Alle Sommer wieder: In Schwedens Spitälern herrscht der Ausnahmezustand

Übervolle Notaufnahmen, erschöpftes Personal und monatelange Wartezeiten – Schwedens Gesundheitswesen ist im Sommer am Anschlag. Dieses Jahr ist die Situation besonders schlimm, obwohl es weder an Geld noch an Personal fehlt.

Ingrid Meissl Årebo, Stockholm
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«Gesundheitsleistungen in Weltklasse» verspricht die schwedische Regierung ihren Bürgerinnen und Bürgern. Doch Schwedens Spitäler, hier das Karolinska-Spital in Stockholm, sind chronisch überlastet.

«Gesundheitsleistungen in Weltklasse» verspricht die schwedische Regierung ihren Bürgerinnen und Bürgern. Doch Schwedens Spitäler, hier das Karolinska-Spital in Stockholm, sind chronisch überlastet.

A. Farnsworth / Imago

Als Stefan Olsson Ende Juli nach den Ferien an seinen Arbeitsplatz im Spital Danderyd zurückkehrte, traf ihn fast der Schlag: Auf der Notaufnahme von Stockholms drittgrösstem Krankenhaus herrschte ein Chaos, wie es der Krankenpfleger in 25 Jahren nie erlebt hatte. Statt wie üblich 2 bis 10 Patientinnen und Patienten hätten 97 Personen auf der Abteilung gelegen, sagte Olsson der Zeitung «Svenska Dagbladet». Längst nicht alle Fälle waren akut: 41 Personen warteten auf die Verlegung in andere Stationen, unter ihnen viele ältere Patienten mit labilem Gesundheitszustand und hohem Pflegebedarf.

Dass der Krankenpfleger mit vollem Namen über die «unwürdigen und unmenschlichen Zustände» spricht, gehört in Schweden zu den Ausnahmen. Doch die meisten seiner Kollegen würden die Kritik teilen, versichert der 61-Jährige, der mit der Kündigung liebäugelt. Die Spitalleitung zeigt Bedauern und versichert, sie tue alles, um die langen Wartezeiten auf der Notaufnahme zu verkürzen. Ein Grund für die akute Lage seien die «überraschend vielen Covid-Patienten».

So schlimm wie nie zuvor

Die steigende Zahl von Covid-Fällen hat die Lage im Gesundheitswesen zwar verschärft, nicht aber ausgelöst. Spitalkrisen gehören seit Jahren zum schwedischen Sommer wie frisch gepflückte Erdbeeren, Mücken und taghelle Nächte. 2022 ist die Situation allerdings eskaliert. Neben vollen Notaufnahmen, erschöpftem Personal, geschlossenen Abteilungen sowie in Gängen «parkierten» Patienten sorgen monatelange Wartezeiten für Termine beim Spezialisten, aufgeschobene Operationen sowie eine Kündigungswelle bei Hebammen für Schlagzeilen.

Viele Pflegekräfte sind nach den Anstrengungen der Corona-Pandemie erschöpft und frustriert.

Viele Pflegekräfte sind nach den Anstrengungen der Corona-Pandemie erschöpft und frustriert.

Fredrik Lerneryd / Getty

Anfang Juli übte die staatliche Gesundheitsinspektion scharfe Kritik am Spital Danderyd sowie am Södersjukhuset im Süden der Hauptstadt, weil sie zu wenige Pflegeplätze anböten und so die Sicherheit der Patienten gefährdeten. Vom Slogan, der Bevölkerung «Gesundheitsleistungen in Weltklasse» zu bieten, ist Stockholm weit entfernt.

In anderen Regionen ist es nicht besser. Im dünnbesiedelten Norrbotten, das ein Viertel der Landesfläche abdeckt, gilt höchste Krisenbereitschaft. Ein offener Brief der Ärzte des Spitals Lulea erzwang jüngst den Rücktritt der politisch Verantwortlichen. Die Spitalleitung entschied derweil, bis Ende August alle geplanten Operationen abzusagen, um Plätze für Notfälle freizuhalten. Rund 200 Patienten werden für Krebsoperationen oder orthopädische Eingriffe ins 900 Kilometer entfernte Stockholm geflogen.

Laut der Fachzeitung «Dagens Medicin» war diesen Sommer eines von fünf Spitalbetten temporär nicht nutzbar. Dabei war die Versorgungskapazität schon zuvor gering. Mit nur 2,1 Betten pro 1000 Einwohner lag Schweden 2019 am Ende aller EU-Länder, die im Durchschnitt 5,3 Betten anboten.

Im vergangenen Jahrzehnt haben Schwedens Spitäler die Bettenkapazität um ein Viertel abgebaut. Dies muss nicht negativ sein: Der medizinische Fortschritt, neue Methoden und Abläufe erlauben es, Patienten rascher oder ambulant zu behandeln und so den Bettenbedarf zu reduzieren. In Schweden sind diese Rationalisierungen jedoch zu weit gegangen. Während die Spitalbetten Anfang des Millenniums zu 80 Prozent belegt waren, sind heute die meisten Pflegeplätze fast permanent besetzt. Kommt es zu ferienbedingten Engpässen oder zu einer Pandemie, besteht kein Spielraum mehr.

Die Alarmglocken läuten schon lange

Die jüngste Krise in Schwedens Spitälern war also absehbar. Viele Regionen versuchten, das Pflegepersonal mit saftigen Boni zu verlocken, ihre Sommerferien zu verschieben. Der Erfolg war gering: Erschöpft nach zwei Pandemiejahren, wollten nur wenige Angestellte ihre Ferien «verkaufen». Laut schwedischem Feriengesetz haben Arbeitnehmende das Recht, zwischen Juni und August drei oder vier Ferienwochen am Stück zu nehmen. Da dieses Jahr auch die Lust von Pensionären, Medizinstudenten und angehenden Pflegefachkräften gering war, noch einmal einzuspringen und die Krise zu mildern, blieben vielen Spitälern und Arztpraxen nur Kapazitätsreduktionen.

Lange Arbeitstage, konstante Überstunden: Viele Pflegekräfte verlassen das Gesundheitswesen oder wechseln zu privaten Anbietern.

Lange Arbeitstage, konstante Überstunden: Viele Pflegekräfte verlassen das Gesundheitswesen oder wechseln zu privaten Anbietern.

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Dies rüttelt an den Grundfesten des schwedischen Wohlfahrtsstaates, der den Bürgern gleichwertigen Zugang zum grösstenteils steuerfinanzierten Gesundheitswesen verspricht. Die sogenannte Pflegegarantie ist vielerorts ein hohles Versprechen geworden. Gemäss dieser sollen die Einwohner innert einem Tag Kontakt mit der Allgemeinpraxis und innert drei Tagen einen Termin erhalten, um, falls nötig, innert 90 Tagen operiert oder von einem Spezialisten behandelt zu werden. Im Juni wurde diese Pflegegarantie nur in sechs von zehn Fällen erfüllt; über 143 000 Patienten warteten auf weiterführende Behandlungen.

Dies sind keine guten Nachrichten für die Regierung kurz vor den Parlamentswahlen am 11. September. Die Lösung der Gesundheitskrise gehört zu den wichtigsten Anliegen der Bevölkerung. Die regierenden Sozialdemokraten haben kürzlich mehr Geld freigemacht, um der Schlangen vor den Operationssälen und bei den Spezialisten Herr zu werden. Sie gehen mit dem Versprechen in den Wahlkampf, dass die Bürger künftig das Recht auf einen festen Hausarzt haben sollen (was bisher nur jedem Dritten vergönnt ist). Auch die Opposition zeigt auf die Flaschenhälse bei der Grundversorgung. Sie will den Ansturm auf die Notaufnahmen mit längeren Öffnungszeiten der Allgemeinpraxen mindern.

Regierung und Parlament sind allerdings die Hände gebunden. Dem Staat obliegt zwar die oberste Verantwortung für die Koordination des Gesundheitswesens, für die gesundheitliche Grundversorgung und die öffentlichen Krankenhäuser sind jedoch die 21 Regionen zuständig. Schwedens Gemeinden wiederum führen die öffentlichen Alters- und Pflegeheime sowie die Spitex. Diese komplexe Struktur erklärt die enormen Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsleistungen. Bei einer Krebsdiagnose bestimmt oft die Wohnregion, wie rasch ein Patient weiterbehandelt wird – und damit dessen Überlebenschance.

Administration und Dokumentation rauben viel Zeit

Die mehrstufigen Kompetenzen sind auch mitschuldig an der enormen Bürokratie, die dem Pflegepersonal das Leben schwermacht. Ärzte müssen während Konsultationen mehrere Dokumentationen erstellen. Bei einem Beinbruch etwa sind die Patientendaten nicht nur ins eigene Dossier einzutragen, sondern auch dem Röntgenteam und der Chirurgie mitzuteilen, die über jeweils eigene IT-Systeme verfügen. Bevor sich der Arzt dem nächsten Patienten widmen kann, sind oft Einträge in nationale Register, Statistiken und für Forschungszwecke vorzunehmen.

Schwedens Parteien sind sich einig, dass die ineffiziente Verwaltung und die inkompatiblen IT-Systeme das Gesundheitswesen lähmen – wie eine Lösung aussehen könnte, ist dagegen weniger klar. Regierung, Regionen und Gemeinden schieben sich gegenseitig die Schuld zu.

Ein politischer Dauerbrenner ist die Privatisierung von Gesundheitsleistungen. Seit der Deregulierung des schwedischen Wohlfahrtsstaats in den achtziger Jahren haben sich viele private Anbieter etabliert. Stockholm hat mit 4000 privaten Praxen, Kliniken, Spezialisten und Therapeuten Leistungsverträge abgeschlossen – bietet also den Einwohnern die Wahl, sich auf Kosten des Staates von öffentlichen oder privaten Anbietern behandeln zu lassen. Dies fördert zwar den Wettbewerb, verursacht aber auch viel Bürokratie. Die gewinnorientierten Anbieter sind den Sozialdemokraten zwar ein Dorn im Auge, doch haben sie deren Etablierung nicht stoppen können.

Bald soll es wieder vorwärts gehen: Die Corona-Pandemie hat einen Ansturm auf Pflegeberufe ausgelöst.

Bald soll es wieder vorwärts gehen: Die Corona-Pandemie hat einen Ansturm auf Pflegeberufe ausgelöst.

Fredrik Lerneryd / Getty

Mehr Geld und mehr Köpfe sind nicht die Lösung

Dass das Gesundheitswesen ineffizient arbeitet, zeigt ein Blick in die Statistiken. Gemäss Eurostat steckte Schweden 2019 ganze 10,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts in das Gesundheitswesen; mehr war es nur in Deutschland und Frankreich. Der EU-Schnitt liegt bei 9,9 Prozent.

Auch an Fachpersonal mangelt es nicht. Schwedens Ärzteanteil ist ähnlich hoch wie in der Schweiz, und bei der Zahl der Krankenpfleger im Verhältnis zur Bevölkerung liegt Schweden im europäischen Vergleich auf Platz vier. Frustriert über lange Arbeitstage, konstante Überstunden, gestrichene Ferien, mieses Betriebsklima und schlechte Lohnentwicklung haben viele Fachkräfte jedoch den Gesundheitssektor verlassen oder sind zu einem privaten Arbeitgeber gewechselt.

Besonders beliebt sind Personalvermittler, die mit guten Löhnen und geregelten Arbeitszeiten locken. So kann eine Krankenschwester temporär bei ihrem früheren öffentlichen Arbeitgeber zu viel besseren Konditionen als die Kollegen zum Einsatz kommen. Obwohl rein mathematisch genügend Fachkräfte vorhanden sind, fehlt es den Regionen an spezialisiertem Personal wie Hebammen, Röntgen- oder Intensiv-Krankenschwestern, aber auch an Pflegeassistenten.

Die Zukunft sieht etwas heiterer aus, hat die Corona-Pandemie doch einen Ansturm auf die Pflegeberufe ausgelöst. Seit zwei Jahren werden an den Hochschulen so viele Mediziner und Pflegefachkräfte ausgebildet wie nie zuvor. Die Studierenden wurden von den Negativschlagzeilen also nicht abgeschreckt. Damit sie später auch bereit sind, in ihrem Beruf zu arbeiten, muss der öffentliche Gesundheitssektor aber rasch für bessere Arbeitsbedingungen sorgen.

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