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Wie die Kreisklinik Groß-Gerau auf die Krankenhausreform blickt

Pfleger auf einem Krankenhausflur mit mehreren Betten

Das Bundesgesundheitsministerium will das Krankenhaussystem in Deutschland grundlegend reformieren. Die Pläne hätten nach einer Berechnung der Hessischen Krankenhausgesellschaft auch für Hessen weitreichende Folgen. Gerade in kleineren Häusern regt sich Kritik.

Jeden Tag suchen im Schnitt 80 Patientinnen und Patienten die Notaufnahme der Kreisklinik Groß-Gerau auf. Etwa die Hälfte von ihnen komme mit Bauchschmerzen, Knochenbrüchen, Herzinfarkten - "klassischen Problemen, die in ein Krankenhaus gehören", sagt Klinik-Geschäftsführerin Erika Raab.

"Die andere Hälfte kommt wegen Versorgungsdefiziten." Was sie damit meint: Menschen, die beim Hausarzt keinen Termin bekommen haben, deren Pflege zuhause nicht gesichert ist, oder die gar keine gesundheitliche, sondern soziale Hilfe benötigen. "Man kann darüber nachdenken, ob das der klassische Sinn einer Notaufnahme ist", sagt Raab. "Aber die Menschen brauchen uns."

Schluss mit der Notfallversorgung in Groß-Gerau?

Doch nach Reformvorschlägen aus dem Bundesgesundheitsministerium würde es die Notaufnahme in Groß-Gerau ebenso wie in vielen anderen kleineren Krankenhäusern bald nicht mehr geben.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat sich mit seiner Krankenhausreform ein hohes Ziel gesteckt: Angesichts von Personalmangel, zunehmender Belastung und erwarteten Millionendefiziten will er die Krankenhäuser aus ihrer Notlage bringen und gleichzeitig die medizinische Versorgung in Deutschland verbessern. Eine von ihm einberufene Regierungskommission entwickelt dazu seit einigen Monaten konkrete Reformvorschläge.

Darunter ist auch ein Vorschlag, den Erika Raab als "völlig realitätsfremd" bezeichnet: die Krankenhäuser in unterschiedliche Versorgungsstufen einzuteilen. Die Häuser auf der untersten Stufe sollen künftig nur noch die Basisversorgung übernehmen - ohne eigene Notaufnahme, sofern ein größeres Haus innerhalb von 30 Minuten Fahrzeit erreichbar ist.

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Diese Versorgungsstufen sind vorgesehen:

  • Grundversorgung: Krankenhäuser in dieser Stufe bieten medizinische und pflegerische Basisversorgung, zum Beispiel einfachere chirurgische Eingriffe, an. Innerhalb dieser Stufe wird zwischen zwei Kategorien unterschieden, die niedrigere hat keine Notaufnahme mehr.
  • Regel- und Schwerpunktversorgung: Kliniken in diesem Bereich bieten zusätzlich eine Kombination verschiedener Leistungen an, die über die Basisversorgung hinausgehen.
  • Maximalversorgung: In diese Gruppe würden zum Beispiel Universitätskliniken fallen.
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"27 Minuten sind wir von Darmstadt entfernt", sagt Raab. Sie hat genau ausgerechnet, was das Modell der Regierungskommission für ihr Haus bedeuten würde. Nicht nur ihre Notaufnahme müsste demnach schließen, sondern auch sämtliche Notaufnahmen der umliegenden Krankenhäuser Südhessens. Es bliebe in der Region nur noch die Notaufnahme des Klinikums Darmstadt bestehen, das nach dem Modell als Maximalversorger eingestuft würde.

Erika Raab, in weißem Kittel vor dem Eingang der Kreisklinik Groß-Gerau

HKG-Berechnung: 78 von 132 Standorten betroffen

Die Hessische Krankenhausgesellschaft (HKG) hat die Pläne des Bundesministeriums für ganz Hessen durchgerechnet, auf Basis einer Analyse, die die Deutsche Krankenhausgesellschaft in Auftrag gegeben hatte. Das Ergebnis: Von 132 Krankenhausstandorten in Hessen würde die Notaufnahme an 78 Standorten wegfallen.

"Sollte der Vorschlag eins zu eins umgesetzt werden, würde das zu einer untragbaren Situation führen", sagt HKG-Sprecherin Susanne Schober. "Heute bestehende und bewährte Strukturen würden auf breiter Front zerschlagen."

Folgen für Fachkliniken

Damit meint Schober nicht nur die Notaufnahmen, sondern auch die Strukturen der spezialisierten Fachkliniken. Denn nur noch die Häuser der zwei obersten Versorgungsstufen sollen bestimmte Fachgebiete wie Geburtshilfe, Neurologie, Urologie und interventionelle Kardiologie anbieten dürfen.

Für die interventionelle Kardiologie zum Beispiel sieht die Rechnung so aus: von 41 Standorten fielen 23 weg. 53 Prozent der Patientinnen und Patienten müssten dementsprechend zu einem neuen Krankenhaus wechseln.

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Darum geht es bei der Krankenhausreform

  • Die Reformpläne werden aktuell von einer Regierungskommission aus Gesundheitsexpertinnen und -experten erarbeitet und von Bund und Ländern beraten. Bis zum Sommer soll ein Gesetzentwurf stehen. Im Jahr 2024 soll die Reform dann umgesetzt werden.
  • Die Einteilung der Krankenhäuser in Versorgungsstufen ist einer der bislang öffentlich gemachten Vorschläge. Außerdem gibt es Pläne zur Entlastung der Notfallversorgung, zu einer Einführung von Leistungsgruppen für Krankenhäuser und zur Finanzierung, die künftig weniger über Fallpauschalen laufen soll.
  • Ein erstes Gesetzespaket wurde schon beschlossen, die sogenannte "kleine Krankenhausreform". Sie sieht unter anderem mehr Geld für Kinderkliniken und Geburtshilfe vor und soll dafür sorgen, dass mehr Behandlungen ambulant stattfinden.
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Fehlanreize befürchtet

Für die Patienten seiner Fachklinik in der Wetterau befürchtet Matthias Müller keine direkten Folgen einer solchen Umstrukturierung. "Wir würden ohnehin in eine der höheren Versorgungsstufen fallen", sagt der Geschäftsführer der Kerckhoff-Klinik, in der Patienten mit Herz-, Lungen- und Gefäßerkrankungen sowie Rheuma behandelt werden.

Dennoch sieht Müller die Einteilung in die verschiedenen Versorgungsstufen kritisch. "Es könnte passieren, dass dann jede Einrichtung schaut: Wie komme ich in die nächste Stufe?" Er befürchtet, dass dadurch ein Fehlanreiz entstehen könnte.

Während Müller sagt, er sei "positiv überrascht", dass Fachkliniken in den Reformplänen überhaupt Beachtung gefunden hätten, bemängelt der Klinikverbund Hessen zu wenig Berücksichtigung dieser Kliniken.

Klinikverbund: "Reform dringend notwendig"

Geschäftsführer Reinhard Schaffert sagt, in Hessen gebe es viele Kliniken, die beispielsweise eine große und spezialisierte Schlaganfall-Station hätten, aber keine Geburtshilfe - oder umgekehrt. Nach dem Modell der Regierungskommission bräuchte ein Krankenhaus aber beides, um in eine hohe Versorgungsstufe zu fallen, die die Leistungen noch anbieten dürfte.

Trotz all der Kritik: Eine Reform sei "dringend notwendig", sagt auch Schaffert. Die Gesellschaft werde immer älter, der Bedarf an Gesundheitsversorgung größer - gleichzeitig das Personal in der Pflege knapper.

Auch der Geschäftsführer der Kerckhoff-Klinik in Bad Nauheim sagt: "Die Ziele der Reform sind gut und richtig". Dass es eine Reform des Krankenhaussystems brauche, sei in den vergangenen Jahren mehr als deutlich geworden - besonders mit Blick auf die Pflege.

Richtiger Ansatz gegen den Pflegekräftemangel?

In der Kreisklinik Groß-Gerau fühlt man sich aber genau in diesem Bereich zu wenig verstanden. Pflegedienstleiter Philipp Brunner sagt, es mache ihn wütend, dass "über die Köpfe der größten Berufsgruppe hinweg entschieden wird". In der Regierungskommission sitze niemand, der die Pflege vertrete.

Brunner glaubt nicht, dass die Vorschläge zur Umstrukturierung der Krankenhäuser dazu führen wird, dass das knappe Personal effizienter eingesetzt werden kann. Er befürchtet das Gegenteil: Nicht jeder wolle vom kleinen Krankenhaus in eine große Klinik wechseln, "wo man nur eine Nummer ist." Die Reform könne vielen Pflegekräften den Anlass geben, den Beruf endgültig zu verlassen, sagt er.

Bund und Länder beraten noch

Noch ist ungewiss, welche der Reformvorschläge nach den Beratungen von Bund und Ländern noch übrig bleiben und letztendlich in ein Gesetz gegossen werden. Das hessische Sozialministerium teilte auf Anfrage mit, dass es die "kritische Grundhaltung" teile, die die Krankenhausgesellschaft zu den strikten Versorgungsstufen zum Ausdruck gebracht habe. Hessen stehe zu den Plänen im engen Austausch mit den anderen Ländern und dem Bundesgesundheitsministerium.

Der Klinikverbund Hessen hofft darauf, dass die Einteilung in Versorgungsstufen noch einmal überarbeitet wird und dann weniger von den einzelnen Leistungen der Kliniken abhängt. "Wir fordern, die etablierten Strukturen der Fachkliniken zu erhalten", sagt Geschäftsführer Schaffert.

Unsichere finanzielle Lage

Sowohl den Klinikverbund als auch die Hessische Krankenhausgesellschaft treibt zudem die aktuelle finanzielle Lage der Krankenhäuser um. Das hessische Sozialministerium betont zwar, mehr in die Krankenhäuser zu investieren, als die meisten anderen Bundesländer. Dennoch rechnen zahlreiche hessische Kliniken für das laufende Jahr mit neuen Defiziten in Millionenhöhe.

Lauterbachs Reformpläne sehen auch neue Konzepte zur Finanzierung der Krankenhäuser vor. Schober von der Hessischen Krankenhausgesellschaft sagt jedoch: "Wir hoffen sehr, dass es bei einer Umsetzung der geplanten Reform überhaupt noch ausreichend Krankenhäuser gibt, die in neue Strukturen gepackt werden können."

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