Interview

«Medizinberufe sind nun einmal keine Bürojobs. Wer mehr arbeitet, lernt auch mehr» – ein Zürcher Herzchirurg verteidigt die langen Arbeitstage im Spital

Paul Vogt ist seit 40 Jahren Arzt und leitete die Herzchirurgie des Zürcher Unispitals. Von Höchstarbeitszeiten hält er nichts.

Matthias Niederberger 3 min
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Schon lange im Geschäft: Herzchirurg Paul Vogt.

Schon lange im Geschäft: Herzchirurg Paul Vogt.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Herr Vogt, in welchem Zustand ist das Schweizer Gesundheitssystem?

Es wird gerade an die Wand gefahren. Das sage nicht nur ich, sondern auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen.

Weshalb?

Weil die Administration überbordet. Das Problem ist nicht die fehlende Digitalisierung, sondern dass jeder Handgriff dokumentiert werden muss. Die Krankenkassen befinden sich im Kontrollwahn, was Pflegepersonal und Ärzte weg vom Patienten und hin zum Computer zwingt. So werden Milliarden von Daten produziert, die keiner mehr überblicken kann. Eine sinnlose Dokumentationswut, aus der sich nicht einmal sinnvolle Schlüsse ziehen lassen.

Was kann man dagegen tun?

Die Kosten für administrative Aufwände sollten maximal 10 Prozent der Behandlungskosten betragen. So könnte man Milliarden sparen. Statt nur mehr Lohn zu fordern, sollte sich die Ärzteschaft dafür einsetzen, die Bürokratie einzudämmen und damit die Arbeitsbedingungen wieder attraktiver zu machen.

Die NZZ hat eine Umfrage mit 4500 Assistenzärztinnen und Assistenzärzten durchgeführt. Viele beklagen sich über eine zu hohe Arbeitslast. Ist nur die Bürokratie schuld?

Sie ist der Hauptgrund. Gleichzeitig muss die Anzahl Studienplätze weiter erhöht werden. Der Numerus clausus ist ein absoluter Schwachsinn, der viel Geld kostet, das man besser in Studienplätze investieren würde. Was die Arbeitslast betrifft, gibt es grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Fachbereichen. In der Herzchirurgie beispielsweise müssen Sie möglichst oft im Operationssaal sein – wenn nötig auch ausserhalb der offiziellen Arbeitszeit.

Gemäss den von uns befragten Assistenzärzten wird in den Schweizer Spitälern systematisch das Arbeitsgesetz gebrochen. Das darf doch nicht sein.

Wer arbeiten will, den soll man arbeiten lassen. In der Chirurgie macht es keinen Sinn, die Arbeitszeit zu beschränken. Das ist, wie wenn man einem Pianisten sagen würde: Spiel auf Weltklasseniveau, aber halte dich beim Üben an die Bürozeiten.

80 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte gaben an, wegen Überarbeitung schon Fehler gemacht zu haben.

Es gibt zahlreiche Studien, die das Gegenteil beweisen. Die Resultate sind nicht schlechter, wenn man eine Nacht lang durchoperiert. Die Konzentrationsfähigkeit nimmt nicht ab. Medizinjobs sind nun einmal keine Bürojobs. Fakt ist: Wer mehr arbeitet, lernt auch mehr – gerade in der Chirurgie. Das Argument, man könne nicht 60 oder 70 Stunden arbeiten, ist nicht durch Fakten gestützt.

Derart lange Arbeitstage haben Folgen: Mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer fürchten sich vor einem Burnout.

Die Assistenz- und Oberärzte, mit denen ich zuletzt zu tun hatte, wollten alle arbeiten und Fortschritte erzielen. Ich habe noch niemanden getroffen, der zu mir gesagt hat, er oder sie wolle weniger arbeiten. Bloss: Die Arbeit muss Sinn ergeben.

Ihnen ist also egal, wenn das Arbeitsgesetz gebrochen wird?

Wir haben jahrelang Arbeitszeiten dokumentieren müssen. Die zu langen Zeiten haben die Politik nie interessiert. Wobei man sagen muss: In anderen Fachbereichen ist es sicher einfacher, die Arbeitsgesetze einzuhalten, als in der Chirurgie.

Sie sind mit 66 Jahren doppelt so alt wie die von uns befragten Ärztinnen und Ärzte. Gibt es einen Generationenkonflikt?

Ja, den gibt es. Das sagen alle meine Kollegen in einer leitenden Position. Viel junge Assistenzärzte wünschen sich Teilzeitarbeit und Feierabend um Punkt 17 Uhr. Aber Medizinberufe sind nun einmal keine Bürojobs.

Sie waren auch einmal Assistenzarzt. Wie war das damals?

Härter. Entweder man war verfügbar, oder die Karriere war vorbei. Mehr als zwei Wochen Ferien am Stück waren nicht gerne gesehen. Heute ist akzeptiert, dass man Überzeit kompensiert oder Ferien macht. Das ist, finde ich, grundsätzlich eine gute Entwicklung. Nur sind diese Bedingungen nicht überall möglich.

Trotzdem: Viele junge Ärztinnen und Ärzte beklagen sich über die Arbeitsbedingungen. Haben Sie dafür kein Verständnis?

Viele Assistenzärzte sind schlicht ineffizient. Das Internet liefert Antworten für jedes Problem. Aber damit ist es nicht getan. In der Medizin muss man ein Konzept begreifen. Ich bin überzeugt, dass sich durch bessere Lernstrategien die Hälfte der Arbeitszeit reduzieren liesse.

Lernstrategien könnte man im Rahmen der Weiterbildung behandeln. Aber viele junge Ärzte können die vorgeschriebenen Angebote gar nicht besuchen.

Aus meiner Sicht braucht es mehr Eigeninitiative: Ärzte sollten sich prinzipiell selber um ihre Weiterbildung kümmern. Eine gesetzlich vorgeschriebene Weiterbildung von vier Stunden pro Woche, die man passiv absitzt, halte ich nicht für sinnvoll.

Würden Sie sich heute nochmals für den Chirurgenberuf entscheiden?

Auf jeden Fall. Aber viele meiner Kollegen sagen: Zum Glück bin ich bald fertig. Sie verzweifeln am Bürokraten-Terror.

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