Missing Link: Über Digitalisierung des Gesundheitswesens und den Pandemie-Herbst

Nicolai Savaskan, bis vor Kurzem Leiter des Gesundheitsamts Neukölln, über Vorbereitungen auf den Pandemie-Herbst, das digitale Meldewesen und Open Source.

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(Bild: Wichy/Shutterstock)

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Inhaltsverzeichnis

"Nach über zwei Jahren Covid-19-Pandemie stehen wir immer noch vor den gleichen Herausforderungen des Datenmanagements wie vor der Pandemie. So sind allgemein Behörden, Ämter und öffentliche Institutionen digital von den allgemeinen Standards ihrer Bürger entfernt und die Organisations- und Effizienzstrukturen in ihrer Reife muten zeitlich überkommen an." Mit dieser Skepsis beginnen die Berliner Praktiker Mesut Yavuz und Nicolai Savaskan aus dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) einen Artikel über dessen "langen Weg zur Digitalisierung".

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Um dem Stand der Dinge auf den Grund zu gehen, tauschte sich heise online-Autor Stefan Krempl mit Savaskan über die Erfahrungen der vergangenen Jahre und die Arbeit in einer einschlägigen Behörde "im Auge des Sturms" aus. Dr. med. habil. Savaskan ist Vorstandsmitglied des Verbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Länder Brandenburg und Berlin (VÄöGD). Im Berufsalltag leitete er bis vor Kurzem das Gesundheitsamt Neukölln, wurde aber Ende Juli nach Auseinandersetzungen mit Gesundheitsstadträtin Mirjam Blumenthal (SPD) von dieser Aufgabe entbunden. In dem "Brennpunktbezirk" warb ein interkulturelles Team, das es zusammen auf 13 Fremdsprachen bringt, in den vergangenen Monaten fürs Impfen.

Savaskan gilt als unkonventionell. Mit Anfang 50 beschreiben Beobachter den Epidemiologen als Gegenteil des Klischees vom kaputtgesparten und verstaubten öffentlichen Gesundheitswesen. In seinem bisherigen Neuköllner Büro hingen rote Boxhandschuhe am Schrank, denn Durchsetzungsvermögen ist auch in der Verwaltung gefragt. Ein Roller stand immer griffbereit. In einem Porträt über ihn heißt es: "Er ist umtriebig, eloquent, sachlich, immer erreichbar und im Kopf oft schon zwei bis drei Schritte voraus." So wirbt der Mediziner etwa für eine Open-Source-Plattform für den ÖGD, um die bisherige Softwaremisere endgültig zu beenden.

Die Witze über den ÖGD schrieben sich zum Start der Corona-Pandemie fast von selbst: Der FDP-Bundestagsabgeordnete Hagen Reinhold etwa sprach Anfang 2021 von einem "Desaster", dass die meisten Gesundheitsbehörden "in der Corona-Krise weiterhin nur per Fax und Zettelwirtschaften" kommunizierten. Damit sei der in vielen Bundesländern erfolgte Zusammenbruch der Kontaktverfolgungen programmiert gewesen.

Bund und Länder hatten zuvor im Herbst 2020 einen "Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst" beschlossen. Sie wollten damit "Interoperabilität über alle Ebenen hinweg" schaffen und das Meldewesen beschleunigen. Bis Ende 2020 sollten nach dem Plan der Bundesregierung 90 Prozent der gut 380 Gesundheitsämter in Deutschland das "Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System" (Sormas) verwenden, das das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig zur Ebola-Bekämpfung entwickelte und 2019 um ein Sars-Cov-2-spezifisches Modul ergänzte.

Mit 111 der Behörden waren es zum Jahreswechsel 2020 aber nur rund zwei Drittel. Laut einer Analyse des Deutschen Städtetags und des Landkreistags nutzte ein erheblicher Teil der Gesundheitsämter zum Kontaktpersonenmanagement Microsoft Excel oder Spezialprogramme wie Survnet, Octoware, ISGA, Miropro und Unisoft.

Das hat sich mittlerweile geändert. Ende März 2021 konnten 315 Gesundheitsämter zumindest prinzipiell auf Sormas zugreifen. Seit Februar werde die erweiterte Lösung Sormas-X auch mit Schnittstellen zu Survnet und dem Deutschen Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (Demis) in einem ersten Amt genutzt, hatte es damals von Regierungsseite geheißen. Entsprechende Erweiterungen würden sukzessive ausgerollt.

"An vielen Stellen sind wir längst hinaus über das Stadium von Akten, die hin und her geschoben werden, oder endloser Faxe, die sich wegen Corona-Fällen ansammeln", zieht die im öffentliche Gesundheitswesen arbeitende IT-Expertin Bianca Kastl ein Fazit. Trotzdem komme es zugleich zu einer Art "Degitialisierung". So seien allein an der Meldekette für Coronafälle, an dessen Ende beim Robert-Koch-Institut (RKI) Werte für die 7-Tage-Inzidenz rauskommen, drei verschiedene digitale Systeme beteiligt: eins für Labormeldungen, eine Fachanwendung fürs Amt und die Meldesoftware Survnet. Zwischen den drei Lösungen brauche es viel händische Arbeit, um Meldungen und Daten zu sortieren und weiterzuleiten. Ein eigentlich digitalisierter Prozess, aus dem trotz viel Personalaufwand aber kein Echtzeitlagebild erwachse.

Savaskan kennt diese Herausforderungen und viele andere im ÖGD. Hier seine Einschätzungen und Forderungen für den erwarteten heißen Sommer, Herbst und Winter der durch ständig neue Varianten getriebenen Pandemie.

heise online: Wie digital sind ihres Wissens nach die anderen Gesundheitsämter Berlins beziehungsweise Deutschlands? Funktionieren das Zusammenspiel und das Meldewesen endlich?

Nicolai Savaskan: Bei allen Berliner Gesundheitsämtern besteht eine Digitalisierungslücke. Es gibt ein paar Leuchttürme in der Bundesrepublik, da wären Frankfurt, Dortmund oder Friedrichshafen zu nennen. Die haben sich von der vorgesetzten Meldesoftware konsequent emanzipiert. Bei den Beratungsgesprächen zur Verwendung der Förderanträge im Rahmen des Pakts für die Digitalisierung des ÖGD wurde deutlich, dass das Verständnis über die Thematik variiert. Während also in bestimmten Gesundheitsämtern Mitarbeiter eigene Skript-Lösungen entwickelten, gibt es andere, deren Ansprechpartner für Digitalisierung das Wort Schnittstelle erst googeln mussten.

Aber wen wundert es, wenn eben diesen Mitarbeitenden jahrzehntelang etwas vorgesetzt wurde und sie selbst null im IT-Bereich beteiligt waren. Der Großteil der Gesundheitsämter ist mit der Thematik überfordert. Den Landesstellen und Ministerien geht es nicht anders. Die sind ja noch weiter von der Anwenderebene entfernt. Den meisten Entscheidungsträgern – mich eingeschlossen – fehlt es selbst an fortgeschrittenen Digitalisierungskompetenzen.

Sind die Ämter für die x-te Coronawelle mittlerweile besser gerüstet?

Was die kommende sechste oder siebte Welle betrifft: Die Gesundheitsämter sind weiterhin mit Interimslösungen ausgestattet, nur bricht unser Personal gerade weg aufgrund fehlender Finanzierung. Politisch scheint die Pandemie im Moment gar nicht zu existieren. Allerdings ist die damit verknüpfte Arbeit vornehmlich ein "People’s Business": Egal wie digital wir sind, bedarf es unbedingt einer ausreichenden Zahl an Mitarbeitenden. Auch das Lernen aus Erfahrungen ist unabdinglich. Wenn jetzt nicht gegengesteuert wird, kommt es sehr hässlich für die Bürger: Kein persönlicher Ansprechpartner, keine Gesundheitskommunikation, keine zielgruppenspezifische Ansprache, keine Vor-Ort-Präsenz, keine aufsuchenden Hilfen. Dabei sind das alles Sachen, die sich die Menschen wünschen und die medizinisch notwendig sind. Wenn wir etwas in der Pandemie gelernt haben, dann das.

Könnte Künstliche Intelligenz (KI) helfen, Mitarbeiter zu entlasten oder zu ersetzen?

Digitalisierung würde weitergedacht tatsächlich in Richtung AI gehen, also KI für Risikoeinschätzungen und Kontaktpersonennachverfolgung. Doch davon sind wir noch Planeten-weit und einige Beschäftigtengenerationen entfernt.

Wie weit ist die Digitalisierung des von ihnen bis vor wenigen Tagen geleiteten Gesundheitsamts Neukölln (GANK) nach zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie gekommen? Welche Aspekte zählen dazu jenseits der Versorgung der Mitarbeiter mit Endgeräten wie Smartphones?

Die Pandemie hat eins beschleunigt: Wir haben an der Basis im Amt ein gemeinsames Zielbild geschaffen, eine Vision. Dadurch haben wir ein Konzept entwickelt, bei dem Mitarbeitende Digitalisierung bottom-up gestalten können. Ziel war es, im Gesundheitsamt genauso digitalisiert zu arbeiten, wie es uns im privaten Leben tagtäglich möglich ist: web-basierte Kontaktformulare, Präsenz auf Social-Media, mobil mit offenen Schnittstellen. Und die Beschäftigten sind digital deutlich befähigter und gewillter, als es uns das Umfeld ermöglicht.

Wie waren die Voraussetzungen zum Start der Pandemie?

Ausgangsbasis war, dass wir ein reines Meldewesen nach oben als digitale Lösung hatten. Damit wird auch das Selbstverständnis von Gesundheitsämtern schwer beschnitten, das darf mensch nicht unterschätzen! So eine Beschneidung wirkt sich auf die Beschäftigten massiv aus, das macht was mit den Leuten über Jahre. Und trotzdem: Die Bereitschaft für den Wandel ist da, die Belgschaft hat durch die Pandemie ihre Wirksamkeit für die Bürger und für sich wirklich neu entdeckt. Die sind heiß, die sind bereit, dass jetzt was in den Gesundheitsämtern passiert.

Denn die Beschäftigten wissen, dass die Daten der 383 Gesundheitsämter in Deutschland sehr viel tiefergehend, also räumlich-zeitlich hochauflösender sind, als das, was das RKI dann veröffentlicht und als Grundlage zur politischen Entscheidungsfindung genutzt wird. Nur haben wir bisher keine passenden digitalen Auswerttools bekommen und das System ist geschlossen, voller Medienbrüche.

Die Mängel sind nach wie vor groß?

Es gibt noch immer keine einheitliche Schnittstelle und kompatible Software-Landschaft. Die eingesetzten Programme sind funktionsschwach, können weder horizontal noch vertikal kommunizieren. Im Bereich des Infektionsschutzes hat sich allerdings durch Sormas und bestimmte angedockter Module viel entwickelt: neben dem Melden nach oben können wir jetzt horizontal einigermaßen medienbruchfrei kommunizieren.

Anders sieht es in dem wichtigen Bereich des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes oder in unserem Sozialpsychiatrischen Dienst aus: Ohne Stift und Zettel könnten wir hier nicht arbeiten. Und mobile Technik – also digital unterwegs sein bei den Menschen – ist noch gar nicht denkbar. Wir haben hier eine Lücke – nein, das ist euphemistisch – wir haben einen Grand Canyon zwischen dem, was unsere Mitarbeitenden können und wollen, und dem, wie wir uns mit der vorgesetzten Technik und Software selbstwirksam erfahren beziehungsweise eben nicht erfahren. Und dieser Grand Canyon wird durch den Digitalpakt für den ÖGD nicht geschlossen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat eine einheitliche Digitalisierungsstrategie für die deutschen Gesundheitsämter für den Herbst angekündigt. Kommt die Initiative zu spät?

Definitiv. Im Rahmen des Pakts ÖGD-Digitalisierung werden jetzt Investitionen getätigt, die womöglich sogar konträr zur angekündigten Digitalisierungsstrategie laufen werden. Und das Förderantragswesen zur Verteilung der 400 Millionen Euro sieht ja nicht wirklich die eine einheitliche Digitalisierungsstrategie vor. Fest steht: Die Entscheider sind nicht die Anwender. Das ist im Land Berlin so, aber auch in vielen anderen Bundesländern.

Wenn die Gesundheitsämter weiter nur aufs Melden digital reduziert werden, bräuchten wir ja einfach nur den Status quo halten. Aber das ist keine Digitalisierungsstrategie.

Reichen die bislang zugesagten Finanzmittel?

400 Millionen ist eine Stange Geld, aber das muss bei den Gesundheitsämtern ankommen, die sind die Anwender. Die sind in erster Linie der öffentliche Gesundheitsdienst, nicht die Ministerien. Wenn aber nicht die Anwender über die Mittel entscheiden, wird es schon schwieriger, den Best-Case-Zustand überhaupt zu definieren. Zu spät zum Investieren in Gesundheitsämter ist es nie, es muss nur auch richtig gemacht werden. Und was die laufende Pandemie betrifft: Da greift der Pakt ÖGD-Digitalisierung doch gar nicht.

Den Effekt des Förderprogramms des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) werden wir in den nächsten fünf Jahren messen können. Da werden wir dann sehen, ob nur "nice gadgets" gekauft und Beraterfirmen ordentlich bedient oder wirklich Gesundheitsämter digital und mobil ermächtigt wurden. Für den aktuellen Betrieb haben wir erst einmal nur mehr Aufwand, aber keine konkreten Auswirkungen.

Die Bundesländer forderten Mitte Mai das BMG eindringlich auf, bis spätestens 31. August eine bundeseinheitliche Kernanwendung zum Meldeverfahren für den Infektionsschutz zur Verfügung zu stellen. Der Bund setzt hier seit Längerem vor allem auf Sormas. Macht eine einheitliche Lösung Sinn und ist Sormas dafür das beste Instrument?

Wenn offene Schnittstellenstandards und horizontal und vertikal medienbruchfrei kommuniziert werden kann, macht eine einheitliche Lösung nicht nur Sinn, sondern ist für die Zukunftsfähigkeit zwingend! Die Idee von Sormas ist deswegen ja revolutionär gewesen. Anders als Demis, Survnet und die vielen Privatanbieter ist das Geschäftsmodell von Sormas gemeinnützig, partizipativ und auf Open Source ausgerichtet. Public Code for Public Money!

Sormas ist sicher nicht das beste Werkzeug, aber damit ist der Bruch der Abhängigkeiten von Top Down gekommen. Und für die Gesellschaft ist es nur richtig, wenn der öffentliche Gesundheitsdienst und generell die öffentliche Verwaltung den technischen und datenschutzmäßigen Standard für die APIs setzen. Also transparente Interfaces, die es allen Anbietern am Markt und allen Bürgern erlauben, mit Ihrer Behörde in Kontakt zu treten. Das ist eines der Digitalisierungsziele, auf die wir zuarbeiten.

Das hat nichts mit dem Einschießen auf einzelne Anbieter mit einzelnen Softwarelösungen zu tun. Hier geht es um eine zivilgesellschaftliche Beteiligung. Wir wollen die grundsätzliche Architektur der Anwendungen und Datenbanken neu implementieren: weg von Einzelunternehmen, weg von Abhängigkeiten von einzelnen Geschäftsmodellen, hin zu Anwendergemeinschaften, Plattformen, Partizipation aus der Zivilgesellschaft – vergleichbar zur Entwicklung der Corona-Warn-App. So erreichen wir auch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, die immer wichtiger wird.

Nutzt das GANK Sormas? Falls ja, wie läuft es damit? Falls nein, warum nicht?

Ja, im GANK wird Sormas X genutzt und wir waren zufrieden damit. Das heißt nicht, dass wir uns im Paradies wähnten. Es gibt eine Menge an Sormas zu schrauben, ganz sicher. Allerdings: Wir konnten manuelle Aufwendungen reduzieren und eine Beschleunigung der Fallbearbeitung herbeiführen. Der Quantensprung ist jedoch: Die Anwendergemeinde hat jetzt das Wort bekommen, die Helmholtz-Gesellschaft hat mit ihrem Dienstleister das Management und die Änderungen begleitet. Hier ist der wesentliche Wandel passiert. Die Gesundheitsämter sind mit Sormas Beteiligte und Entscheider zugleich! Und genau diese Idee der Gemeinnützigkeit und der Denkarchitektur zu erhalten, ist jetzt so wichtig.

Wie sah es mit Luca aus? Hatten die App und das zugehörige System Potenzial? Könnten sie ein Comeback feiern?

Luca trat vielversprechend auf und wir waren an dem Einsatz stark interessiert. Letztendlich hat die Anwendung die angekündigte Entlastung nicht herbeiführen können. Warum? Ich kann nur mutmaßen, dass hier völlig überhastet ein Auftrag angenommen wurde, dem dieser Dienstleister nicht gewachsen war. Oder dessen Geschäftsmodell war eigentlich ein anderes.

Klar ist doch, dass Gesundheitsdaten im Kontext von Behörden nicht kommerziell zweckentfremdet werden sollten. Mindestens in der Pandemie nicht und auch nicht einfach so. Die Befürchtungen bei Luca sind eingetreten: Der Anbieter hat durch die Pandemie den Zugang in den Gastrosektor mit all den Daten erhalten und hat sich das noch von öffentlicher Hand finanzieren lassen. Insofern glaube ich nicht an ein Comeback, weil Gesundheit wahrscheinlich nie ernsthaft das Geschäftsmodell von Luca war. Ergo: Die Investitionen wären in anderen Bereichen wie dem Ausbau der Gesundheitsamtsschnittstellen deutlich sinnvoller eingesetzt gewesen.

Droht angesichts steigender Infektionszahlen und neuer Varianten spätestens im Herbst wieder ein Chaos schon beim Melden von Corona-Fällen?

Technisch sind wir hohen Inzidenzentwicklungen gewachsen, personell fehlt die Planungssicherheit! Ohne Personal ist auch das beste System wirkungslos. Auch AI würde letztlich nicht helfen. Und das geht auf Kosten der Bürgerfreundlichkeit, des Service, der Bürgerkommunikation und letztlich auf die gesundheitliche Sicherheit.

Sie beklagen insgesamt einen fehlenden Austausch zwischen Ämtern auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene über digitale Lösungen und fordern Open-Source- und Open-Data-Strategien ("Public Money, Public Code"). Wenn Steuergelder im Spiel sind, sollen eigene Entwicklungen demnach für die gesamte öffentliche Verwaltung frei und wiederverwendbar sein. Haben Sie schon Feedback dazu erhalten?

Wir haben hierzu eine hohe Zustimmung der Gesundheitsämter und daher hat sich eine Community gebildet, die sich nur mit "Open Digitalization" beschäftigt. Bei den Mitarbeitenden der Gesundheitsämter ist der Wunsch groß, mit Open-Source-Anwendungen zu arbeiten und dadurch eine nachhaltige, für Änderungen offene und beschleunigte Digitalisierung herbeizuführen. Sowohl von den Landesstellen als auch von den Ministerien haben wir aber eher den Eindruck, dass diese nicht an Open-Source-Lösungen interessiert sind und eher auf ihre etablierten Vertragspartner setzen. Vermutlich liegt es daran, dass sie sonst die eigenen Prozesse anpassen und verändern sowie die Komfortzone verlassen müssten.

Ihr Vorschlag umfasst auch den Aufbau einer Open-Source-Plattform für den ÖGD. Wie könnte die Kooperation darüber ablaufen und welche Anwendungen sollen darüber vorangetrieben werden? Gibt es dazu bereits Rückmeldungen?

Die Kooperation könnte durch Open-Source-Communities durchgeführt und organisiert werden. Im ersten Schritt sind wir bestrebt, uns auf eine einheitliche Plattform zu einigen. Im weiteren Schritte muss der Ist- und Soll-Zustand erfasst werden. Aus dem Soll-Zustand werden Bedürfnisse abgeleitet und in Projekten aufgeteilt. Diese werden in der Community abgesprochen und verteilt, damit Lösungen nicht doppelt entwickelt werden. Am Ende sollen die gefundenen Ansätze auf der Plattform abgebildet und für alle Teilnehmer zur Verfügung gestellt werden: Einer entwickelt, alle profitieren.

Welche Herausforderungen bestehen in einem Gesundheitsamt in einem klassischen "Multi-Kulti-Bezirk" beim Kampf gegen eine Pandemie? Wie lässt sich die Bevölkerung etwa für eine Impfkampagne gewinnen? Wie hoch schätzen sie die Covid-19-Impfquote vor Ort ein?

Ach, Neukölln ist nicht wirklich spezieller als andere Stadt- oder Landkreise. Oder doch? Sehen Sie, das sind die offenen Fragen, die sich durch digitale Anwendungen beantworten ließen, wenn wir unsere Gesundheitsdaten denn auswerten könnten. So bleiben die Zuschreibungen nur Plattitüden, Imagebilder: schön, aber letztlich unscharf und nicht evidenzbelegt.

Wir waren auf einem guten Weg, unsere Lektionen zu lernen, und die sind sehr deutlich in der Pandemie herausgearbeitet worden: Wir müssen raus zu den Menschen, aufsuchend unsere Arbeit vor Ort anbieten. Gesundheitskommunikation mit zielgruppengerechter und mehrsprachiger Ansprache auf allen Kanälen ist nötig: Die einen brauchen den Vereinsort, die anderen Instagram, andere wieder nur TikTok, Facebook oder analog. Entscheidend sind niederschwellige Impfangebote und Gesundheitsberatungen, sprachsensibel, kultursensibel, kleinteilig. In einer divergierenden Gesellschaft mit immer kleinteiligeren Rückzugsräumen kann chancengleiche Gesundheit einen sozialen Kit bilden. Nicht den Quatsch mit den Impfbussen als Werbeveranstaltung, sondern auf Augenhöhe bei den Menschen.

Und ganz wichtig: Die schlagkräftige "Task Force Infektionsschutz", die wir entwickelt haben, müsste verstetigt werden. Die Grundmuster aller Krisen sind gleich. Die der Bewältigung sind es auch. Deswegen müssen wir diese Einheiten halten und weiter entwickeln.

Welche Lage erwarten sie im sich abzeichnenden neuen Corona-Herbst, der durch die Ukraine-Krise und Affenpocken zusätzlich angeheizt werden dürfte? Könnten die Maßnahmen wieder bis zu Lockdowns gehen?

Corona-Herbst? Wir rasen gerade durch den Corona-Sommer mit den BA.4- und BA.5-Varianten! Die sechste Welle ist gerade in vollem Gange. Und das bei weniger Testungen und einer weitaus höheren Dunkelziffer. Die Konzepte, um vorbereitet zu sein, liegen auf dem Tisch. Affenpocken sind das geringste Problem. Die Politik muss sich jetzt entscheiden: Will sie die Gesundheitsämter personell weiter unterstützen, die Pandemiestäbe ertüchtigen, Geflüchtete versorgt und nebenbei andere Ausbruchsgeschehen eingedämmt sehen? Aus dem, was wir gelernt haben, brauchen wir keinen Lockdown, wenn wir Zielgruppen-spezifisch arbeiten, wenn Gesundheitsämter impfen, testen und die Gesundheitskommunikation selbst übernehmen, wenn wir personell gut aufgestellt sind. Das kostet, aber alles andere kostet noch viel mehr.

(bme)