Wie KI das Gesundheitswesen als Lieferkettenproblem behandelt

Mit Algorithmen, die sonst zur Optimierung der Supply Chain dienen, sollen Krankenhäuser und Arztpraxen effizienter arbeiten. Erste Einsätze in Afrika.

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4 Blutprobenröhrchen in einem Ständer, daneben eine Krankenschwester die zwei weitere Röhrchen in die Kamera hält

Blutproben in Röhrchen unmittelbar nach der Blutabnahme

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Will Douglas Heaven
Inhaltsverzeichnis

Das Management des öffentlichen Gesundheitssystems ist ungefähr so, als würde man versuchen, mit Bienen zu jonglieren. Es gibt Millionen beweglicher Teile, die gerade zu Pandemiezeiten zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein müssen – seien es nun Testkits oder Impfstoffe. In Ländern mit sowieso schon begrenzten Ressourcen und endemischen Krankheiten wird das zum kaum lösbaren Problem.

Würde es helfen, sich an anderen Branchen zu orientieren? Denn schließlich ist die Lieferkette im Gesundheitswesen eben auch nur das – eine Lieferkette. Deshalb kommen nun zunehmend KI-gestützte Werkzeuge für das Supply-Chain-Management zum Einsatz, um den Menschen einen besseren Zugang zu Gesundheitstests und Behandlungen zu ermöglichen.

Gesundheitsverantwortliche nutzen solche Software beispielsweise, um zu entscheiden, wo sie neue Kliniken einrichten und Ausrüstung und Personal einsetzen sollten – und sogar, welchen Ausgaben Vorrang zu geben ist. Nur ein Prozent der ambulanten Kliniken und 14 Prozent der Krankenhäuser in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen verfügen über die nötige Ausrüstung oder das Personal, um endemische Krankheiten wie HIV, Tuberkulose und Malaria zu diagnostizieren, heißt es in einem Bericht aus dem Jahr 2017 im Bulletin der Weltgesundheitsorganisation.

Eine von der Zeitschrift "The Lancet" im Jahr 2021 eingesetzte Kommission kam zu dem Schluss, dass fast die Hälfte der Weltbevölkerung nur begrenzten oder gar keinen Zugang zu medizinischen Testdienstleistungen hat. Selbst wenn Tests zur Verfügung stehen, sind die Ergebnisse oft ungenau oder kommen zu spät, um noch von klinischem Nutzen zu sein.

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Globale Gesundheitsorganisationen haben erkannt, dass diese Unzulänglichkeiten, wenn man sie näher betrachtet, üblichen Problemen in der Lieferkette ähneln. "Warum kann Coca-Cola eiskalte Getränke an einige der entlegensten Orte der Welt liefern, aber wir können so etwas im Gesundheitswesen nicht?", fragt John Sargent, Arzt und Mitbegründer der BroadReach Group. Die Organisation verwaltet eines der weltweit größten Programme zur HIV-Versorgung und Behandlung mithilfe von KI-Software, einschließlich sogenannter digitaler Zwillinge – Werkzeuge also, die komplexe Prozesse simulieren, indem sie reale Ressourcen wie Waren, Lager und Transportverbindungen im Rechner abbilden. Algorithmen für maschinelles Lernen können diese Simulationen nutzen, um Probleme vorherzusagen und Lösungen vorzuschlagen.

In den letzten Jahren haben Unternehmen aus allen Branchen, vom Einzelhandel bis zur Fertigung, damit begonnen, solche Systeme einzusetzen, um die auch große Störungen in ihrer Lieferkette zu bewältigen. "Wir sollten einen Schritt zurücktreten und das gesamte Gesundheitsnetzwerk eines Landes betrachten", sagt Heidi Albert, Leiterin von FIND South Africa. "Das hat uns zum Supply-Chain-Denken geführt." FIND ("Foundation for Innovative New Diagnostics") ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in der Schweiz. Diagnosetests seien eines der schwächsten Glieder in der globalen Gesundheitsversorgung, sagt Albert: "Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass jeder, der einen Test braucht, auch Zugang zu einem Test hat."

Das bedeutet, dass eine begrenzte Anzahl von Ressourcen über ein ganzes Gesundheitssystem verteilt werden muss, was zu einem Optimierungsproblem wird. Wie kann man das Beste aus dem Vorhandenen herausholen? Durch die Modellierung von Ressourcen und ihren Abhängigkeiten können digitale Zwillinge Lücken im Angebot erkennen, Störungen vorhersagen und Einrichtungen so optimieren, unterschiedlichen Szenarien gerecht zu werden.

FIND arbeitet mit dem US-amerikanischen Unternehmen Coupa zusammen, einem Anbieter von Business-Management-Software. Dort soll ein Tool zur Optimierung von Testdienstleistungen entwickelt werden. Coupa hat in den letzten vier Jahren seine Unternehmenssoftware namens OptiDx für Anwendungen im Gesundheitswesen angepasst. Durch den Einsatz einer Reihe von Techniken zur Modellierung und Analyse komplexer Prozesse können die Werkzeuge den Bedarf vorhersagen und die Deckung optimal lösen – auch dank maschinellem Lernen.

OptiDx will diese Verfahren nutzen, um Managern im Gesundheitswesen – von Regierungsbeamten bis hin zu Krankenschwestern – dabei zu helfen, Ressourcen effizienter zuzuweisen und dafür zu sorgen, dass Geräte und Personal an den optimalen Standorten eingesetzt werden. Durch die Simulation der Nachfrage im digitalen Zwilling der Testeinrichtungen eines Landes kann die Regierung zum Beispiel sehen, welche zusätzlichen Kliniken und Geräte sie benötigen würde.

FIND und Coupa haben die Software bereits in Sambia, Vietnam, Bangladesch und Burkina Faso erprobt. In Sambia konnte durch die Empfehlungen des Tools die durchschnittliche Entfernung, über die HIV-Proben transportiert werden mussten, auf unter fünf Kilometer reduziert werden – elf Mal weniger als zuvor. FIND ist nun dabei, OptiDx in 15 weiteren Ländern einzuführen, darunter Kenia, Lesotho, Indien und die Philippinen. Auf den Philippinen hat die Software gezeigt, dass eine Klinik die gleiche Anzahl von Tests mit weniger Instrumenten als gedacht durchführen konnte, so dass die Klinik einen Teil ihres Budgets umverteilen konnte. FIND überwacht, ob die Empfehlungen des Tools wirklich nützlich sind und ob sie in die Praxis umgesetzt werden. "Dies muss etwas sein, das die Länder selbst in die Hand nehmen können", sagt Albert. "Das Wichtigste ist, die Power der Daten in die Hände derjenigen zu legen, die die Entscheidungen treffen können."

BroadReach verwendet inzwischen ein Simulationstool namens "Vantage", das in Zusammenarbeit mit Microsoft entwickelt wurde, um Kliniken mit zu wenig Mitarbeitern zu finden und Gesundheitspersonal dorthin zu schicken, wo es am dringendsten benötigt wird. Im Jahr 2020, während der ersten Wochen der Pandemie, arbeitete BroadReach mit FIND zusammen, um zu bewerten, wie gut zwei Provinzen in Südafrika auf COVID-19 vorbereitet waren. Man stellte in nur drei Tagen einen Mangel an Schutzausrüstung und Personal in mehr als 300 Kliniken fest.

Sargent sagt, er habe die Gesundheitssysteme in Afrika aus erster Hand kennengelernt, als er in Flüchtlingslagern arbeitete, bevor er Medizin studierte. Später gründete er BroadReach zusammen mit seinem Arztkollegen Ernest Darkoh, der in Tansania und Kenia aufgewachsen ist. "Wenn man in Sambia in eine Klinik auf dem Land geht, sieht man Patientenakten auf Papier", sagt Sargent. Doch die digitale Technologie ist eigentlich vorhanden: "Die Krankenschwestern haben Smartphones und Facebook schlägt ihnen Beiträge vor, die ihnen gefallen könnten." Warum also nicht diese Geräte nutzen?