Wo das Schweizer Gesundheitswesen Milliarden verschwendet

Der ruppige Anstieg der Krankenkassenprämien für 2023 erinnert das Publikum an die hohen Kosten im Gesundheitswesen. Laut Fachleuten sind 15 bis 20 Prozent der Kosten «unnötig». Das liegt auch an den Versicherten und den Stimmbürgern.

Hansueli Schöchli
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Das Gesundheitswesen hat Potenzial zur Steigerung der Effizienz.

Das Gesundheitswesen hat Potenzial zur Steigerung der Effizienz.

Annick Ramp / NZZ

Das Schweizer Gesundheitswesen dürfte dieses Jahr etwa 10 000 Franken pro Einwohner kosten – total über 85 Milliarden Franken. Seit 1970 haben sich die Gesundheitsausgaben in Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung mehr als verdoppelt – von 5 Prozent auf rund 12 Prozent (vgl. Grafik). Im internationalen Vergleich lag die Schweiz 2019 in dieser Betrachtung laut Daten des Ländervereins OECD hinter den USA und Deutschland auf Rang 3.

Langer Anstieg

Kosten des Schweizer Gesundheitswesens, in Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung

Ein politischer Aufreger sind vor allem die Kosten in der obligatorischen Grundversicherung der Krankenkassen. Diese dürften sich heuer auf etwa 33 Milliarden Franken belaufen. Hinzu kommen Kostenbeteiligungen der Versicherten von rund 5 Milliarden. 2023 steigen die Prämien in der Grundversicherung im Mittel um satte 6,6 Prozent, wie der Gesundheitsminister Alain Berset vergangene Woche verkündete. Dieser Schub hat einiges mit Nachholbedarf und Corona-Sondereffekten zu tun, doch die Kosten und Prämien steigen chronisch stärker als die Gesamtwirtschaft. Losgelöst von Sondereffekten mag das Trendwachstum der Kosten immer noch gegen 3 Prozent pro Jahr betragen.

Mehrkosten wegen Fortschritts

Das hat vor allem mit drei Treibern zu tun: dem steigenden Wohlstand (bei zunehmendem Einkommen wächst die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen überproportional), dem medizinisch-technischen Fortschritt (Trend zu teureren Behandlungsmethoden, die nach der Zulassung sofort für alle verfügbar sein sollen) sowie der Alterung der Bevölkerung. Doch ewig kann dies nicht so weitergehen – weil die Schweiz sonst irgendwann fast 100 Prozent der Wirtschaftsleistung für die Gesundheit ausgäbe und dies nicht mehr bezahlbar wäre. Wann sich der Trend deutlich abzuflachen beginnt, ist aber völlig offen.

Die Schweizer bekommen etwas für ihr Geld. Die hiesige Lebenserwartung gehört zu den höchsten der Welt, die Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem Gesundheitswesen ist im internationalen Vergleich ziemlich gross, und in der jüngsten Auflage einer europäischen Rangliste aus Konsumentensicht (Euro-Health-Consumer-Index 2018) belegte die Schweiz den Spitzenplatz. Doch gibt es erhebliche Verschwendung im Schweizer Gesundheitssystem.

2012 hatte eine Übersicht über den Forschungsstand für die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften die bezifferbaren grossen Verschwendungsposten auf etwa 6 bis 7 Milliarden Franken geschätzt, was damals rund 10 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben entsprochen hätte. Hinzu kämen noch weitere schwer bezifferbare Ineffizienzen. 2017 veranschlagte eine vom Bund eingesetzte Expertengruppe das Einsparpotenzial in der Grundversicherung der Krankenkassen auf etwa 20 Prozent.

Bis 1000 Franken pro Kopf

2019 schätzte eine vom Bundesamt für Gesundheit bestellte Studie des Beratungsbüros Infras und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften das Effizienzpotenzial bei den Pflichtleistungen gemäss Krankenversicherungsgesetz auf 16 bis 19 Prozent. In absoluten Zahlen entsprach dies für das Untersuchungsjahr 2016 einem Sparpotenzial von 7 bis 8,4 Milliarden Franken – jährlich etwa 850 bis 1000 Franken pro Einwohner. Die grössten Sparbrocken orteten die Autoren bei den stationären Spitalleistungen (gut 2 Milliarden Franken), den ambulanten Arztleistungen (rund 1,5 Milliarden), den verschreibungspflichtigen Medikamenten (0,9 bis 1,4 Milliarden) und den spitalambulanten Behandlungen (rund 1 Milliarde).

Diese Schätzungen sind Versuche einer groben Annäherung, die zum Teil auf ausländischen Untersuchungen beruhen. Hier einige der untersuchten Kategorien von mutmasslichen Verschwendungstreibern, wobei sich die einzelnen Elemente zum Teil überlappen können: eine Auswahl spezifischer unwirksamer Leistungen (geschätztes Sparpotenzial 200 bis 500 Millionen Franken pro Jahr); eine Gesamtbetrachtung von Fehlanreizen zur Mengenausweitung bei den Ärzten (gut 2 Milliarden) und Patienten (knapp 2 Milliarden); Mängel in der Koordination der Versorgung mit Doppelspurigkeiten (700 Millionen bis 1,1 Milliarden); ineffiziente Produktion in Spitälern und Arztpraxen, etwa weil es zu viele kleine Anbieter gebe (Milliardenbetrag); übergrosser «Marktanteil» der stationären Behandlungen im Vergleich zu den günstigeren ambulanten Behandlungen (rund 600 Millionen); tiefere Preise via Referenzpreissystem bei den Generika (200 bis 500 Millionen); voller Ersatz von Originalpräparaten durch Generika (500 Millionen).

Die vielen Fehlanreize

Die Schätzungen zum Sparpotenzial sind wegen methodischer Schwierigkeiten nicht auf die Goldwaage zu legen, sondern nur als mögliche Grössenordnung zu betrachten. Klar ist aus Sicht von Gesundheitsökonomen ein Kernproblem: Die massgebenden Akteure im System haben zum Teil starke Fehlanreize. Hier eine Auswahl von Stichworten:

  • Ärzte und Spitäler. Die Patienten sind mangels Fachwissen den Anbietern teilweise ausgeliefert. Die Anbieter bestimmen somit sozusagen ihren eigenen Umsatz. Mehr Leistungen heisst mehr Umsatz und bessere Auslastung der eigenen Infrastruktur. Und da jeder zugelassene Arzt entsprechende Leistungen in der Grundversicherung der Krankenkassen abrechnen kann, hält sich der Spardruck bei den Ärzten und damit auch der Druck, in eine Praxisgemeinschaft zu gehen, in Grenzen. Mögliche Antworten auf solche Fehlanreize sind Tarife auf Basis von Fallpauschalen statt der Menge von Einzelleistungen, Versicherungsmodelle in Ärztenetzwerken mit pauschalen Abgeltungen pro Versicherten und einer Budget-Mitverantwortung der Ärzte sowie die Aufhebung der Pflicht der Krankenkassen, mit allen Ärzten abrechnen zu müssen.
  • Fallpauschalen kommen aber mit Fussangeln. Dazu zählen die Gefahr von Unterversorgung, die Neigung zur Abschiebung teurer Fälle sowie «Optimierungen» bei der Klassifizierung der Fälle. Eine Überblicksarbeit von 2020 zur internationalen Forschung über die Wirkung von Fallpauschalen in Spitälern deutet nicht auf grosse Qualitätseinbussen, doch die Sparwirkungen blieben unklar. Auch Analysen zur Schweiz, die seit 2012 ein allgemeines System der Fallpauschalen in den Spitälern kennt, zeigen kein restlos schlüssiges Bild. Laut einer Studie von Forschern der Universität Basel und des Kantonsspitals Aarau von 2019 sind nach der Einführung der Fallpauschalen die durchschnittliche Verweildauer und auch die Sterblichkeit in den Spitälern gesunken, doch der zuvor schon sichtbare Trend habe sich nicht verstärkt. Hingegen stieg gemäss der Analyse der Anteil der Patienten, die innerhalb von 30 Tagen nach der Entlassung erneut ins Spital kamen, leicht von 14,4 auf 15 Prozent. Ob dies den Fallpauschalen anzulasten war, blieb allerdings unklar. Eine Studie der Universität Luzern von 2021 und eine ältere Analyse der Universität Zürich liessen derweil auf gewisse Spareffekte von Fallpauschalen schliessen.
  • Patienten. Die Versicherten zahlen Krankenkassenprämien, aber bei Inanspruchnahme von Leistungen können sie den Grossteil der damit verbundenen Kosten an die Allgemeinheit abwälzen – was Anreize zum Überkonsum gibt. Mögliche Antworten darauf sind höhere Franchisen und Selbstbehalte sowie alternative Versicherungsmodelle mit eingeschränkter Arztwahl (wie zum Beispiel das Hausarztmodell oder die HMO-Gruppenpraxis). Solche Modelle können laut diversen Studien Spareffekte von 10 bis 30 Prozent bringen. Immerhin waren 2021 schon etwa drei Viertel aller Versicherten in einer Art von alternativem Versicherungsmodell.
  • Stimmbürger. Die Stimmbürger mögen keinen Spardruck im Gesundheitswesen. Als Versicherte rümpfen sie zwar bei Prämienerhöhungen die Nase, aber Massnahmen zur Effizienzsteigerung wie die Zusammenlegung von Spitälern oder die Bevorzugung von Modellen mit eingeschränkter Arztwahl sind unpopulär. Bis heute hallt eine Volksabstimmung von 2012 über eine Gesetzesänderung nach, mit der Versicherte ausserhalb von Modellen mit Ärztenetzwerken einen höheren Selbstbehalt hätten zahlen müssen. 76 Prozent der Urnengänger lehnten die von Kritikern mit «Abschaffung der freien Arztwahl» betitelte Reform ab. Ausdehnungen der staatlichen Prämienverbilligung tragen ebenfalls dazu bei, dass der Spardruck aus der Bevölkerung vor allem auf die Rhetorik beschränkt ist. Eine mögliche Antwort wäre die Beschränkung der Prämienverbilligungen auf Personen, die in Modellen mit eingeschränkter Arztwahl versichert sind.
  • Krankenkassen. Selbst bei den Krankenkassen ist der Spardruck beschränkt. Eine Ausweitung der Leistungen heisst für die Kassen Wachstum; sie müssen in erster Linie darauf schauen, dass die Kosten im eigenen Haus nicht stärker steigen als bei der Konkurrenz. Ein Ärgernis ist die ungleiche Finanzierung: Ambulante Leistungen zahlen die Kassen voll, bei stationären Spitalleistungen zahlen die Kantone mindestens 55 Prozent. Die Kassen haben somit wenig Anreiz, die Verlagerung von stationären zu den insgesamt günstigeren ambulanten Leistungen zu fördern. Die naheliegende Reformidee einer einheitlichen Finanzierung (zur Diskussion steht ein Kantonsanteil von 25,5 Prozent) steckt seit vielen Jahren im politischen Morast. Ob das Parlament eine mehrheitsfähige Reform zustande bringt, ist weiterhin ungewiss.
  • Kantone. Die Kantone stecken als Mitfinanzierer der Gesundheitskosten und als Betreiber von Spitälern in Interessenkonflikten. Hilfreich für die Sparmotivation der Kantone wäre es zum Beispiel, wenn sie die Prämienverbilligungen voll finanzieren, statt dass wie derzeit knapp die Hälfte vom Bund kommt. Aber auch diese Änderung wäre wie so vieles andere politisch sehr schwierig. Doch letztlich gilt auch im Gesundheitswesen, was in der direkten Demokratie für die meisten Politikbereiche gilt: Wir haben die Zustände, die wir verdienen.

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