Essen. Das statistische Landesamt IT.NRW nennt für Essen eine Kaiserschnitt-Rate von nur 13 Prozent – die niedrigste in NRW. Bloß: Die Zahl ist falsch.

Die Meldung klang verblüffend: Im Jahr 2020 sei der Anteil der Kaiserschnitte bei den Geburten in NRW auf knapp 29,5 Prozent gesunken, das sei der niedrigste Wert seit 2005, teilte das statistische Landesamt IT.NRW dieser Tage mit. Die geringste Sectio-Quote gebe es in Essen – mit nur 13 Prozent. Demnach hätten die hiesigen Geburtshelfer sensationell vielen Frauen zu einer natürlichen Geburt verholfen. Schönheitsfehler an der Sensation: Der Wert stimmt nicht.

Essener Geburtskliniken halten den Wert der Statistikamtes für Unfug

Uniklinik, Krupp-Krankenhaus und Elisabeth-Krankenhaus zeigen sich auf Anfrage irritiert. 13 Prozent? „Die Zahl ist Unfug“, sagt der Leiter der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Uniklinikum, Prof. Dr. Rainer Kimmig. Die Uniklinik hatte 2020 eine Sectio-Quote von 36,5 Prozent. Auch weil das Haus „eine relevante Anzahl von Mehrlings- und Frühgeburten hat, bei denen eine Sectio angewendet wird“.

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„Wir liegen im Landesschnitt um die 30 Prozent“, heißt es bei Krupp knapp. Das Elisabeth-Krankenhaus wiederum hat wie die Uniklinik ein Perinatalzentrum (Level 1), das Risikoschwangerschaften betreut. Dass Essens größte Geburtsklinik mit 32 Prozent Sectio-Rate trotzdem nur wenig über Landesschnitt liegt, wertet die Chefärztin der Frauenklinik, Dr. Daniela Reitz, als gutes Zeichen.

„Ich frage mich, warum im Statistischen Landesamt so krasse Ausreißer nicht aufgefallen sind“, sagt Daniela Reitz, Chefärztin der Frauenklinik im Essener Elisabeth-Krankenhaus.
„Ich frage mich, warum im Statistischen Landesamt so krasse Ausreißer nicht aufgefallen sind“, sagt Daniela Reitz, Chefärztin der Frauenklinik im Essener Elisabeth-Krankenhaus. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Wenn Frauen große Ängste hätten, könne es auch mal einen Wunsch-Kaiserschnitt am Elisabeth-Krankenhaus geben. Grundsätzlich tue das Team alles, um Müttern, die es wünschen, eine natürliche Entbindung zu ermöglichen. „Die Hebammen legen sich ins Zeug, begleiten die Frauen sehr engagiert“, sagt Reitz. Eine Sectio-Rate von nur 13 Prozent sei dennoch völlig unrealistisch. Auch die 18 Prozent, die IT.NRW für 2018 für Essen meldete, hält sie für einen Irrtum. Sie frage sich, warum IT.NRW so „krasse Ausreißer“ nicht aufgefallen seien.

Statistiker rechneten auf mangelhafter Datenbasis

Claudia Key, Pressesprecherin des Statistischen Landesamtes IT.NRW erklärt das so: „Eine der noch vier Entbindungsstationen in Essen lieferte uns für das Jahr 2020 eine aus unserer Sicht plausible Zahl von Entbindungen, bezifferte die Zahl der Kaiserschnitte dabei aber auf einige wenige Fälle.“ Nachgehakt habe man nicht. „Da es coronabedingt oder aus anderen Gründen in anderen Städten zeitweise längere Schließungen von Geburtsstationen gegeben hatte, erschienen uns auch dort Zahlen nicht plausibel. Wir können da nicht in jedem Fall nachfragen, sondern nur die Meldungen so verarbeiten, wie wir diese von den Krankenhäusern geliefert bekommen. So ist es auch mit den Essener Zahlen geschehen.“

Vierte Essener Geburtsklinik wurde im Jahr 2020 abgewickelt

IT.NRW sagt, ein Essener Krankenhaus habe für 2020 fast gar keine Kaiserschnitte gemeldet; aus Datenschutzgründen verrät das Statistische Landesamt nicht, welches. Selbst wenn das damals abgewickelte Marienhospital keinen Kaiserschnitt gemeldet hätte, käme man stadtweit nicht auf eine Sectio-Quote von 13 Prozent, wie sie IT.NRW nennt.

Denn: Im Elisabeth-Krankenhaus gab es 2020 bei 2877 Geburten 931 Kaiserschnitte: Der Sectio-Anteil lag hier also wie im Vorjahr also bei gut 32 Prozent. Das Krupp-Krankenhaus hatte gut 30 Prozent.

In der Uniklinik stieg die Kaiserschnitt-Rate von 34 Prozent (2019) auf 36,5 Prozent im Jahr 2020. 2021 waren es gar 42 Prozent: Durch den Hebammen-Mangel und Corona seien viele „normale“ Geburten weggefallen, während die (geplanten) Kaiserschnitte bei Risikoschwangerschaften fast alle durchgeführt wurden. Dadurch habe sich der Sectio-Anteil erhöht, erklärt der Leiter der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Uniklinikum, Prof. Dr. Rainer Kimmig.

Also wanderte der auf der falschen Datenbasis berechnete Wert weiter. Denn: „An bundesweit festgelegten Terminen müssen wir die Arbeiten abschließen und die Ergebnisse der Krankenhausstatistik an das Statistische Bundesamt (Destatis) weiterleiten. Die dorthin gemeldete und bereits von verschiedenen Stellen genutzte und veröffentlichte Kaiserschnittrate von 13 Prozent für Essen können wir dann nicht mehr ändern“, sagt Key. Dieser Logik folgend wurde die verblüffende Zahl auch per Pressemitteilung verbreitet.

Mitarbeiter für nicht plausible Werte sensibilisieren

Sollte das Krankenhaus, das die mutmaßlich fehlerhaften Daten geliefert hat, jetzt eine Korrekturmeldung schicken, wird IT.INRW in künftigen Veröffentlichungen darauf hinweisen, dass der Wert für 2020 korrigiert werden musste. Wenn nicht, gebe es „keine Konsequenzen“. Sprich: Der falsche Wert wird einfach fortgeschrieben. Dabei wirbt das Amt selbstbewusst: „IT.NRW als Statistisches Landesamt erhebt und veröffentlicht zuverlässige und objektive Daten.“ Man sei dabei allerdings darauf angewiesen, „dass die Auskunftgebenden richtige und vollständige Daten liefern. Dazu sind sie gesetzlich verpflichtet“, heißt es in der Pressestelle.

„Die Zahl ist Unfug“, sagt der Leiter der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Uniklinikum Essen, Prof. Dr. Rainer Kimmig, zu der von IT.NRW genannten Kaiserschnitt-Rate für Essen.
„Die Zahl ist Unfug“, sagt der Leiter der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Uniklinikum Essen, Prof. Dr. Rainer Kimmig, zu der von IT.NRW genannten Kaiserschnitt-Rate für Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Müssten die Mitarbeiter aber nicht auch auffällige Zahlen hinterfragen? Wie bei der Essener Kaiserschnittquote 2018, als es erstmals einen extrem niedrigen Wert gab? Die damaligen Zahlen hätten plausibel gewirkt, sagt IT.NRW-Sprecherin Key. Die Reaktionsschwelle im Amt scheint eher hoch zu sein: „Wir würden stutzig werden, wenn uns ein Krankenhaus mit Geburtshilfe keine Kaiserschnittgeburten melden würde.“ Allerdings wolle man die Mitarbeiter nun „sensibilisieren, um die Qualität der statistischen Ergebnisse durch zusätzliche Rückfragen zu erhöhen“.