Arbeiten am Limit

Deutschlands Kliniken läuft das Personal davon

30:09 Minuten
Zwei Ärzte in OP-Kleidung stehen in einem OP-Saal und scheinen zu operieren. Das Licht ist kühl, sie tragen helle Kleidung.
Ein alarmierendes Signal: Ein großer Anteil der Krankenhausärztinnen und -ärzte kann sich vorstellen, nicht mehr in ihrem Beruf tätig zu sein. © Getty Images / Thierry Dosogne
Von Dorothea Brummerloh · 31.01.2023
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Arbeiten zwischen Überforderung und Resignation: In Kliniken fehlt Personal, während die Zahl derer steigt, die medizinische Versorgung benötigen. Immer mehr Ärzte und Pflegekräfte erleben die Situation als unerträglich und ziehen Konsequenzen.
10 Uhr morgens, Zentrale Notaufnahme eines Krankenhauses in Norddeutschland – namenlos wegen der Umstände in Krisenzeiten. Der Rettungswagen hat eine Patientin gebracht. Die ältere Frau wollte eigentlich nur zu einer Untersuchung, nun liegt sie auf einer Trage in der Notaufnahme, hat EKG-Elektroden am Körper und ein Blutdruckmessgerät am Arm.
Schwester Finja, auch ihr Nachname bleibt außen vor, übernimmt die Patientin vom Notfallsanitäter des Rettungsdienstes, spricht sie an. "Wir müssen Sie ganz kurz auf den Flur stellen. Dann könnt ihr direkt durchstarten und ich kümmere mich um ein Bett.“
Eigentlich begleite ich das Team der Zentralen Notaufnahme als Reporterin. Früher allerdings habe ich als Fachkrankenschwester für Anästhesie und Intensivmedizin gearbeitet. Aus Beobachten wird deshalb schnell Mithelfen.
Gemeinsam lagern wir die Patientin auf eine Trage um, schieben sie an den Rand des Flurs. Während Schwester Finja schaut, ob sie noch ein freies Bett in einem der Behandlungszimmer findet, versorgen ihre Kollegen Yvonne und Martin die Patientin weiter.

Es geht Schlag auf Schlag

Nachdem Yvonne den Clip für die Messung der Sauerstoffsättigung an den Zeigefinger gesteckt hat, kontrolliert Finja den Corona-Test: negativ. Zum Glück, sagt Finja. Covid-Patienten müssen isoliert liegen, die Weiterversorgung ist nicht einfach.
Es geht wie immer Schlag auf Schlag, sagen meine „Kollegen auf Zeit“, während wir die gerade angekommene Frau von der Trage in ein Bett umlagern und in ein freigewordenes Behandlungszimmer bringen. "Können Sie so liegen oder brauchen Sie eine Knierolle?", frage ich die Patientin. "Ja, Knierolle wäre ganz schön", sagt sie.
Ein Schild mit der Aufschrift "Zentrale Notaufnahme" .
"Sie ist einfach mal zur Abklärung hier": Das überlastete Gesundheitssystem wird im Alltag einer Notaufnahme deutlich sichtbar.© dpa/ Bodo Marks
Als journalistische Aushilfspflegerin mit Vorerfahrung ist mir eine Lösung für das Problem der Patientin eingefallen, für das überlastete Gesundheitssystem leider nicht. Während ich Patienten mit umlagere, beim Betten helfe, Schieber ausleere, ganz einfach mit anpacke, möchte ich erfahren, wie sich der Klinikalltag für die hier Arbeitenden verändert hat und warum sie reihenweise hinschmeißen.
Ein Rettungswagen bringt schon die nächste Patientin zu Schwester Finja.
"Sie ist einfach mal zur Abklärung hier, weil sie nicht ganz verstanden hat, ob sie jetzt belastbar ist mit dem Bein oder halt nicht. Das ist mal ein Sturz vorausgegangen. Wann ist unklar", erklärt mir die Krankenschwester. „Es sind halt sehr, sehr viele Patienten, die hier mal eben nur etwas abgeklärt haben wollen.“

Notaufnahme wird zweckentfremdet

Auch Yvonne und Martin kümmern sich gerade um eine Patientin, die eigentlich kein Fall für die Notaufnahme ist: „Das Problem ist, sie hat einen Pflegedienst zu Hause. Die kommen aber auch nicht mehr mit ihr zurecht. Deswegen muss das Krankenhaus jetzt gucken, ob sie in eine Einrichtung kommt oder eine Kurzzeitpflege oder was auch immer.“
In deutschen Kliniken arbeiten Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte am Limit – nicht erst seit Corona. Die Pandemie hat die Überlastung des Gesundheitssystems wie ein Brennglas für alle sicht- und spürbar gemacht: Es fehlt hinten und vorn an Personal und der dritte Corona-Winter hat gerade erst begonnen.
"Die aktuelle Situation ist sehr angespannt. Der Krankenstand ist sehr hoch und von daher ringen wir jeden Tag darum, den Dienstplan gut zu besetzen", sagt Katarina Meier, Pflegedirektorin in dem norddeutschen Krankenhaus, in dem ich einen Frühdienst in der Notaufnahme begleitet habe.

Das Worst-Case-Szenario ist, wenn wir das Gleichgewicht zwischen den zu versorgenden Patienten und den Möglichkeiten, diese zu betreuen, verlieren. Wenn also mehr Patienten da sind, als Pfleger und Ärzte versorgen können. Das sehen Sie aktuell in der Zentralen Notaufnahme. Die Zentrale Notaufnahme kann sich zwar abmelden und sagen, wir sind voll. Aber wenn das alle Krankenhäuser tun, fahren die Rettungswagen vor und der Patient muss versorgt werden.

Katarina Meier, Pflegedirektorin

Die Fallpauschalen und ihre Folgen

Vor 20 Jahren hat die rot-grüne Regierung mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Fallpauschalensystem, die DRGs eingeführt. DRG steht für „Diagnosis Related Groups“.
Das heißt vereinfacht erklärt: Für Patientin X mit Diagnose Y bekommt ein Krankenhaus Betrag Z von der Krankenkasse bezahlt. Daten wie Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, Aufnahmediagnose und Therapiemaßnahmen werden festgehalten. Anhand der DRG ergibt sich ein pauschaler Geldbetrag, den die Klinik von den Krankenkassen für Patientin X bekommt – egal, wie lange sie in der Klinik bleibt.
Was Fallpauschale auch bedeuten kann, erklärt Pflegedirektorin Katarina Meier an einem Beispiel: Die aufwendige Pflege eines Patienten mit Weglauftendenz und Demenz muss das Personal nebenbei kompensieren. Zusätzliches Personal oder Geld ist nicht vorgesehen.
Und es gibt weitere Fehler im System: "Wir müssen im Krankenhaus oft Patienten aufnehmen, weil in den Langzeiteinrichtungen die Pflege nicht das darf, was sie eigentlich könnte. Dann wäre vielleicht der eine oder andere Krankenhausaufenthalt auch zu verhindern. Vielfach könnte man aber in Langzeitpflege, Kurzzeitpflege, ambulanter Pflege Aufenthalte verhindern, wenn Pflegende Entscheidungen treffen können, die sie wissen, worum sie aber bitten müssen."

Kliniken müssen Systemfehler ausgleichen

Also: Pflegerinnen und Pflegern im ambulanten Bereich mehr Verantwortung übertragen und damit Kliniken und Klinikpersonal entlasten. Die geltenden gesetzlichen Vorschriften sind zeitaufwendig und fachlich nicht notwendig, meint die Pflegedirektorin.
Hinzukommt, dass viele Patienten mit einer sogenannten „sozialen Indikation“ eingeliefert werden. Das heißt: Sie kommen ins Krankenhaus, weil sie zu Hause nicht mehr versorgt werden können. Es gibt also viele Probleme im Krankenhaus, die Folgen der Probleme außerhalb des Krankenhauses sind.
Dass es so nicht weitergehen kann, hat auch die Politik erkannt. Mit dem sogenannten „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ wollte sie die Situation für die im Krankenhaus Tätigen verbessern: Pflegepersonalkosten wurden aus den Fallpauschalen rausgenommen, wurden „extrabudgetär“ vergütet. Damit wollte man verhindern, dass mit der Einsparung an Pflegestellen die Krankenhäuser Geld verdienen.
Doch auch, wenn es so klingt: Das Geld für die Pflege und die DRGs kommt nicht aus zwei verschiedenen Töpfen, sondern beides von den Krankenkassen. Außerdem wurden mit dem „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ Pflegepersonaluntergrenzen festgelegt.

Bisherige Maßnahmen reichen nicht aus

Katarina Meier begrüßt all diese Maßnahmen. Bisher kannte die Pflegedirektorin nur eins: den Rotstift.
„Es ging immer darum, auf den Stationen zu gucken, wie kann man mehr schaffen mit weniger Personal? Und dieser Trend ist seit zwei Jahren jetzt gebrochen durch das Pflegebudget, durch die Maßnahmen, die Herr Spahn damals noch in die Wege geleitet hat, dass jede Pflegekraft, die wir einstellen, finanziert, refinanziert wird“, erklärt sie. „Das hat uns die Möglichkeit gegeben, überhaupt zu gestalten, wieder Ausbildung zu gestalten, Praxisanleitung zu gestalten, Kollegen aus dem Ausland einzustellen."
Die Personaluntergrenzen stellen zwar eine Entlastung des Pflegepersonals dar. Allerdings gibt es einen absoluten Mangel an Pflegekräften und das führt langfristig gesehen zu einer Reduzierung der Krankenhausbetten. Denn wenn eine Pflegekraft auf einer Intensivstation beispielsweise nur noch drei statt vorher vier Patienten betreut, werden bei gleichbleibender Personalanzahl weniger Patienten versorgt.
Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz sei eine gute Entwicklung für das Pflegepersonal, findet Susanne Johna, erste Vorsitzende des Marburger Bundes, der Fachgewerkschaft für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. Nicht für die Ärztinnen und Ärzte. Für sie gilt es nicht.
"Uns war klar, dass genau das passiert, nämlich dass im ärztlichen Personalbereich eingespart wird, Stellen nicht mehr nachbesetzt werden", so Johna. Auf die Spitze getrieben bedeutet das: Private Krankenhausbetreiber machen hohe Gewinne und streichen gleichzeitig Stellen.

„Eine Katastrophe für die Patientenversorgung“

Im „Ärzteblatt“ wurde das Beispiel der Fresenius GmbH mit ihren Helios-Kliniken genannt. In Deutschland verfügt Helios über 87 Kliniken, rund 130 Medizinische Versorgungszentren, sechs Präventionszentren und 17 arbeitsmedizinische Zentren. Mehr als 75.000 Mitarbeitende erwirtschafteten 2021 einen Umsatz von 6,7 Milliarden Euro. Helios verspricht den Aktionären eine hohe Dividende und streicht gleichzeitig an vielen Klinikstandorten Arztstellen, um Personalkosten zu reduzieren.

Das ist einfach eine Katastrophe für die Patientenversorgung und eine Katastrophe für das dann noch verbleibende Personal. Das ist eine Spirale, die sich nach unten fortsetzen wird. Wenn man die erst mal anstößt, dann folgen oft Kündigungen aus Eigenantrieb der Ärzte, weil sie sagen, so kann ich meinem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden.

Susanne Johna, erste Vorsitzende Marburger Bund

„Was uns alarmiert, ist, dass 40 Prozent der Kolleginnen und Kollegen sagen, sie schließen einen Berufswechsel nicht mehr grundsätzlich aus", sagt Andreas Hammerschmidt, Facharzt für Unfallchirurgie und zweiter Vorsitzender des niedersächsischen Landesverbandes beim Marburger Bund.
Und weiter: „Das bedeutet, sie können sich vorstellen, nicht mehr als Krankenhausarzt oder -ärztin tätig zu sein. Das ist natürlich eine riesige Versorgungslücke, die dann zum einen entsteht. Zum anderen ist es so, dass 70 Prozent der Kolleginnen und Kollegen sagen, dass die Arbeitsbedingungen letztlich absolut mangelhaft sind.“

Bereitschaftsdienste besonders anstrengend

Stefanie Minkley hatte schon während ihrer Schulzeit den Wunsch, Ärztin zu werden. Heute ist sie Fachärztin für Allgemeinchirurgie. Ihr damaliger Arbeitsalltag als Weiterbildungsassistentin in einer hessischen Klinik, deren Namen sie aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht nennen darf, war anstrengend. Richtig belastend waren für sie die Bereitschaftsdienste, die noch über 24 Stunden gingen, sagt die 33-jährige Ärztin.
Zwei Ärztinnen und ein Arzt gehen in einem Krankenhausflur.
"Ich hatte einfach keine Kraft mehr": Stefanie Minkley hörte auf, als Ärztin zu arbeiten.© imago images / PantherMedia / Arne Trautmann
Denn das bedeutet, "dass man einen normalen Tagdienst hat und danach die Bereitschaft beginnt. So jedenfalls die Theorie", sagt sie. "In der Praxis bedeutet das aber meistens, dass man mindestens 10, 12, 14, 16 Stunden am Stück arbeitet. Und in der Nacht wird es natürlich irgendwann ein bisschen ruhiger. Dann kann man sich auch mal ein bisschen schlafen legen. Aber es gibt Nächte, wo man ja nur mal eine halbe Stunde oder mal auch drei Stunden schläft oder so, aber danach eben weiterarbeiten muss."
Am nächsten Morgen 7.00 Uhr Visite – kein Problem. Frühbesprechung – gern. Die Station ist unterbesetzt? Selbstverständlich blieb sie länger, um Patienten zu entlassen, um Abschlussgespräche zu führen und Entlassungspapiere auszustellen.

Am meisten genervt hat mich die fehlende Wertschätzung hauptsächlich von Vorgesetzten, von Oberärzten und vom Chef: Weil man einfach nicht wirklich häufig gesagt bekommen hat, dass man was gut gemacht hat, dass man sieht, dass viel Arbeit da ist und viel Stress da ist. Es war viel häufiger, dass man dann doch noch den Anschiss kassiert hat und noch gesagt wurde, was alles schiefgelaufen ist.

Stefanie Minkley, Fachärztin für Allgemeinchirurgie

Ausstieg wegen der Arbeitsbedingungen

Alles vor dem Hintergrund, dass die Arbeitsverträge für Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung immer an die Zeit ihrer Fachweiterbildung gekoppelt sind.
"Die Klinik hat Personal abgebaut. Von daher war es unsicher, ob ich überhaupt eine Verlängerung bekomm, und man hat mir eine zweimonatige Verlängerung angeboten. Ich hatte wirklich überlegt, ob ich das mache, weil wir in dem Moment so wenig Personal hatten, dass es mir einfach leidtat, wenn ich auch noch als erfahrene Kraft gehe“, erzählt sie.
Und weiter: „Aber ich habe in dem Moment dann einfach an mich gedacht. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, weiter in einem System zu arbeiten, wo ich trotz 60, 70 Stunden pro Woche keine Wertschätzung bekomme und habe aufgehört, als Ärztin zu arbeiten. Wer weiß, wenn es bessere Arbeitsbedingungen gibt, dann kehre ich vielleicht irgendwann zurück in den Beruf."
In diesem Jahr wird Stefanie Minkley, Fachärztin für Allgemeinchirurgie, für den hessischen Landtag kandidieren, um politisch etwas am Gesundheitssystem zu verändern.

Unzureichendes Gesetz zur Krankenhauspflege

2021 übernahm die Ampel-Koalition die Amtsgeschäfte und verabschiedete ein Jahr später das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz. Es bemisst die Tätigkeiten der Pflegenden in Minuten und berücksichtigt, wie aufwendig die Pflege ist – mit einem hohen administrativen Aufwand. Hinzukommt, dass das Ganze nur für die sogenannte „Pflege am Bett“ gilt.
Das heißt, meine Kollegen auf Zeit aus der Zentralen Notaufnahme profitieren nicht davon. Dort gelten weiterhin die DRGs und damit auch die leistungsabhängige Bezahlung.
Das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz schafft Stellen. Punkt. Aber am grundlegenden Problem, dem leer gefegten Fachkräftemarkt, ändert es nichts. Es ist einfach zu spät erlassen worden. Schlussendlich heißt das jetzt für die Kliniken: Wo Personal fehlt, wird es wirtschaftlich eng.
Weniger Personal heißt, dass die Kliniken weniger Krankenhausleistungen erbringen können, die den Häusern das Überleben sichern, die bedingt durch die Pandemie und zusätzlich durch die Energiekrise arg in Schieflage geraten sind. Außerdem drohen den Krankenhäusern bei Nichteinhaltung der Personaluntergrenzen Sanktionen. Das ist bei einem leer gefegten Markt doppelt bitter.

Ärzte müssen zu viel administrativ arbeiten

"Die Art und Weise, wie die Kolleginnen und Kollegen arbeiten können, entspricht einfach nicht dem, was man sich vorstellt, wie man ärztlich tätig ist. Man hat schon die Vorstellung, dass man zumindest 70 Prozent der Zeit ärztlich tätig ist. Aber das ist nicht der Fall", beklagt Cornelius Weiß. Er ist Internist, macht gerade seine zweite Facharztweiterbildung zum Arbeitsmediziner.
Als Internist hatte er es mit Patientinnen mit Leberentzündungen, Bluterdruckerkrankungen, Gallenbeschwerden zu tun. Also kümmerte er sich um Stoffwechsel, Kreislauf, Blut und blutbildende Organe. Allerdings: 40 bis 50 Prozent seiner Dienstzeit erledigte er administrative oder bürokratische Dinge, sagt der Sprecher für Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung des Berufsverbandes Deutscher Internisten.
Und das hieß auch: "Dinge zu kopieren, zu faxen, Faxe auszudrucken und in andere Abteilungen zu bringen, sie dort stempeln lassen, wieder zu bringen, um sie dann einzuscannen und dann per E-Mail zu verschicken, Heime ab zu telefonieren und so weiter und so fort."
Leider gibt es in vielen Kliniken dafür kein Hilfspersonal, sagt Weiß, und die Digitalisierung, die schon von der Großen Koalition versprochen wurde und die ihn und die Kollegen eigentlich entlasten sollte, empfindet er oft eher als Hindernis. In seiner ehemaligen Klinik zum Beispiel war das Patientensystem nicht mit dem der Sonografie-Abteilung kompatibel.

Digitalisierung keine Entlastung

Das bedeutet: "Dass ich den Sonografie-Befund abholen muss. Also ich lauf dann los, gehe zwei Stockwerke runter, frage dann, ist er schon gemacht? - 'Weiß ich nicht, muss ich nachgucken und dafür habe ich jetzt auch keine Zeit.' Und dann gucke ich selber in einem Stapel nach und gucke, ob der Patient schon erledigt wurde oder nicht, und dann muss ich noch die Akte suchen. Die ist möglicherweise in der Nähe, möglicherweise auch nicht. Und dann gehe ich hoch und muss dann den Befund zum Beispiel noch abtippen, damit er dann – in Anführungszeichen –digitalisiert ist.“
Es geht noch weiter: „Wenn ich einen zweiten Befund brauche, dann kann es sein, dass der im Computersystem ist. Kann auch sein, dass er nicht im Computersystem ist. Es kann sein, dass er integriert ist. Es kann aber auch sein, dass ich ein zweites Programm dafür brauche. Das kann sein, dass dieses Programm mit dem anderen Programm kompatibel ist. Es kann aber auch sein, dass ich diesen Befund abschreiben muss oder kopieren muss in ein anderes Word-Dokument auf meinem PC, und nur von diesem anderen Word-Dokument kann ich es dann in mein anderes Programm reinkopieren."
Es ist eine zeitraubende Verschwendung der Ressource „Arbeitskraft“. Doch nicht nur das: Durch die vielen Schnittstellen können Informationen verloren gehen, die die Sicherheit der Patienten gefährden, sagt Volker Amelung vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hannover.

Es hat mich immer wieder fasziniert, dass die medizinische Versorgung wirklich superinnovativ ist, und gleichzeitig hat man so Strukturen, die einfach komplett hinter der Zeit sind und auch ineffizient sind. Unser Kernproblem ist nicht, dass wir zu wenig Ressourcen haben, sondern dass wir mit den bestehenden Ressourcen aasen und nicht effizient umgehen.

Volker Amelung, Gesundheitssystemforscher

Dazu müssten Krankenhäuser besser digitalisiert werden. Doch selbst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach stellte fest: „Wir sind, was die Digitalisierung angeht, im europäischen Vergleich Entwicklungsland.“ Sein Ministerium erarbeitet zurzeit eine Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege, deren Ergebnisse im Frühjahr 2023 präsentiert werden sollen.

Hohe Burn-out-Quote bei Pflegekräften

"Es geht in erster Linie in meinem Berufszweig um die Psyche, um die Belastung, um die Hektik, um die Lautstärke, um dieses ewige Abrufbar-sein-Müssen. Dieses: ‚Jetzt habe ich frei. Bleibt das auch so?‘ Und wenn ich was Wichtiges vorhabe, muss ich darauf pochen, dass ich diesen freien Tag oder diese freien Stunden behalte. Das ist wahnsinnig anstrengend“, erzählt Julia.
Julia, die ihren Familiennamen nicht nennen möchte, ist 47 Jahre alt. Seit sechs Monaten ist die Krankenschwester aufgrund psychischer Erkrankung außer Gefecht gesetzt. Pflegekräfte sind doppelt so häufig von Burn-out betroffen wie andere Berufsgruppen. Laut einer Studie des AOK-Bundesverbandes stieg der Anteil psychischer Erkrankungen im Zusammenhang mit Burn-out in den Pflegeberufen seit 2012 um mehr als 15 Prozent.

Man will jedem gerecht werden, man will dem Patienten und seinem Arbeitsplatz und seinem Arbeitgeber gerecht werden. Man möchte Zeit mit dem Partner verbringen. Man möchte Zeit mit dem Kind verbringen. Man möchte sich aber auch irgendwie erholen. Das führte bei mir dazu, dass ich jegliche Lust auf irgendwelche Aktivitäten verloren habe. Dieser Wunsch einfach nur die Füße hochlegen, für mich alleine sein und einfach mal Ruhe haben, wurde immer, immer größer.

Julia, Anästhesieschwester

Julia hat sich noch nicht entschieden, wie es weitergeht. Arbeitszeit reduzieren? Ja, darüber habe sie schon nachgedacht, sagt die Anästhesieschwester. Im Moment stehe ihre Gesundheit im Vordergrund. Für Zukunftspläne habe sie noch keine Kraft.
"Es ist für alle Menschen total selbstverständlich, dass wenn sie Schmerzen, Unwohlsein, irgendwas haben, dass sie irgendwohin gehen können, und da ist jemand rund um die Uhr, der denen hilft. Das ist so selbstverständlich geworden, dass das viele gar nicht mehr hinterfragen“, sagt sie. „Es ist aber nicht selbstverständlich, dass Menschen mitten in der Nacht irgendwo arbeiten und für alle Fälle gewappnet sind. Dieses im Bett liegen, vielleicht gerade eine Stunde zu schlafen, das Telefon klingelt und man steht sofort Gewehr bei Fuß und rettet Leben – das ist eine unheimliche Belastung."

"Die Strukturen sind veraltet“

Es täte den Krankenhäusern gut, sich mal umzusortieren, meint Julia.
"Die Strukturen sind veraltet und sie funktionieren, aber nur, weil alle über ihre Grenzen hinaus dafür sorgen, dass sie funktionieren“, erklärt sie. „Weil Krankenschwestern Menschen sind, die diesen Beruf gewählt haben, weil sie etwas für jemanden tun wollen, die Freude daran empfinden, sich um hilfsbedürftige Menschen zu kümmern. Aber es braucht mal ein komplettes Durchschütteln, um mal zu gucken, was wird denn tatsächlich gebraucht, woran mangelt es denn wirklich?"
Ärztegewerkschaftsvertreterin Susanne Johna wünscht sich Entlastung des gesamten Krankenhauspersonals:
"Wir wissen, dass Pflegekräfte im Durchschnitt etwa pro Tag drei Stunden dokumentieren. Bei Ärztinnen und Ärzten ist es ein Drittel der Kollegen, die sogar mehr als vier Stunden dokumentieren. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hat einmal ausgerechnet: Wenn wir die drei Stunden Pflegedokumentation nur um eine Stunde reduzieren würden, dann würde die Arbeitszeit von 60.000 Vollzeitpflegekräften freigesetzt."
Und der Gesundheitsforscher Volker Amelung meint:
„Ich glaube, es macht überhaupt gar keinen Sinn, durch ein Krankenhaus durchzujagen, zu überlegen, wo kann ich jetzt hier noch mal irgendwie ein Prozent einsparen? Natürlich gibt es Effizienzreserven. Aber wenn man aus einer Gesamtsystemsicht guckt, müsste man viel größer herangehen.“

Bundesgesundheitsminister verkündet „Revolution“

Ähnlich wie Amelung sieht es wohl auch Karl Lauterbach. Im Dezember hat der Bundestag ein Gesetzespaket verabschiedet, dass der Gesundheitsminister, von Haus aus Gesundheitsökonom, als „kleine Krankenhausreform“ bezeichnete. Es soll mehr Geld für Kinderkliniken und Entlastungen bei dringend benötigten Pflegekräften bringen. Die Kinderkliniken sollen als erstes nicht mehr unter das Fallpauschalensystem fallen, zudem zusätzlich Geld erhalten.
Krankenschwestern in einem Krankenhaus in Freiburg
Ein Gesetzespaket soll Entlastungen bei dringend benötigten Pflegekräften bringen.© Imago / Westend61
Die Lage für die Pflegekräfte soll sich durch ein neues Personalbemessungsprogramm und weniger Patientenübernachtungen verbessern. Noch steht bei den geplanten tagesstationären Leistungen nicht fest, welche Fälle mindestens sechs Stunden in der Klinik behandelt werden sollen und dann ohne Überwachung zu Hause schlafen können. Haftungsrechtliche Fragen sind noch ungeklärt. Und: Wenn die häusliche Versorgung nicht gesichert ist, werden Patienten weiter im Krankenhaus bleiben.
Ein paar Tage später verkündete Minister Lauterbach nichts anderes als eine Revolution, die mit der Abkehr vom Fallpauschalen-System beginnt. In den ARD-„Tagesthemen“ sagte er:
„Damals ist die Fallpauschale sehr radikal eingeführt worden. Dieser 100-Prozent-Ansatz, dass die Krankenhäuser quasi 100 Prozent ihres Geldes über Fallpauschalen generieren, der hat sich einfach nicht bewährt. Das wissen wir schon seit mindestens zehn Jahren. Das hat zur Folge, dass eine relativ billige Medizin im Krankenhaus folgt und eine Medizin, bei der man versucht hat, möglichst viele Fälle zu machen. Weil wenn es eine Pauschale gibt, dann versucht jeder, viele Fälle zu machen und diese preiswert zu erbringen. Diese Nebenwirkung war damals schon bekannt.“

Bestmögliche Behandlung statt Gewinnabsicht

Das System soll dem Patienten die bestmögliche Behandlung garantieren und Operationen aus reiner Gewinnabsicht vermeiden. Patienten würden oft zu früh entlassen. Ärzten und Pflegenden werde abverlangt, die Rendite wichtiger zu nehmen als die Therapie. Viele verlassen die Krankenhäuser, weil sie diesen ökonomischen Druck nicht mehr ertragen. Darin sieht der Gesundheitsminister eine Ursache des Personalmangels.
Deshalb strebt das Ministerium diese „Grundlegende Reform der Krankenhausvergütung“ an. Zukünftig wird das Bereithalten von Personal und Technik vergütet und es wird bundesweit klar definierte Versorgungsstufen für Krankenhäuser geben. Die Krankenhäuser der Basisversorgung, die wohnortnah und flächendeckend für kleinere chirurgische Eingriffe und Notfälle da sind. Die Häuser der Regel –und Schwerpunktversorgung und die Häuser der Maximalversorgung durch die Unikliniken.
Volker Amelung begrüßt solche Organisationsmodelle: "Wenn man sich international Modelle von Gesundheitssystem anschaut, dann ist im Prinzip die Versorgung vor Ort in der Mitte und am Rand ist das Krankenhaus."
Doch eigentlich ist es bereits fünf nach zwölf: Ein Drittel aller Betten auf Normalstationen sind nicht betreibbar, auf den Intensivstationen ist in den zurückliegenden zwei Jahren ein Viertel aller Beatmungsbetten verloren gegangen, weil das Personal fehlt. Das Gesetz kam erst, als der Markt schon leer gefegt war.
Die wirtschaftliche Lage der Kliniken sieht laut Deutscher Krankenhausgesellschaft ebenfalls schlecht aus. Bis zu 40 Prozent der Krankenhäuser sind insolvenzgefährdet, obwohl Deutschland mit 13,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts viel Geld für Gesundheitsversorgung ausgibt. Zu lange hat man die notwendige Reform nicht in Angriff genommen.
Dass das bestehende Fallpauschalensystem nichts taugt, weiß man laut Gesundheitsminister seit über zehn Jahren. Kann man das Ruder mit dem neuen Gesetzesvorschlage noch herumzureißen? Fünf Jahre sind für die Reform des Krankenhaussystems angesetzt. Für viele Kliniken dürften die Maßnahmen leider zu spät kommen.

Autorin: Dorothea Brummerloh
Es sprachen:
Anika Mauer, Max Urlacher
Regie:
Beatrix Ackers
Ton:
Martin Eichberg
Redaktion:
Franziska Rattei, Ulrike Köppchen

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