13 Stunden hat Annette Fury zum Jahreswechsel auf einen Krankenwagen gewartet, nachdem sie unter Krampfanfällen im Zusammenhang mit einer Hirnhautentzündung gelitten hatte. In der Notfallambulanz in einem Krankenhaus in den britischen West Midlands vergingen weitere zwölf Stunden, bevor sie endlich untersucht wurde. „Es war wie eine Szene aus einem Kriegsfilm“, sagte sie der BBC. „Menschen saßen auf dem Boden, auf Krankenhausliegen, überall. Es war schrecklich.“
Andrew Macfarlanes 90 Jahre alte Mutter musste mehr als 30 Stunden auf einen Krankenwagen warten, nachdem sie an Silvester gestürzt und sich an der Hüfte verletzt hatte. Mit Scharlach und Krupphusten verbrachte die dreijährige Heidi Hook in Oxford eine Nacht auf zwei zusammengeschobenen Plastikstühlen im Wartebereich des Krankenhauses, bevor sich jemand um sie kümmern konnte.
In Shropshire lag ein Patient für 30 Stunden im Krankenwagen vor dem Hospital, bevor er medizinische Hilfe bekam. Anderswo warten bereits aufgenommene, schwer kranke Patienten viele Stunden, bevor ihnen ein freies Bett zugewiesen werden kann. Als Rekord gilt eine Wartezeit von 99 Stunden – mehr als vier Tage – in Swindon.
Es hat schon Tradition: Jahr für Jahr wird im staatlichen britischen Gesundheitssystem National Health Service (NHS) eine Winterkrise ausgerufen. Lange waren es die Grippefälle, in den vergangenen Jahren dann Covid, die dafür sorgten, dass zum Jahresanfang deutlich mehr Menschen ärztlicher Hilfe bedurften, aber nicht genug Pfleger, Ärzte, Krankenhausbetten bereitstanden.
Doch dieses Jahr ist alles noch viel schlimmer. Akutpflege und Notfallmedizin stehen vor dem Kollaps. Es fehlen Personal, Betten, Krankenwagen.
Mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen: Am Wochenende schätzte Adrian Boyle, Präsident des Royal College of Emergency Medicine (RCEM), dass die Verzögerungen in der Notfallversorgung jede Woche 300 bis 500 Menschenleben kosten dürften.
Britische Notaufnahmen in der Krise
Viele Notaufnahmen steckten „in einer absoluten Krise“, warnte sein Stellvertreter Ian Higginson. Ärzte seien längst nicht mehr in der Lage, den Versorgungsstandard zu bieten, den sie sich wünschen würden. Als „untragbar“ bezeichnete auch Phil Banfield, Vorsitzender der Ärztegewerkschaft British Medical Association, die Lage im Gesundheitswesen.
„Für viele Menschen wird es diesen Winter sehr schwierig werden, die Dienste des NHS in Anspruch zu nehmen“, räumte auch ein Sprecher von Premierminister Rishi Sunak ein. In einer Rede zu den wichtigsten Zielen für das beginnende Jahr versprach der Premier aber, die Wartezeiten deutlich zu reduzieren und den Zugang zur Krankenversorgung deutlich zu verbessern.
Vor allem Covid und die Grippewelle würden den NHS unter massiven Druck setzen, sagte Gesundheitsminister Steve Barclay. Ende Dezember waren laut NHS-Daten 3746 Grippepatienten in den englischen Krankenhäusern untergebracht, siebenmal so viele wie einen Monat zuvor.
Die Zahl der stationär behandelten Covid-Patienten hat sich in der gleichen Zeit auf 9500 fast verdoppelt. Zudem treffen die Erkrankungen auch das medizinische Personal, mit entsprechenden Fehlzeiten.
Um den Druck nicht weiter zu erhöhen, sollten Eltern ihre Kinder mit Erkältungskrankheiten und Fieber nicht in die Schule schicken, sagte Susan Hopkins von der Gesundheitsbehörde UK Health Security Agency.
Auch Erwachsene sollten möglichst zu Hause bleiben, wenn es ihnen nicht gut gehe. Wenn es sich nicht vermeiden lasse, nach draußen zu gehen, sollten sie zum Schutz eine medizinische Maske tragen.
Großbritannien fehlt ein staatliches Pflegesystem
Doch die Krankheitswelle ist längst nicht der einzige Grund für die prekäre Lage des NHS. Hinzu kommen die Folgen der Pandemie, Streiks im Gesundheitswesen, vor allem aber zehn Jahre, in denen nicht genug in den NHS investiert worden sei, sagte Siva Anandaciva, Analyst beim King’s Fund, einer Denkfabrik zu Gesundheitsfragen. In dieser Gemengelage brauche es nicht viel, um das gesamte System zum Einsturz zu bringen.
Zu den größten Problemen gehöre ein Mangel an Krankenhausbetten, sagte Notfallmediziner Boyle vom RCEM. Für 1000 Einwohner stehen im Land nur 2,5 Betten zur Verfügung. Zum Vergleich: In Deutschland sind es knapp acht, in Frankreich 5,5.
Noch deutlich verschärft wird die Lage dadurch, dass derzeit jedes siebte Bett belegt ist von Patienten, für die kein medizinischer Grund mehr besteht, im Krankenhaus versorgt zu werden. Die meisten von ihnen, hauptsächlich ältere Menschen, können nicht entlassen werden, weil Pflegeeinrichtungen fehlen, in denen sie angemessen versorgt werden können.
Bis heute fehlt im Land ein staatliches Pflegesystem. Für Bedürftige verfügen Städte und Kreise über ein Budget zur Finanzierung. Die Mehrzahl der Briten muss indes im Pflegefall selbst für die Kosten aufkommen. Immer wieder haben die konservativen Regierungen in den vergangenen Jahren angesichts der Alterung der Gesellschaft Abhilfe versprochen. Fortschritte gibt es bisher keine.
Sunaks Vorvorgänger im Amt Boris Johnson hatte mit einer geplanten Erhöhung der Sozialversicherung zwar einen Anfang gemacht. Die Abgabe wurde aber unter der Nachfolgeregierung wieder kassiert.
Personalprobleme im britischen Gesundheitssystem
Geplagt wird der NHS auch von erheblichen Personalproblemen. Jahre der Austeritätspolitik haben zu einem Rückgang der Realeinkommen von Pflegekräften, Krankenwagenfahrern, Ärzten im Praktikum und anderen Beschäftigten geführt.
Im Dezember hat die Gewerkschaft der Pflegekräfte daher zum ersten Mal in mehr als 100 Jahren seit Bestehen zum Streik aufgerufen. In den kommenden Wochen wird es zu weiteren Ausständen kommen.
Hinzu kommt eine verfehlte Rentenreform für Ärzte, außerdem seit Jahren eine für viele NHS-Angestellte eine erhebliche Arbeitsbelastung. Zusammengenommen bedeuten diese Entwicklungen, dass viel ausgebildetes Personal den NHS verlässt, aber nicht genug Pfleger und Ärzte nachkommen.
Schließlich leidet das System unter einem Investitionsrückstau, der sich seit Jahren aufgebaut hat. Zwischen 2010 und 2019 blieben die Ausgaben für das Gesundheitssystem laut Daten der Health Foundation um 21 Prozent hinter dem Schnitt der 14 EU-Staaten zurück, die vor 2004 der Union angehörten.
In Deutschland wurde in dem Zeitraum sogar 39 Prozent mehr investiert. Diese fehlenden Investitionen machen sich längst überall bemerkbar, nicht nur bei neuen Krankenhäusern, sondern auch bei deren Ausstattung mit medizinischen Geräten.
Sunak versprach in seiner Rede zum Jahresbeginn, er werde nicht an dem Grundprinzip rütteln, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung für Patienten kostenlos bleibe. Wie er die erheblichen Wartezeiten verkürzen will, führte er nicht aus.
Doch die Frage wird auch politisch immer wichtiger. Die Zustimmung der Bevölkerung zum Umgang mit dem NHS ist seit den Anfangstagen der Pandemie von –3 auf –73 gefallen, zeigt eine aktuelle Umfrage der Meinungsforscher von YouGov.
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