährlich etwas angehoben – aber die Tarifgehälter der Beschäftigten steigen steiler; und die Energiepreise explodieren. Überschießende Kosten, mangelnde Erlöse: Die Schere klafft weiter auf. Die Kliniken werden dadurch zu Wachstum und Effizienzsteigerung getrieben, gezwungen, nahezu gepeitscht.

2020 immerhin gab es eine Änderung, die wirklich „gut gedacht“ war; leider entpuppte sie sich als „schlecht gemacht“.

Der Wert der Pflege lässt sich über Fallpauschalen nicht beziffern – wie will man Zuwendung „kodieren“? Also beschloss die Politik: Jedes Krankenhaus bekommt ein eigenes Pflege-Budget. Super! „Und jetzt raten Sie mal, was daraus gemacht wurde: ein bürokratisches Monster.“

Vor dem Pflege-Budget lagerten Kliniken einfache Hilfstätigkeiten oft aus an Servicekräfte; Essen austeilen zum Beispiel. So sollten die Pflege-Fachleute Luft für ihre eigentlichen Aufgaben haben. Als aber das Budget kam, sagten die Krankenkassen: Pflege ist nur, was ausgebildete Pflegekräfte machen, diese Kosten übernehmen wir – für Servicekräfte bekommt ihr kein Geld.

Woraufhin manche Krankenhäuser in ihrer Not statt billiger Servicekräfte wieder teurere Pflegekräfte – sofern sie auf dem leer gefegten Markt zu kriegen waren – einstellten; und diese Höherqualifizierten wieder das Essen ausgeben ließen. Der Fachkräftemangel verschärfte sich so weiter.

25 Frühchen, 75 Lungenkarzinome: Mindestmengen

Noch eine feine Idee: Je mehr Operationen die Ärzte in einer Klinik abwickeln, desto routinierter und besser werden sie darin. Deshalb gibt es das Prinzip der Mindestmengen; es soll die Qualität sichern.

Lungenkarzinome: Mindestmenge 75 pro Jahr – wer drunter bleibt, verliert den Status als zertifiziertes Lungenzentrum und kann die Behandlung nicht mehr abrechnen. Frühchen: Mindestmenge 25 Neugeborene unter 1250 Gramm pro Jahr – nur so lässt sich der für die Abrechnung wichtige Status als Perinatalzentrum Level eins halten. Da aber nur etwa ein Prozent der Kinder derart früh zur Welt kommt, muss eine Klinik, um 25 zu sammeln, 2500 abarbeiten.

Die Mindestmengenregel kann durchaus sinnvoll sein bei komplexen Verfahren, doch überdosiert schafft sie „Fehlanreize“: Wenn eine Klinik von einer Sorte zehn Fälle pro Jahr braucht, aber im November erst bei acht steht, steigt der wirtschaftliche Druck, bis Weihnachten „alles zu operieren, was nicht bei drei auf dem Baum ist“.

Die Mindestmengen legt der G-BA fest; der Gemeinsame Bundesausschuss, ein „demokratisch nicht legitimiertes“ Gremium aus 13 Leuten, in das zum Beispiel Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigungen Vertreter entsenden. Wenn der G-BA die Mindestmengen erhöht, heizt er den „Verdrängungswettbewerb zwischen Kliniken“ an, landauf, landab steigt dann in kleineren Häusern der Existenzdruck. Mit dieser Daumenschraube werde „durch die kalte Küche“ die „Kliniklandschaft bereinigt“.

Zu wenig ist ganz schlecht; zu viel ist auch nicht gut: Baut eine Klinik 2022 mehr künstliche Hüften ein als 2021, greift der „Fixkostendegressionsabschlag“ – sie erhält für die zusätzlichen Operationen nicht die Fallpauschale nach I47A, B oder C, sondern nur 65 Prozent des Betrags. Begründung: Die Fixkosten steigen, wenn man mehr operiert, ja nicht unbedingt im gleichen Maß. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags schrieb dazu: Das Instrument solle „die im Vergütungssystem vorhandenen Anreize“ zur Erbringung von Mehrleistungen „dämpfen“. Hier nimmt der Wahnsinn des Systems kafkaeske Züge an.

Wer nimmt sie? Oder: Der virtuelle Bettenüberhang

Ein greiser Krebspatient ist wegen akuter Beschwerden in die Notaufnahme gekommen. Es zeigt sich: Die Krankheit ist unaufhaltsam weit fortgeschritten. Was der Mann braucht, ist nur noch Schmerzlinderung. Aber auf die Schnelle ist kein Pflegeplatz oder keine ambulante Palliativ-Versorgung im Umkreis frei. Also bleibt er vorerst in der Klinik, sagen wir, fünf Tage. Was danach passieren wird, weiß Marc Nickel aus Erfahrung, es ist ein „Klassiker im Gesundheitswesen“: Die Krankenkasse wird der Klinik für diese fünf Tage nichts bezahlen wollen – schließlich gab es keine medizinische Notwendigkeit, ihn hierzubehalten, man hätte ihn doch auch in ein Heim stecken können!

Während der Pandemie sagten viele Pflegeheime: Corona-Positive übernehmen wir nicht, das ist uns zu riskant. Ihr dürft aus dem Krankenhaus nur PCR-Negative zu uns schicken. „Wir sind“, sagt Nickel, „sitzengeblieben“ auf diesen Patienten, die kein Geld bringen, sondern Geld kosten; denn medizinisches Personal und Pflegekräfte muss man natürlich auch für sie vorhalten.

Bei Betten, die theoretisch frei sind – aber nicht praktisch, weil eben doch jemand drin liegt –, spricht man von „virtuellem Bettenüberhang“. In Winnenden und Schorndorf zusammen waren 2021 im Schnitt täglich 90 Betten so belegt; rund zehn Prozent der Gesamtkapazität.

Prognose der Kreisverwaltung: Im Jahr 2035 wird es an Rems und Murr rund 1700 stationäre Pflegeplätze weniger geben, als benötigt werden. Das macht einen schönen virtuellen Bettenüberhang.

Die Zukunft der Rems-Murr-Kliniken und anderer Häuser

Im Jahr 2000 gab es etwa 2250 Krankenhäuser in Deutschland, 2020 waren es noch 1900. Dieser Prozess wird weitergehen.

Überleben werden anpassungsfähige, konzeptuell klug entwickelte, moderne Häuser: gute Karten für Winnenden und Schorndorf. Überleben werden größere Häuser, sie können Mindestmengen schaffen. „300 Betten ist die kritische Grenze“, sagt Nickel. Winnenden hat 667: Bingo. Schorndorf hat 248: Eine Erweiterung ist geplant. Überleben werden Häuser mit starken Gesellschaftern, die bereit sind, Defizite auszugleichen: Bei uns haben sich Landrat und Kreistag wiederholt dazu bekannt.

Die Rems-Murr-Kliniken stehen also noch vergleichsweise gut da – an der Krankheit des Systems ändert das nichts. Den Geburtsfehler der dualen Krankenhausfinanzierung zu heilen, das Fallpauschalen-Halseisen zu lockern: Das wäre überfällig.

Aber das reicht nicht, glaubt Nickel. Man müsste in vieler Hinsicht neu anfangen, „bei null“, nicht immer bloß am Bestehenden rumflicken und „es irgendwie mit der Brechstange hinbiegen“. Nur ein Beispiel: Warum nicht in manchen ländlichen Gegenden, wo richtige Kliniken unter den derzeitigen Bedingungen kaum durchhalten können, kleine Tageskliniken einrichten – und natürlich auch auskömmlich budgetieren? Medizinische Versorgungszentren mit Unfallchirurgie, Chirurgie, Innerer Medizin, Neurologie, Notaufnahme, Rettungsdienst; und Verlegung, sobald es kompliziert wird.

Was tust du, wenn das Pferd tot ist? Prügelst du den Kadaver, bis er wiehert? Stellst du einen Dressurreiter ein, der gemäß Zielvereinbarung einen Bonus bekommt, falls er der Leiche das Traben beibringt? Bildest du eine Arbeitsgruppe, Projektauftrag „Revitalisierung entseelter Huftiere“? Änderst du die Definition von „tot“? Oder steigst du ab und sattelst ein neues Pferd?

Das derzeitige System, sagt Marc Nickel, sei ein toter Gaul. „Wir reiten ihn immer weiter. Wir sollten uns über ein Finanzierungssystem Gedanken machen, das die Fürsorgepflicht in den Mittelpunkt unseres Tuns stellt.“

Es müsste eigentlich um Gesundheit gehen in diesem Artikel, aber er dreht sich fast nur um Geld. Zu berichten ist von der Finanzierung deutscher Krankenhäuser: von Mangelverwaltung, bizarrer Bürokratie und planvoller Gängelung. Laien sei das alles kaum noch vermittelbar, sagt Dr. Marc Nickel, scheidender Geschäftsführer der Rems-Murr-Kliniken; und die meisten Politiker „verstehen es auch nicht mehr“.

Warnung: In diesem Text werden Sie Begriffen begegnen wie „Basisfallwert“,