L 2 KR 488/18

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Gotha (FST)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 50 KR 250/17
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 2 KR 488/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Der für 2014 geltende OPS 1-910 (Multidisziplinäre algesiologische Diagnostik) erfordert die Mitarbeit von mindestens zwei Fachdisziplinen (davon eine psychiatrische, psychosomatische oder psychologisch-psychotherapeutische Disziplin).

2. Die Mitarbeit der psychologisch-psychotherapeutischen Disziplin im Sinne des OPS 1-910 (2014) ist nur dann gegeben, wenn ein approbierter Psychologischer Psychotherapeut in das konkrete Behandlungsgeschehen eingebunden ist. Die alleinige Beteiligung eines nicht approbierten Diplom-Psychologen reicht dafür nicht aus.

3. Sind die strukturellen Mindestvorgaben des OPS nicht erfüllt, besteht ein entsprechender Vergütungsanspruch nicht, auch wenn die veranlassten Maßnahmen für sich genommen lege artis durchgeführt wurden.

Nicht rechtskräftig (die Klage wurde nachträglich zurückgenommen)

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 9. März 2018 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 1.859,91 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für eine stationär durchgeführte interdisziplinäre algesiologische Diagnostik.

Die Klägerin betreibt ein nach § 108 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) zugelassenes Krankenhaus. Der bei der Beklagten versicherte L U N, geboren 1964 (nachfolgend Versicherter), wurde zur Durchführung einer interdisziplinären algesiologischen Diagnostik in der Zeit vom 8. Juli 2014 bis zum 10. Juli 2014 in das Krankenhaus der Klägerin stationär aufgenommen. Der Versicherte beklagte seit 1992 Rückenschmerzen, seit 2007 stärker werdend, ab 2011 als Dauerschmerz. Es bestanden weiterhin Schmerzen in den großen Gelenken sowie phasenweise heftige Knie- und Kreuzschmerzen beidseits ausstrahlend in das Gesäß und den dorsalen Oberschenkel. Ferner bestand eine hochchronifizierte multilokuläre Schmerzerkrankung MPSS Stadium 3 mit ausgeprägter schmerzbedingter Beeinträchtigung (Korff III). Diagnostiziert wurden ferner eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, chronischer Rückenschmerz, myofasziale Schmerzkomponente LWS und Schulter-Nackenbereich, eine leichtgradige depressive Episode. Es bestand ein Zustand nach zweifacher Bandscheibenimplantation lumbal, eine Dauertherapie mit Opioiden, ein gemischt zentral-obstruktives Apnoe-Syndrom mit CPAP-Versorgung sowie eine Faktor VIII-Funktionsstörung mit Lungenembolie im September 2011 sowie fokale Epilepsie DD medikamentenindiziert. Die stationäre Aufnahme des Versicherten in das Krankenhaus der Klägerin erfolgte aufgrund einer Empfehlung des Universitätsklinikums G, in dem sich der Versicherte im April 2014 zur stationären Behandlung befunden hatte.

Mit Rechnung vom 18. Juli 2014 rechnete die Klägerin für die Behandlung des Versicherten einen Betrag in Höhe von 1.889,91 € abzüglich 30,00 € Zuzahlung ab. Die Rechnung wurde von der Beklagten zunächst beglichen.

Nachdem die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einer Prüfung des Behandlungsfalls beauftragt und dieser mit Stellungnahme vom 30. September 2014 mitgeteilt hatte, dass Unterlagen des Krankenhauses nicht eingegangen seien, verrechnete sie am 10. November 2014 einen Betrag in Höhe von 1.859,91 € mit anderen Forderungen der Klägerin.

Nach Vorlage von Unterlagen zum streitigen Behandlungsfall beim MDK gelangte dieser mit Stellungnahme vom 5. Februar 2015 zu der Einschätzung, dass beim Versicherten keine Notwendigkeit für eine stationäre Aufnahme bestanden habe. Die erforderliche Diagnostik hätte durch niedergelassene Vertragsärzte erbracht werden können. Den Unterlagen seien weder medizinische noch sonstige Gründe zu entnehmen, aufgrund derer die Erforderlichkeit der Durchführung der Diagnostik unter stationären Bedingungen nachvollziehbar sei.

Am 23. Januar 2017 hat die Klägerin Klage erhoben und von der Beklagten die Zahlung von 1.859,91 € begehrt. Der MDK verkenne, dass das Beschwerdebild chronischer Schmerzpatienten nicht nach der in der Gesundheitsversorgung vorherrschenden diagnostischen Vorgehensweise mit symptombezogener Anamnese und Untersuchung sowie weitem Überwiegen apparativer Diagnostik erfasst werden könne. Anders als die sonst übliche rein medizinische bzw. monodisziplinäre Diagnostik werde das schmerztherapeutische interdisziplinäre Assessment daher durch ein interdisziplinäres Untersuchungsteam in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang gemeinsam erbracht. Es beinhalte die erweiterte ärztliche Diagnostik, die körperlich funktionelle Diagnostik und die psychologisch-psychotherapeutische Diagnostik sowie die soziale Anamnese und werde nach interdisziplinärer Teambesprechung unter Einbeziehung aller beteiligten Disziplinen durch ein Patientengespräch abgeschlossen. Die bei dem Versicherten durchgeführten Untersuchungen seien in ambulanter Form nicht innerhalb so kurzer Zeit realisierbar gewesen. Ausweislich des Arztbriefes seien neben den üblichen sehr umfangreichen Untersuchungen in den Bereichen Schmerztherapie, Physiotherapie und Psychologie noch verschiedene Untersuchungen, wie Röntgendiagnostik sowie eine konsiliarische wirbelsäulenchirurgische und orthopädische Untersuchung, vorgenommen worden. An dieser Vorgehensweise werde deutlich, dass hier gerade habe geleistet werden können, was im ambulanten Bereich nicht denkbar gewesen sei, nämlich eine interdisziplinäre Abstimmung und Diskussion der Befunde und sofortige weitere Untersuchung zur Konkretisierung des Befundes. Der Patient habe unter fokaler Epilepsie, obstruktiver Schlafapnoe sowie Faktor VIII-Störung mit Zustand nach Lungenembolie 2011 gelitten. Es habe ein ungeklärter Verdacht auf ein cerebrales Anfallsleiden bestanden. Unter der antihypertensiven Therapie mit Olmesartan seien während des dreitägigen stationären Aufenthalts eher hypotone Blutdruckwerte gemessen worden, es habe Orthostasegefahr bestanden. Es sei die dringende Notwendigkeit einer Therapieintensivierung wegen drohender Arbeitsunfähigkeit und wegen Fahruntauglichkeit unter der medikamentösen Therapie bei ungeklärtem Anfallsleiden gegeben gewesen. Der Versicherte habe vielfältige ambulante Diagnostik sowie Operationen und medikamentöse Therapieversuche hinter sich. 2012 sei er zweimal stationär in der Schmerztherapie in der Klinik in H und im März 2014 in der Tagschmerzklinik der Uni G gewesen. In der letzteren sei ihm eine multimodale stationäre Schmerztherapie mit dem Ziel des Opioidentzuges in dem Zentrum für interdisziplinäre Schmerztherapie im Haus der Klägerin empfohlen worden. Beim Versicherten sei aufgrund der Dauertherapie mit Opioiden dringend die algesiologische Diagnostik indiziert gewesen. Im Vorfeld der streitigen Behandlung habe der Versicherte auch mehrfach Schmerztherapeuten konsultiert. Es sei nicht vorgetragen worden, dass der Versicherte ambulant austherapiert gewesen sei, sondern, dass die vorigen unimodalen Therapieansätze fehlgeschlagen seien. Dies sei auch das Kriterium des OPS 1-910. Dieser erfordere nicht, dass alle denkbar möglichen ambulanten Maßnahmen versucht worden seien, sondern dass sich beim Patienten gezeigt habe, dass die ambulanten unimodalen Behandlungsansätze im konkreten Behandlungsfall nicht zielführend seien.

Dem ist die Beklagte im Wesentlichen mit der Begründung entgegengetreten, dass die Notwendigkeit einer stationären Aufnahme nicht bestanden habe, da die durchgeführte Diagnostik und Behandlung ambulant durchführbar gewesen sei. Der Versicherte habe sich in einem ausreichend guten Allgemeinzustand befunden. Schwerwiegende Begleiterkrankungen hätten nicht vorgelegen. Die ambulanten Möglichkeiten seien nicht ausgeschöpft worden.

Das Sozialgericht Gotha hat zur Frage der medizinischen Notwendigkeit der Durchführung der interdisziplinären Schmerzdiagnostik ein medizinisches Gutachten des H-R C eingeholt. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 63ff. der Gerichtsakte Bezug genommen.

Mit Urteil vom 9. März 2018 hat das Sozialgericht Gotha die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 1.859,91 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10. November 2014 zu zahlen. Zur Überzeugung der Kammer habe aufgrund des gerichtlichen Sachverständigengutachtens und der in den Akten vorliegenden Unterlagen festgestanden, dass zur Durchführung eines algesiologischen Assessments die Aufnahme in vollstationäre Krankenhausbehandlung aus medizinischen Gründen erforderlich gewesen sei. Im Gutachten werde zwar in großen Teilen formelhaft und kaum einzelfallbezogen die Zielsetzung der interdisziplinären Schmerzdiagnostik geschildert und dabei die Notwendigkeit der Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang betont. Der Sachverständige habe aber auch in Übereinstimmung mit anderen sachverständigen Einschätzungen dargelegt, dass das schmerzdiagnostische Assessment zur Prüfung der Indikationsstellung erfolgt sei, ob eine multimodale Schmerztherapie angezeigt sei, und dies für den Versicherten als in Betracht kommende Möglichkeit gesehen. Zur Begründung habe er dabei zum einen das beim Versicherten bestehende komplexe Beschwerdebild herangezogen, das von vielfachen Schmerzlokalisationen und möglichen Schmerzursachen geprägt gewesen sei. Trotz Operation an der Wirbelsäule, Rehabilitation, schmerztherapeutischer stationärer Behandlung und sich kontinuierlich steigernder Medikamenteneinnahme hätten seit Jahren Beschwerdepersistenz und eine unklare Beschwerdekonstellation sowie gravierende Begleiterkrankungen bestanden. Dies rechtfertige nachvollziehbar die Notwendigkeit einer interdisziplinären Diagnostik unter stationären Bedingungen anstelle der Beibehaltung und Fortführung ambulanter Behandlungs- und Diagnoseversuche, die bislang erfolglos geblieben seien.

Am 20. April 2018 hat die Beklagte gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 29. März 2018 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Dass das Sozialgericht auf der Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens eine stationäre Behandlungsbedürftigkeit bejaht habe, sei nicht nachvollziehbar. Es seien keinerlei medizinische Gründe erkennbar, die tatsächlich eine stationäre Behandlungsnotwendigkeit begründen würden. Allein die Tatsache eines komplexen Beschwerdebildes schließe nicht per se eine ambulante Behandlung aus. Auch die bei dem Versicherten angeblich bestehenden Begleiterkrankungen seien nicht hinreichend belegt, vielmehr habe er sich in einem guten Allgemeinzustand befunden und allein gelebt. Es sei daher nicht verständlich, weshalb das Sozialgericht eine ambulante Behandlung für nicht möglich und nicht zumutbar halte. Auch das Schon- und Vermeidungsverhalten des Versicherten aus Angst vor einer Schmerzverschlimmerung könne nicht dazu führen, dass die Behandlung nur unter vollstationären Bedingungen möglich erscheine. Das Sozialgericht habe seine Pflicht zur Amtsermittlung verletzt, indem es sich ohne weiteres über die zu einem anderen Ergebnis kommenden Gutachten des MDK hinweggesetzt habe. Ferner gehe es irrigerweise davon aus, dass bei dem Versicherten die ambulanten Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft gewesen seien. Auf die typische Argumentation der Krankenhäuser, dass die bisherige ambulante Behandlung fehlgeschlagen sei, komme es gar nicht an. Entscheidend für die Frage der stationären Behandlungsbedürftigkeit sei, ob die nun notwendig werdenden diagnostischen und/oder therapeutischen Maßnahmen nur stationär durchgeführt werden könnten. Seien die Behandlungsmaßnahmen ambulant möglich, spiele es keine Rolle, ob ambulante Maßnahmen bisher fehlgeschlagen seien. Eine diagnostische und/oder therapeutische Maßnahme erziele stationär dieselbe Wirkung wie unter ambulanten Bedingungen. Es sei an der Klägerin gewesen darzulegen, dass die durchgeführte Maßnahme ambulant nicht erbringbar gewesen sei. Dieser Nachweis sei nicht erbracht worden.

Die Notwendigkeit der stationären Diagnostik lasse sich auch nicht mit einem Verweis auf die Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) „Kreuzschmerz“ begründen. Der NVL „Kreuzschmerz“ lasse sich entnehmen, dass eine multidisziplinäre Diagnostik durchaus auch außerhalb des stationären Sektors erbracht werden könne.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 9. März 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist im Wesentlichen der Auffassung, dass die allgemeinen Ausführungen des Sachverständigen zur multidisziplinären algesiologischen Diagnostik im Sinne des OPS 1-910 dringend notwendig gewesen seien, um die Besonderheiten dieser Diagnostik hervorzuheben. Das multidisziplinäre Assessment werde von der NVL „Kreuzschmerz“ bei Patienten nach sechs Wochen Schmerzdauer beim Vorliegen weiterer Faktoren ausdrücklich empfohlen. Auch in der NVL „Kreuzschmerz“ werde darauf hingewiesen, dass eine solche multidisziplinäre Diagnostik eine besondere Versorgungsstruktur voraussetze. Die interdisziplinäre Diagnostik sei kein Aneinanderreihen einzelner ambulanter Arztbesuche, sondern setze ein interdisziplinäres gemeinsam arbeitendes Team voraus. Insoweit sage die NVL „Kreuzschmerz“ auch, dass man ambulant eine solche interdisziplinäre Diagnostik nur in einer vorhandenen geeigneten Versorgungsstruktur umsetzen könne, wo die gemeinsame Beteiligung der Fachdisziplinen gewährleistet sei. Bei der interdisziplinären Diagnostik handele es sich nicht einfach um Diagnostik, die man gut bei einem ambulanten Arzt erhalten könne. Die leitliniengerechte Versorgung benötige eine andere Plattform. Durch das Sozialgericht sei anerkannt worden, dass der Gutachter nach der allgemeinen Beschreibung, konkret bezogen auf den Versicherten, eine Begründung für die stationäre Diagnostik geliefert habe. Dabei habe sich das Sozialgericht auch mit den Argumenten der Beklagten und des MDK auseinandergesetzt. Es habe anerkannt, dass aufgrund des bestehenden Beschwerdebildes mit den vielen unklaren Ursachen eine interdisziplinäre Untersuchung und Befunderhebung mit einer gewissen Dichte und einer engen zeitlichen und räumlichen Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Behandlern erforderlich sei. Das Sozialgericht habe es als nachvollziehbar angesehen, dass eine solche Diagnostik nicht gleich erfolgversprechend unter ambulanten oder tagesklinischen Bedingungen möglich gewesen sei. Dass die in die Behandlung des Versicherten eingebundene B zum Behandlungszeitpunkt ihre Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin noch nicht abgeschlossen hatte, sei ohne Belang. Es sei fraglich, ob die vom Bundessozialgericht im Urteil vom 27. Oktober 2020 (B 1 KR 25/19 R) aufgestellten Grundsätze im vorliegenden Fall überhaupt Relevanz entfalten könnten. Das Bundessozialgericht habe in der Entscheidung ausdrücklich nicht festgestellt, dass bei Nichtvorliegen der Mindestmerkmale des OPS die stationäre Behandlungsbedürftigkeit zur Durchführung der multimodalen Schmerztherapie als nicht gegeben anzusehen sei. Darüber hinaus habe das Bundessozialgericht in einer Konstellation entschieden, in der im Krankenhaus der Klägerin keine psychologische Psychotherapeutin tätig gewesen sei, die die Psychotherapeuten in Ausbildung bei ihrer im Rahmen der Ausbildung durchgeführten praktischen Tätigkeit angeleitet und supervidiert habe. Im streitgegenständlichen Behandlungsfall habe zwar eine Diplom-Psychologin mitgewirkt, die sich in Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin befunden habe. Dies sei jedoch immer unter Verantwortung eines der am Krankenhaus der Klägerin angestellten approbierten psychologischen Psychotherapeuten erfolgt. Es sei daher unschädlich, dass eine sich noch in Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin befindliche Diplom-Psychologin in die Diagnostik beim Versicherten eingebunden gewesen sei.

Der Senat hat zur Frage der stationären Behandlungsnotwendigkeit ein neurologisches Gutachten eingeholt. Zu den Einzelheiten wird auf Blatt 183ff. der Gerichtsakte Bezug genommen. Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Gerichtsakte, die Patientenakte des Versicherten und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der geheimen Beratung des Senat waren.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte, gemäß § 143 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 9. März 2018 erweist sich als fehlerhaft. Es war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat den von ihr geltend gemachten Vergütungsanspruch zulässigerweise mit der echten Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG verfolgt (Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Mai 2020, B 1 KR 26/18 R - zitiert nach juris). Bei der Klage eines Krankenhausträgers auf Zahlung von Behandlungskosten gegen eine Krankenkasse handelt es sich um einen Beteiligtenstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt, kein Vorverfahren durchzuführen und keine Klagefrist zu beachten ist (st. Rspr.; z.B. Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Dezember 2017, B 1 KR 17/17 R, Rn. 8 m.w.N. - zitiert nach juris).

Das Sozialgericht hat die Beklagte jedoch zu Unrecht verurteilt, den mit der Klage geltend gemachten Vergütungsbetrag an die Klägerin zu zahlen. Die strukturellen und inhaltlichen Voraussetzungen für die Abrechnung der im Krankenhaus der Klägerin beim Versicherten erbrachten Leistungen der multidisziplinären algesiologischen Diagnostik waren nicht erfüllt. Die Klägerin hatte in der Folge keinen Anspruch auf Vergütung der mit der Klage geltend gemachten Forderung für die Behandlung des Versicherten in Höhe 1.859,91 €. In Höhe der Klageforderung hat die Beklagte die wirksame Aufrechnung mit unstreitigen Forderungen der Klägerin aus anderen Behandlungsfällen erklärt. Eine Prüfung der unstreitigen Forderungen durch den Senat war entbehrlich (vgl. z.B. Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Mai 2020, B 1 KR 26/18 R, Rn. 11 m.w.N. – zitiert nach juris).

Rechtsgrundlage des von der Klägerin wegen der stationären Behandlung der Versicherten geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs. 4 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 7 Satz 1 Nr. 1 des Krankenhausentgeltgesetzes (KHEntgG) und § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), konkretisiert durch Vereinbarungen auf Bundes- und Landesebene (Bundessozialgericht, Urteil vom 19. März 2020, B 1 KR 20/19 R, Rn. 11 - zitiert nach juris).

Die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse entsteht – unabhängig von einer Kostenzusage – unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Mai 2020, B 1 KR 26/18 R, Rn. 10 - zitiert nach juris). Krankenhausbehandlung liegt nur vor, wenn eines der in § 27 Abs. 1 Satz 1 und § 107 Abs. 1 Nr. 3 SGB V genannten Ziele verfolgt wird. Die  stationäre  Behandlung  muss  also  eingesetzt  werden, um eine Krankheit zu erkennen,  zu  heilen,  ihre  Verschlimmerung  zu  verhüten  oder  Krankheitsbeschwerden  zu  lindern  (KassKomm/Gamperl, 117. EL Dezember 2021, SGB V § 39 Rn. 37). Voraussetzung für die Entstehung eines Vergütungsanspruchs im Hinblick auf die abgerechneten Leistungen ist weiterhin, dass die Leistungslegende des jeweiligen ICD-10-Codes und/oder OPS erfüllt ist, d.h. sowohl strukturelle und formelle Voraussetzungen erfüllt, als auch die Leistungen vollständig und ordnungsgemäß erbracht worden sind. Vorliegend scheidet ein Vergütungsanspruch der Klägerin aus, weil im streitigen Behandlungsfall die strukturellen Vorgaben des OPS 1-910 nicht erfüllt waren.

Der OPS 1-910 (Multidisziplinäre algesiologische Diagnostik) war im hier relevanten Jahr 2014 wie folgt formuliert:

„Mit diesem Kode ist die standardisierte multidisziplinäre (somatische, psychologische und psychosoziale) Diagnostik bei Patienten mit chronischen Schmerzzuständen zu kodieren, die mindestens drei der nachfolgenden Merkmale aufweisen:

  • manifeste oder drohende Beeinträchtigung der Lebensqualität und/oder der Arbeitsfähigkeit
  • Fehlschlag einer vorherigen unimodalen Schmerztherapie, eines schmerzbedingten operativen Eingriffs oder einer Entzugsbehandlung
  • bestehende(r) Medikamentenabhängigkeit oder -fehlgebrauch
  • schmerzunterhaltende psychische Begleiterkrankung
  • gravierende somatische Begleiterkrankung

Dieser Kode erfordert:

  • die Mitarbeit von mindestens zwei Fachdisziplinen (davon eine psychiatrische, psychosomatische oder psychologisch-psychotherapeutische Disziplin)
  • eine psychometrische und physische Funktionstestung mit anschließender Teambesprechung zur Erstellung eines Therapieplanes

Die Anwendung dieses Kodes setzt die Zusatzqualifikation Spezielle Schmerztherapie bei der/dem Verantwortlichen voraus.“

Hiervon ausgehend waren im Falle der streitigen Behandlung die strukturellen Voraussetzungen für die Kodierung des OPS 1-910 nicht erfüllt, weil die psychiatrische, psychosomatische oder psychologisch-psychotherapeutische Disziplin, deren Mitarbeit obligatorisch ist, nicht ordnungsgemäß vertreten war. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 27. Oktober 2020 (B 1 KR 25/19 R) zu dem OPS 8-918, der in der Formulierung zu den zu beteiligenden Fachdisziplinen mit dem OPS 1-910 vergleichbar ist, entschieden, dass der Wortlaut des OPS 8-918 unter anderem voraussetzt, dass dann, wenn die psychologisch-psychotherapeutische Fachdisziplin an der multimodalen Schmerzbehandlung bei der (Eingangs-)Diagnostik beteiligt und auch ansonsten in das Behandlungsgeschehen interdisziplinär einbezogen wird, dies nur durch approbierte Psychologische Psychotherapeuten erfolgen darf (Bundessozialgericht, a.a.O., Rn. 11 – zitiert nach juris). Das Bundessozialgericht legt in der vorstehend genannten Entscheidung unter umfassender Auseinandersetzung mit Wortlaut und Binnensystematik des OPS dar, dass die psychologisch-psychotherapeutische Fachdisziplin nur vertreten kann, wer approbiert ist und die Kodierung des OPS im Rahmen der Abrechnung von Leistungen voraussetzt, dass ein approbierter Psychologischer Psychotherapeut, ein approbierter Facharzt der Psychiatrie und Psychotherapie oder ein approbierter Facharzt der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie einbezogen war und mitgewirkt hat (a.a.O., Rn. 14ff. – zitiert nach juris). Diese Rechtsprechung ist im Hinblick auf die beteiligten Fachdisziplinen auf den OPS 1-910 übertragbar. Auch insoweit ist eine ordnungsgemäße Beteiligung der psychologisch-psychotherapeutischen Disziplin nur zu bejahen, wenn ein approbierter Psychologischer Psychotherapeut beteiligt und in das Behandlungsgeschehen eingebunden ist. Eine ordnungsgemäße Mitarbeit der zwingend zu beteiligenden psychiatrischen, psychosomatischen oder psychologisch-psychotherapeutischen Fachdisziplin ist vorliegend nicht erfolgt. Im streitigen Behandlungsfall ist das psychologisch-psychotherapeutische Fachgebiet durch die B vertreten worden, welche nicht approbiert war, wie sich aus den Schriftsätzen der Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 28. April 2021 (Blatt 276f. der Gerichtsakte) und vom 31. Mai 2021 (Blatt 285ff. der Gerichtsakte) ergibt.

Hiervon ausgehend war ein Anspruch der Klägerin auf Vergütung des streitigen Behandlungsfalls zu verneinen. Bei den im Kontext des OPS 1-910 erbrachten Leistungen handelt es sich, wie sich bereits aus seiner Überschrift ergibt, um multidisziplinäre, d.h. aufgrund der Zusammenarbeit mehrerer medizinischer Fachrichtungen erbrachte diagnostische Leistungen. Erforderlich ist die Mitarbeit von mindestens zwei Fachdisziplinen, wobei die Mitarbeit der psychiatrischen, psychosomatischen oder psychologisch-psychotherapeutischen Disziplin obligatorisch ist. Hieran fehlt es vorliegend. Es kann dahinstehen, ob es ausreichend ist, dass die Leistungen durch Ärzte oder Therapeuten erbracht werden, die sich noch in Fortbildung befinden und noch nicht über eine dem Facharztstatus entsprechende Qualifikation verfügen, wenn eine Überwachung durch einen Behandler des entsprechenden Fachgebiets mit der erforderlichen Qualifikation erfolgt. Dass dies vorliegend der Fall war, ist auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich. Insoweit kann nur nachvollzogen werden, dass im streitigen Behandlungsfall sämtliche Leistungen auf psychologisch-psychotherapeutischen Gebiet von der nicht über die erforderliche Approbation verfügenden B erbracht worden sind. Dass deren Überwachung durch einen approbierten Psychotherapeuten gewährleistet war und auch tatsächlich erfolgt ist, ist in der dem Senat vorliegenden Patientenakte und den sonstigen vorliegenden Unterlagen nicht dokumentiert. Ausweislich des Berichts des Krankenhauses der Klägerin vom 18. Juli 2014 werden die psychologische Exploration, die erhobenen Befunde, die gestellten Diagnosen und auch die psychologischen Behandlungsempfehlungen allein von der B verantwortet. Die interdisziplinäre Abstimmung ist ausweislich des Berichts allein mit dieser erfolgt. Eine Supervision der Tätigkeit der B ist, unabhängig von der Frage, ob dies ausreichend gewesen wäre, jedenfalls im streitigen Behandlungsfall nicht ansatzweise nachvollziehbar.

Damit war das multidisziplinäre Team fehlerhaft besetzt, weil strukturelle Mindestvorgaben des OPS 1-910 nicht erfüllt waren. Dies hat zur Folge, dass die von dem Team veranlassten diagnostischen Maßnahmen mangelhaft sind. Bei der multidisziplinären algesiologischen Diagnostik handelt es sich um eine planvolle, geordnete und strukturierte Zusammenarbeit der beteiligten Fachdisziplinen. Einzubringen in die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist der besondere Fachverstand der beteiligten Fachgruppen. Diese haben, unter Erhebung des Istzustandes und unter Berücksichtigung eventuell bereits vorliegender Ergebnisse, Vorschläge zu unterbreiten und sich diskursiv darüber zu verständigen, welche diagnostischen Maßnahmen erforderlich sind, um dem besonderen Beschwerdebild bei Patienten mit chronischen Schmerzzuständen gerecht zu werden. Verlangt wird eine konkrete, mehrstimmige aber konzertierte Entscheidung über die erforderlichen diagnostischen Maßnahmen. Als Qualitätssicherungskriterium wurde im OPS 1-910 der Facharztstandard festgelegt, wobei die Einbindung der psychiatrischen, psychosomatischen oder psychologisch-psychotherapeutischen Disziplin obligatorisch ist. Handelt es sich auf normativer Grundlage um die Leistung eines multiprofessionellen Teams, verbietet sich eine isolierte Bewertung der einzelnen diagnostischen Maßnahme oder Behandlungsleistung als ordnungsgemäß erbracht oder nicht. Da es sich um eine Leistung des multiprofessionellen Teams und nicht des einzelnen Behandlers handelt, setzt eine dem Qualitätsgebot (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) entsprechende Leistungserbringung voraus, dass das Team insgesamt ordnungsgemäß besetzt ist, d.h. jedes Teammitglied die vorgegebenen Qualifikationsanforderungen erfüllt. Werden Leistungen erbracht, ohne dass die hierfür festgelegten personellen Anforderungen erfüllt sind, ist die Versorgung des Versicherten deshalb ungeeignet und im Rechtssinne nicht „erforderlich“ mit der Folge, dass für die Leistung keine Vergütung beansprucht werden kann (vgl. zu den Anforderungen nach § 4 Abs. 3 Satz 5 QBAA-RL Bundessozialgericht, Urteil vom 19. April 2016, B 1 KR 28/15 R, Rn. 21ff. – zitiert nach juris; vgl. auch Hauck, Rechtsfragen der Krankenhausvergütung, KrV 2017, 177ff.).

Eine den vorstehenden Anforderungen genügende Entscheidungsfindung hat im Rahmen der Behandlung des Versicherten nicht stattgefunden, da die getroffenen Entscheidungen nicht innerhalb eines den Anforderungen des OPS 1-910 genügenden Teams getroffen worden sind. Dieser strukturelle Mangel haftet in der Folge auch den im Einzelnen veranlassten diagnostischen Maßnahmen an, auch wenn diese für sich genommen lege artis durchgeführt worden sind. In der Folge erweisen sich die vom Krankenhaus der Beklagten erbrachten Leistungen insgesamt als mangelhaft, sodass eine Vergütung der im streitigen Behandlungsfall erbrachten Leistungen nicht verlangt werden kann. Hiervon ausgehend ist unerheblich, dass die Streichung des OPS 1-910 keinen Einfluss auf die Vergütungshöhe hat.

Soweit die Prozessbevollmächtigten der Klägerin darauf hinweisen, dass das Bundessozialgericht in dem Urteil vom 27. Oktober 2020 ausdrücklich nicht festgestellt habe, dass bei Nichtvorliegen der Mindestmerkmale des OPS die stationäre Behandlungs-bedürftigkeit zur Durchführung der multimodalen Schmerztherapie als nicht gegeben anzusehen sei, ist dies zutreffend, ändert aber nichts an dem gefundenen rechtlichen Ergebnis. In der der Entscheidung des Bundessozialgerichts zugrundeliegenden prozessualen Situation hatte das Gericht sich allein mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein höherer Vergütungsanspruch des klagenden Krankenhauses besteht. Die streitrelevante Frage hat das Bundessozialgericht klar beantwortet („Das Krankenhaus konnte für die Behandlung der Versicherten F Vergütung allenfalls nach Maßgabe der DRG I68D (2005,67 Euro) beanspruchen und nicht nach Maßgabe der abgerechneten und bezahlten DRG I42Z (3831,23 Euro).“). Ob wegen der Nichterfüllung der Strukturvorgaben des OPS 8-918 ein Vergütungsanspruch möglicherweise gar nicht bestanden hat, musste das Gericht nicht entscheiden, da die Krankenkasse kein Rechtsmittel eingelegt hatte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG, § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 3 Satz 1, § 63 Abs. 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Sie bemisst sich nach der Höhe der geltend gemachten Forderung. Insoweit ist die Entscheidung unanfechtbar.

Rechtskraft
Aus
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